All die Jahre ...
von Hassels
Wieder hatte mich die Unruhe um den Schlaf gebracht, den erholsamen Teil. Mein Nachthemd war klatschnass, ebenso das Bett. Es war die tägliche Heimsuchung der nächtlichen Begierde. Senkrecht saß ich nun in der Pfütze nächtlicher Angst, von Null auf Hundert war es sofort präsent.
Wie hatte es nur passieren können? Es war passiert – eine Unachtsamkeit in unserer Neugier. Ein einziger Besuch in dem so hochgelobten Club, dieses Verruchte, ganz Neue. Mit unseren Touren in den Steilwänden, immer den Gipfel erreichen, konnte man es vergleichen. Auch hier hatten wir den Gipfel erreicht, standen vor dem Abgrund der endlosen Tiefe. Und dann war es dieser eine Schritt zu viel, der Fall ins Bodenlose...
***
„Scheiß Selbstmitleid, ich muss hier raus!“
Mechanisch, wie fast jeden Morgen in den letzten beiden Jahren, ging ich ins Bad und erfrischte mich kurz. Katzenwäsche. Mein Laufdress – Shirt, Leggins und die Luftpolster Sneakers – lag noch vor der Dusche, ich hatte vergessen es in die Waschmaschine zu stopfen. Egal – ich wechselte vom Nachthemd zum Laufdress, griff mir in der Diele den Hausschlüssel und versenkte ihn in der kleinen, verschließbaren Hosentasche.
Es war noch kühl, also intensivierte ich die Aufwärmung, das Stretching vor der Haustür. Der knappe Kilometer auf der Landstraße stabilisierte meine Laufschritte, dann ging es den Feldweg hinauf zum Wald. Der morgendliche Herbstnebel hatte sich hier noch nicht verzogen und so war es nicht verwunderlich, am Waldrand äste noch ein Rotwildrudel.
Keine zwanzig Meter waren es, aber das Wild störte sich nicht an mir, es kannte mich schon länger. Fast schien es, als wolle der aufgerichtete Zwölfender mich Mahnen, mit der Wärme seiner braunen Augen, zum Umdenken bewegen.
Mit Eintritt in den Wald wurde der Untergrund des Weges, Schritt um Schritt, weicher. Das Gemisch aus heruntergefallenen Tannennadeln, Blättern und kleinen Verästelungen, knackte hin und wieder unter meinen Füßen, durchbrach die sonstige Stille. Heute lief ich etwas tiefer in den Wald hinein, an meinem üblichen Abzweig vorbei.
Erst vor dem kleinen Waldsee machte ich Rast, sog die moosige Luft des Ufers ein. Früher – das ist schon sehr lange her – hatten wir hier ein Paradies, den Treffpunkt unserer jugendlichen Gang. Die von uns freigelegte Sandbank, unser Strand, war über die Jahrzehnte wieder zugewachsen, nichts erinnerte mehr an die ausschweifenden Feste die wir hier gefeiert hatten.
Ich kämpfte mich durch das dichte Gestrüpp – Schlingpflanzen, Sträucher, sonstiges Unkraut und kleine Bäumchen – bis knapp an die Wasserlinie vor. In den Untergrund leicht einsinkend, machte ich mich im Uhrzeigersinn auf den Weg. Und tatsächlich, nach wenigen Metern, fand ich unsere Bank.
Aus ein paar Latten und einem gespaltenen Baumstumpf, wir haben damals zu sechst wie blöd geschleppt, hatten wir uns die Bank gebaut. Der vergangenen Zeit hatte sie Tribut zollen müssen, von den Liebesherzen waren nur noch Bruchstücke erkennbar. Risse und Aufblähungen zierten heute das Bild, trotzdem setzte ich mich.
Auch das leise Knacken konnte mich nicht davon abhalten, ich schloss die Augen und schon hatte ich dieses Bild unserer jugendlichen Leichtigkeit vor Augen. Wir Sechs waren die Jugend des dörflichen Spielmannzugs gewesen und hier übten wir abseits von Ufftata die neuesten Charthits, immer nach Gehör.
Oft hörte es sich sehr schräg an, aber zwei Querflöten und vier Bläser, Trompete – Posaune – Tuba und Saxofon, waren nicht unbedingt das dazu passende Orchester. Wenn Rolf allerdings seine Gitarre mitbrachte, dann sangen wir zu den an sich einfachen Rhythmen. Wir klatschten im Takt und das Lagerfeuer tat sein Übriges.
Wir waren der geburtenstarke Jahrgang des Dorfes, kannten uns seit frühester Kindheit, waren miteinander vertraut und hatten sogar Paare gebildet. In unserer Hochzeit, wir waren damals alle sechzehn, war das 'Bett im Kornfeld' der Renner. Und der von Martin entwendete Jamaika Rum, aus dem Dorfladen seines Vaters, brachte uns richtig auf Touren.
Der Spätsommer 76 mit lauschigen Temperaturen, der Rum und unsere Ausgelassenheit, war in vielerlei Hinsicht eine Standortbestimmung. Uns allen war bewusst, diese Zeit würde nie wieder kommen. Linas Eltern hatten ihren Hof verkaufen müssen, würden in die weit entfernte Stadt ziehen. Rolf würde sogar nach Norddeutschland müssen, durfte eine Lehre als Schreiner bei seinem Onkel in Lüneburg machen.
Wie schon öfters, immer wenn der Alkohol wirkte, hatte Martin dann die Idee: „Last uns 'ne Runde schwimmen.“ Schon bald stand er in seiner Badehose da und auch der Rest beeilte sich. Nicht ganz, Lina bedauerte: „Mein Badeanzug war noch nicht trocken, ich kann also heute nicht.“
Die Jungs schauten sich daraufhin an, nickten sich zu. „O.K. Lina. Dann schwimmen wir halt alle ohne.“ Rolf hatte das Kommando gegeben und schnell hatten die drei sich ihrer Badehose entledigt. Andreas Bikini folgte sogleich, nur ich hatte Mühe den geschlossene Badeanzug abzustreifen. Linas offener Mund und die aufgekratzte Stimmung veranlassten mich: „Komm Lina, jetzt sind wir alle gleich.“ Die Aufforderung wirkte und bald darauf lieferten wir uns eine Wasserschlacht.
Aber dann wurde es auch im Wasser anders, Franks Hände bewegten sich erstmals in der bisherigen Sperrzone – und mir gefiel es. Alles um uns hatten wir ausgeblendet, ich genoss seine zupfenden Finger an mir, den rührenden Finger in mir. Es durchzog mich wie ein elektrischer Schlag am Weidezaun. Auch meine Hände waren nicht untätig und in Franks Gesicht spiegelte sich seine Wohlbehagen wider.
Händchenhaltend verließen wir als Erste das Wasser und hatten so die Bank für uns alleine. Wir schmusten und streichelten uns, verloren uns in den Augen des Anderen. Wir waren der Welt entrückt, genossen dabei die Wärme des Lagerfeuers. Das die anderen sich irgendwann verabschiedet hatten, all das bemerkten wir nicht, sosehr waren wir mit unseren Liebkosungen beschäftigt.
Es war schon warm, die Decke um uns gewickelt, lagen wir auf dem weichen Sandboden und gärten. Ich spürte die ersten Sonnenstrahlen am Kopf und öffnete verschlafen meine Augen. Ich lag in Franks Armen, an ihn gepresst und als Frau, begrüßte ich den neuen Tag...
Ein lautes Knack und ich fand mich auf dem Boden wieder. Beinahe hätte ich gelacht, wenn es nicht so unheimlich weh täte – nicht die zerbrochene Bank.
Der Zeitzeuge schlechthin, zerbrochen, morsch wie unsere Liebe.
Der Blick auf meine Multifunktionsuhr zeigte mir einen deutlich erhöhten Puls an und der Blutdruck war im Keller. „Raff dich auf, die Kunden müssen eine ausgeglichene Ansprechpartnerin haben. Los Silvia, das Geschäft ist alles was du noch hast!“ Ich sprang auf, gab der bröselnden Bank noch einen Tritt und machte mich dann auf den Heimweg.
Nur unterbewusst nahm ich die blühenden Herbstblumen wahr, meine Gedanken waren wieder zielorientiert aufs Geschäft gerichtet. Fast im Sprint kam ich zu Hause an und ging sofort ins Bad. Nachthemd, Laufklamotten und Schuhe in den Waschtrockner, Wahlschalter betätigt, schon hörte ich es Rauschen.
Nach der ausgiebigen Dusche hüllte ich mich nach dem Abtrocknen in den Seidenkimono. Diese weiche Berührung der Haut brauchte ich jetzt. Im Schlafzimmer zog ich die Bettwäsche ab und die Matratze bockte ich auf. Die Tür zur Terrasse sperrte ich auf, ging dann in mein Arbeitszimmer. Auch hier öffnete ich die Tür zur Terrasse und mit Laptop unter dem Arm, LAN-Kabel in der Hand, setzte ich mich an den kleinen Tisch im Schatten und baute alles auf.
Nach dem ich alles gecheckt hatte, persönliche Treffen waren heute nicht angesagt, ging ich mit dem Pieper in der Hand durchs Haus. Nach einer Weile kehrte ich mit frischem Kaffee, einer Banane und einem Müsli auf die Terrasse zurück. Jetzt kümmerte ich mich um die Neuanmeldungen der letzten zwölf Stunden. Nach den Computergenerierten Mails, verschickte ich jetzt den Fragebogen mit den detaillierten Nutzungsbedingungen und dem Echtheitcheck. Auf dem Multipieper wurde angezeigt, die Waschladung ist fertig. Es folgte der Wechsel, Laufklamotten raus, Bettwäsche rein.
Ein Personencheck war schnell abgeschlossen und ich erstellte ein Profil anhand der Angaben, stellte dazugehörig die öffentlichen Bilder ein. Den verschlüsselten Rest aktivierte ich im geforderten Homebereich, fertig. Bis zum Dienstschluss um 22:00 hatte ich ab dem späten Nachmittag noch einige Telefonate, ein sehr lebendiger Tag ging zur Neige.
Die Matratze war getrocknet, ich konnte das Bett frisch beziehen. Das Nachthemd lag am Fußende und der dunkle Nachthimmel leitete mich, wie von einem Magneten gezogen, auf die Terrasse. Es war zwar etwas frischer geworden, es war durch den dünnen Kimono zu spüren, aber der leichte Luftzug tat mir und meiner Haut gut.
Der Mond am Firmament war blass, aber einige Sterne leuchteten schon deutlich. Mit Sterndeutungen hatte ich es in meiner Partnervermittlung ja öfters zu tun, das Klischee wollte von den Kunden bedient werden, aber jetzt hing ich selbst mit den Augen am Himmelszelt. „Geh schlafen bevor du wieder in Sehnsüchte verfällst.“ Ich mahnte mich zur Ordnung, ging ins Schlafzimmer zurück und lehnte die Tür an.
Im Haus löschte ich das Licht und die Schlafzimmerbeleuchtung dimmte ich auf eine kleine Stufe. Wahllos griff ich ins Bücherregal, ging zum Bett und schaltete das Nachttischlämpchen ein. Ich hatte mein Tagebuch erwischt, wollte es schon wieder zurückbringen als ein Windzug die Terrassentür öffnete und dabei das Tagebuch auf einer ganz speziellen Seite aufschlug. Ich brauchte nicht zu lesen, die Herzchen und den Inhalt der Seite kannte ich genau.
Ich setzte mich aufs Bett und schon marterten mich die Gedanken an die Vergangenheit. Die Ellenb
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Kommentare
(AutorIn)
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Hassels
wenn du einen persönlichen Kontakt wünschst, warum schreibst du mich nicht persönlich an?«
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bolle
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