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Lesungen: 1538 | Bewertung: 7.68 | Kategorie: SciFi, Fantasy, History | veröffentlicht: 21.03.2015

Das Vermächtnis von Cupido, Teil 2

von

Marita und das Vermächtnis von Cupido

Teil 2 - Rache

Schon in den frühen Morgenstunden brannte auch am nächsten Tag die Sonne wieder auf die Stadt herab. Die Händler schwitzten an ihren Karren und Marktständen, alle anderen Menschen verließen ihre schützenden, schattigen Plätzchen nur, wenn es unumgänglich war. Selbst die Wachen vernachlässigten ihre Patrouillen und das bettelnde Volk blieb in seinen Vierteln, wo es sich in verlassenen Häusern verschanzte.


„Wo bist du denn gestern gewesen?“, fragte Enzo, als er Marita am Nachmittag begenete. „Wir haben nach dir gesucht. Ich hab mir Sorgen gemacht.“


„Das ist süß von dir. Aber ich war nur in der Stadt unterwegs.“


„Die ganze Nacht?“


„Ich hatte mich verlaufen in den Hafenvierteln. Die Stadtwache hat dort Straßensperren errichtet. Ich war so erschöpft, deshalb habe ich mir für die Nacht ein anderes Quartier gesucht.“


Mit dieser Erklärung schien sich Enzo zufrieden zu geben – auch wenn Marita sich seit fünfzehn Jahren sich nirgendwo in dieser Stadt mehr verlaufen hatte – und er ging mit ihr über den Platz.


‚Er darf nie erfahren, wo ich gewesen bin und was ich getan habe. Ich könnte ihm niemals mehr in die Augen sehen.‘


„Konntest du was ergattern?“, fragte er seine Gefährtin.


„Nur ein paar Brotlaibe, vielleicht zwei Tage alt, und eine halbe Amphore Wein. Der ist allerdings vergoren.“


„Besser als nichts. Lass uns genießen, was wir haben.“


Das taten sie, denn als sie kurz vor Sonnenaufgang in die Stadt zurückgekehrt war, hatte sie tatsächlich noch diese Sachen gefunden, was allerdings zugegebenermaßen eher Zufall gewesen war. Als der Abend irgendwann anbrach, teilte Marita den Wein mit ihren Freunden. Bei dieser Hitze stieg er einem schnell zu Kopf, deshalb nahm jeder nur wenig, sodass er für möglichst viele reichte. Er schmeckte scheußlich, doch die Bettler feierten ihn wie einen edlen Tropfen.


„Ich finde es bemerkenswert, wie die Menschen Tag für Tag und Jahr um Jahr mit ihrem Leid umgehen können“, murmelte Marita.


„Die Stadt hat zwar keinen Platz für Bettler, Zigeuner und fahrendes Volk“, begann Bruno, „aber wenn man sich nur beklagt, wird es nicht besser. Diese Leute wissen um ihre Situation und sie machen das Beste daraus. Sie wissen, dass es jeder Zeit vorbei sein kann.“


Fürs Tanzen und Musizieren war es noch zu früh, aber Marita spürte bereits die gelöste Atmosphäre und die durch den Wein gehobene Laune. Zeitweise ließ sie sich davon anstecken, doch immer wieder musste sie daran denken, was sie in der Nacht zuvor getan hatte. Sie schämte sich dafür und fragte sich, ob eine der anderen Frauen auch so gehandelt hätte, wenn man sie gebeten hätte. Die dralle Jolanda vielleicht, die sich für eine Art Königin unter den Bettlern hielt? Die schöne Flavia, die so gut gebaut und ansehnlich, wie auch schüchtern war? Oder die blonde, offenherzige Mona, die schon das halbe Lager gevögelt hatte?


Marita hatte die Bürde auf sich genommen und doch war sie alles andere als zuversichtlich, dass es geklappt hatte. Vorher hatte sie das Ganze noch für eine gute Idee und richtige Chance gehalten, doch jetzt, wo sie dem Grafen gegenüber gestanden und ihr Leid geklagt hatte, war ihr Optimismus verflogen.


„HEEEEEY!!!“


Ein panischer Ruf schallte über den Platz. Alle wandten sich um. Rapida kam eine Gasse entlang gestürzt. Sie wirkte gehetzt und das Entsetzen stand auf ihrem Gesicht. Wild wedelte sie mit ihren Armen und rannte, so schnell sie ihre kleinen Beine tragen konnten.


„Lauft weg! Bringt euch in Sicherheit!“


„Was ist passiert?“, fragte Bruno und das kleine Mädchen blickte mit vor Angst geweiteten Augen in die Runde. „Es ist schrecklich! Die Steuereintreiber sind in der Stadt. Sie fordern alle ausstehenden Zahlungen ein und wer seine Schulden nicht begleichen kann, wird in Ketten gelegt. Sie stecken Tavernen und Marktkarren in Brand, versenken Fischerboote und schlagen die Frauen in den Straßen. Ich habe es gesehen. Und jetzt wollen sie hierher kommen; ich bin sofort losgerannt, als ich gehört hab, dass sie sich unser Viertel als nächstes vornehmen wollen.“


„Wir müssen fliehen“, entschied Marita sofort. Sie hätte fluchen können! Wie war sie nur auf den Gedanken gekommen, dass sie den Grafen mit irgendetwas hätte erpressen können.


„Versteckt euch in den Häusern und in den Kanälen“, rief Bruno über den Platz. „Die jungen Leute können versuchen, auf die Stadtmauer zu klettern. Lauft in die umliegenden Viertel…“


„Und verteilt euch!“, ergänzte Mona. „Wir dürfen uns nicht wie Vieh zusammentreiben lassen.“


Doch es war zu spät: Sie kamen bereits!


Mindestens ein Dutzend Männer kamen auf Pferden auf den Platz gestürmt, während die Bettler auseinander stoben. Die Reiter schlugen mit Peitschen und Dreschflegeln auf die Flüchtenden ein, machten keinen Unterschied zwischen Mann oder Frau, Jung oder Alt.


„Flieht!“, schrie Enzo. „Lauft in die engen Gassen. Sucht Schutz in den Häusern.“


Marita beobachtete mit Schrecken, wie der junge Filippo von einem muskulösen Reiter niedergeschlagen wurde und regungslos auf dem Boden liegen blieb. Jolanda wurde von einem grobschlächtigen Kerl geschnappt und in den Sattel gezerrt. Verängstigte Schreie und panische Rufe waren allgegenwärtig. Marita fühlte sich, wie im Auge eines Sturms: um sie herum tobte das Chaos, doch sie konnte sich nicht rühren. Am Himmel sah sie Rauchschwaden, die von Hafen und vom Marktplatz aufstiegen. Selbst als ein hünenhafter Mann auf pechschwarzem Pferd auf sie zugestürmt kam, war sie wie gelähmt. Er war nur noch wenige Meter entfernt, als sie sich gerade regen wollte, da sprang Enzo von einem Balkon und trat den Reiter aus dem Sattel. Er blieb bewusstlos auf einem Steinhaufen liegen, während sein Ross davon lief und Enzo Marita an die Hand nahm.


„Komm jetzt, wir müssen uns in Sicherheit bringen, du kannst hier nichts machen.“ Er zerrte sie zu einem Haus mit halb verschüttetem Kellerfenster, durch das er ihr in ein dunkles Gewölbe hinabzusteigen verhalf. Es war feucht und leer dort unten, jedoch angenehm kühl.


„Ganz still jetzt. Ich glaube nicht, dass sie uns hier suchen werden.“


Es dauerte eine ganze Weile, bis der Lärm draußen nachließ, doch als sie sicher war, dass Conte Alfredos Leute abgezogen waren, ließ sich Marita nicht mehr von ihrem Freund zurückhalten. Sie musste einfach nachsehen, welche Schäden die Männer angerichtet hatten.

Auf dem Platz bot sich ein Bild des Schreckens. Mindestens drei Menschen waren einfach niedergeritten worden, einer lag unter den Trümmern einer eingestürzten Mauer, zwei Männer hatten tödliche Wunden durch die Schwerter der Wachleute erlitten. Kinder und Frauen knieten weinend neben den Toten. Dann erkannte Marita den alten Bruno, der in einer Lache seines eigenen Blutes lag, den Schrecken seiner letzten Momente noch auf dem Gesicht. Verzweifelt ließ sie sich auf dem Boden fallen und vergrub ihr Gesicht in den Händen…


‚Es ist meine Schuld. Ich habe den Grafen erzürnt. Ohne mich wäre er nie auf die Situation in der Stadt aufmerksam geworden. Er war sauer, dass ich Ansprüche gestellt habe. Wir konnte ich nur so blind sein? Wie konnte ich nur glauben, dass er aufrichtig sein könnte? Er hat mich benutzt und belogen… ich bin so naiv…‘


„Marita, Gott sei Dank, du bist am Leben.“


Bernardo kam auf sie zu gehumpelt. Auch er sah schwer mitgenommen aus, schmutzig, mit Schrammen übersät und mit einer tiefen Wunde, die er halb mit einem Tuch verbunden hatte.


„Es scheint so, als hätten viele nicht das Glück gehabt“, sagte sie tonlos und mit verheulten Augen. „Was ist mit dir passiert? Das sieht böse aus…“


„Ach, halb so schlimm… nur ein Schwertstreich. Ich bin ihnen noch mal entkommen…“


„Wie viele Opfer gibt es?“


„Die sechs, die du hier siehst… und noch eine in den Gassen. Tante Civina. Die anderen holen sie gerade.“


Marita seufzte resignierend. Civina war so etwas wie die gute Seele der Gemeinschaft gewesen. Immer hatte sie ein Lächeln auf den Lippen und ein aufmunterndes Wort für jeden übrig. Alle liebten sie, sie war eben wie eine nette Tante. Nun war also auch sie weg.


„Und wir vermissen noch einige, die in die engen Straßen geflohen sind. Außerdem hab ich gesehen, wie Mona und Jolanda von den Männern verschleppt wurden. Ich war leider nicht schnell genug…“


„Es ist nicht deine Schuld… Conte Alfredo hat uns verraten… er hat uns das Wenige genommen, was uns blieb.“


„Der Graf?... Aber wieso…?“


Marita winkte ab und atmete tief durch. „Hilf mir, Bernardo, trommel alle zusammen, die noch hier sind, auch die Trauernden. Wir haben keine Zeit zu verlieren.“

Die Reihen der Bettler hatten sich merklich gelichtet, das konnte Marita auf den ersten Blick feststellen. Sie konnte Rapida entdecken, Bernardo und ihren Liebsten Enzo, auch ihre Freundin Flavia, aber es fehlen zu viele Gesichter, an die sie sich über Jahre gewöhnt hatte. Neben den Toten, die sie an die Mauer gelehnt hatten, und den beiden entführten Mädchen fehlten immer noch drei Leute, die in den Gassen vermisst wurden. Sie richtete ihre Worte an die so sehr dezimierte Gruppe: „Bitte, Freunde, verhaltet euch kurz ruhig. Ich weiß, dass das, was vorhin hier geschehen ist, ein schwerer Schlag für unsere Gemeinschaft war; auch ich trauere und werde den Toten meinen Respekt erweisen, aber zunächst muss ich euch etwas gestehen.“ Sie machte eine kurze Pause. „Hinter diesem Angriff steckt Conte Alfredo. Er hat seine Männer in die Stadt geschickt. Es waren nicht die üblichen Wachleute der Stadt, sie trugen das Wappen des Grafen auf ihren Rüstungen.“


Ungläubiges Murmeln ging durch die Reihen. „Bist du dir sicher?“, wollte eine alte Frau wissen. „Aber warum sollte er das tun?“, fragte Bernardo. „Alfredo hat uns bisher immer in Ruhe gelassen.“


Marita beschwichtigte sie. Sie wartete, bis sich alle beruhigt hatten und wollte mit der Erklärung rausrücken. Denn sie kannte die Antwort; sie hatte sagen wollen: Ich war bei ihm und habe ihn über unsere Lage aufgeklärt, ich hab ihn gebeten, der Stadt zu helfen und damit seinen Zorn geschürt…


…doch sie konnte sich nicht dazu überwinden, die Wahrheit zu sagen, zu groß war die Trauer und die Wut über den eben erlittenen Verlust, die Scham über die vergangene Nacht und ihre Naivität und die Rachelust gegenüber dem Grafen. Sie konnte jetzt nicht auch noch ihre Freunde enttäuschen, indem sie zugab, unüberlegt gehandelt und versagt zu haben. Stattdessen sagte sie: „Ich habe die Wachen belauscht, erst gestern Vormittag. Sie unterhielten sich über die Diebstähle, die in den letzten Wochen gravierend zugenommen haben und sie gaben uns Bettlern die Schuld dafür. Der Graf wolle uns loswerden, sagten sie, auch als Zeichen an die Bürger, dass etwas geschieht. ‚Säuberung‘ nannten sie es. Der Graf habe Angst, dass der Pöbel in den Gassen nach und nach die Führung übernehmen würde. Es sollten unnötig zu stopfende Mäuler losgeworden werden – so waren ihre Worte. Wie gesagt, ich habe das erst gestern während einer meiner Erkundungsgänge erfahren. Ich wusste nicht, dass sie ihren Angriff schon so bald geplant hatten, sonst hätte ich umgehend Alarm geschlagen, aber ich dachte, ich sollte mir erst einmal einen Plan überlegen, bevor ich alle in Panik versetze. Ich wollte das alles in Ruhe mit euch besprechen, doch die Wachen haben mir einen Strich durch die Rechnung gemacht…“


Ihre Stimme versiegte und Tränen rannen ihr wieder über die Wangen. Es war nur die halbe Wahrheit, doch Marita musste den Leuten die Augen so weit öffnen, dass sie die Gefahr sahen, jedoch nicht erkannten, dass sie sie alle ins Verderben gestürzt hatte.


„Mach dir keine Sorgen, mein Kind…“ Die alte Frau war an sie herangetreten und tätschelte sie sanft. „Es ist nicht deine Schuld… wir sind alle Opfer eines Hinterhalts.“


‚Ja… meines‘, dachte Marita. ‚Ich habe euch alle ans Messer geliefert. Meine Freunde. Meine Familie.‘


„Wie dem auch sei…“, sagte sie mit zitternder Stimme und versuchte, wieder Sicherheit auszustrahlen, „wir müssen schnellstens handeln und die Stadt verlassen.“


Wieder aufgeregtes Flüstern. Das wäre natürlich ein weiterer harter Schlag für die meisten der hier Versammelten. Sie müssten das Wenige, das sie haben, hinter sich lassen. Ihr bisheriges Leben aufgeben… wäre das für einige nicht vielleicht sogar besser?!


„Wir haben keine andere Wahl“, pflichtete Enzo ihr bei. „Wenn die Männer des Grafen wiederkommen, kann es jeden von uns erwischen. Vielleicht bleiben sie sogar, bis sie jeden getötet oder gefangengenommen haben. In den anderen Bettlervierteln sieht es mit Sicherheit genauso aus. Wir müssen fliehen, wenn wir leben wollen. Am besten noch heute Nacht.“


„Wo sollen wir denn hin?“, wollte der Musiker Carlo wissen. „Wir haben doch nichts, außer unserem kleinen Viertel.“


Marita nahm ihren Mut zusammen. „Ich weiß, dass es hart klingt, aber woanders ist es genauso gut. Viele von euch haben ihr halbes Leben hier verbracht, aber Orte wie diesen gibt es in jeder größeren Stadt. Mit dem Unterschied, dass es für uns überall sicherer ist, als hier. Tut euch in Gruppen zusammen, zieht nach Süden oder an die Küste, geht in Orte in der Umgebung. Fragt auf Höfen und Plantagen nach Arbeit. Taucht einfach für eine Weile unter. Wenn wir Glück haben, glätten sich die Wogen bereits im Herbst wieder und wir können zurück nach Napoli. Am dritten Tag nach dem ersten Regen in der Region werde ich wieder hier in Fuorigrotta auf unserem Hauptplatz sein.“


Die Menschen wussten darauf nichts zu entgegnen. Insgeheim wussten sie wohl alle, dass Marita Recht hatte, auch wenn nicht wenige resignierend wirkten. In der hinteren Reihe stand eine Frau, die in Tränen aufgelöst war und sich nicht rühren konnte, Mona ist ihre Tochter und ihr jüngerer Sohn ist einer von den Vermissten. Vielleicht hatte sie heute nicht nur ihre Kinder, sondern auch ihre Heimat verloren. Zumindest für eine Zeit. Marita blickte in noch andere ratlose Gesichter, doch was immer hinter diesen vorgehen mochte, es war nicht von solchen Gewissensbissen und Selbstvorwürfen durchzogen, wie bei ihr. Niemand meldete sich zu Wort, auch wenn Marita spürte, dass sie am liebsten etwas sagen wollten. Vielleicht wollten sie auch einfach nur einen Ratschlag…


„Ich kann euch keine Befehle geben. Jeder ist für sich selbst verantwortlich. Ich kann euch nur sagen, was ich machen werde: Ich werde gehen. Noch bevor der Morgen anbricht. Ich werde aus der Stadt fliehen und mir den Weg zur Küste bahnen. Wer hier bleiben will, muss sich der Gefahr bewusst sein, getötet oder verschleppt zu werden.“


Ohne weitere Worte zog sie sich in ihren kleinen Unterschlupf zurück. Auf halbem Wege holte Enzo sie ein, während sich die restliche Gruppe langsam zerstreute.


„Du redest immer davon, dass DU gehen wirst. Aber was ist mir mit, Marita? Denkst du nicht, es wäre sicherer, wenn du noch jemanden bei dir hättest?“


„Ich kann auf mich selbst aufpassen, falls du das meinst… Du weißt, wie ich kämpfen kann.“


„Ich meinte eigentlich den Umstand, dass wir… naja, du und ich... zusammen…“ Er wirkte verlegen. „Ich

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