Der Pianist und das Mädchen
von Dingo666
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Eine Zufallsbegegnung wirft zwei junge Leute aus der Bahn...
Erotik und Musik. Zwei der schönsten Dinge auf dieser Welt. Das hier ist eine meiner Lieblingsgeschichten. Ich wünsche viel Spaß beim Lesen und Hören.
Dingo666
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Die letzten zarten Anschläge, die letzten verklingenden Töne. Jean-Luc ließ seine Finger noch für einige Sekunden auf den Tasten liegen. Er lauschte dem abschließenden, verminderten Akkord von Debussy nach, die Augen geschlossen.
Diesen Moment, diese Stille. Das war der Augenblick im ganzen Konzert, den er liebte. Den er herbei sehnte.
Absolute Ruhe. Innen und außen.
Dann setzte das Klatschen ein. Ein Stakkato-Rauschen. Ein Güterzug, der über unebene Schwellen fuhr, umschäumt von einer Brandungswelle. Die Abfolge von Impulsen komprimierter Luft zwischen Handflächen. Strukturen und Moiré-Muster aus ineinanderfließenden Zufallsrhythmen. Inseln der Ordnung im Wirbel des Chaos.
Jean-Luc hörte das frenetische Klatschen seiner Mutter aus der ersten Reihe heraus. Sie blickte sicher auffordernd in die Runde und trieb das Publikum an, mehr zu geben. Ihrem genialen Sohn die gebührende Referenz zu erweisen. Dem jugendlichen Starpianisten, dem aufgehenden Stern am Himmel der klassischen Musik. Ihrem über alles geliebten Kind.
Ihre verzweifelten Bemühungen fielen umso intensiver aus, als heute Abend nicht alle Sitzplätze im Palais belegt waren. Herren in dunklen Anzügen oder Jacketts gemäß der herrschenden Mode. Damen in cremefarbenen Abendkleidern und sommerlich knappen Kostümen. Liebhaber klassischer Klaviersonaten. Gebildete, geistreiche Menschen, die später in kleinen Gruppen zusammenstehen würden, Sektkelche in der Hand. Die sich gewählt über seine Darbietung, über seinen Anschlag, oder über die Dynamik seines Spiels austauschen würden. Oder – am wahrscheinlichsten – über ein anderes Thema, das nicht das Geringste mit Musik zu tun hatte. Diese Leute hatten die Konversation zu einer eigenen Kunstform erhoben.
Jean-Luc stand ruckartig auf, wandte sich dem Publikum zu, und verbeugte sich. Das Klatschen wurde lauter, eine Flutwelle, die an ihm hoch spritzte. Für einige Sekunden war die Brandung im Gleichgewicht und ertränkte ihn fast mit ihrem Schaum. Dann flutete sie langsam ins Meer zurück, an ihm hinab und weg. Nach einer weiteren Verbeugung wandte er sich ab und schritt hinter den seitlichen Vorhang. Das Rauschen des Applauses verwandelte sich in letzte, einzelne Rinnsale, die endgültig in den Sand einsickerten und verschwanden.
Stattdessen ein neuer, arhythmischer Grundton, das Murmeln und Brummen der anhebenden Gespräche. Jean-Luc stand einen Augenblick hinter dem Vorhang und trat dann steif zur Seite weg.
Als er die kleine Treppe seitlich an der Bühne erreicht hatte, erklangen die ersten, zarten Töne seiner Musik, und er seufzte auf vor Erleichterung. Atonale und dennoch harmonische Kadenzen schwebten durch seinen Kopf, erzeugt von einem unbekannten Instrument. Irgendwo zwischen Samisen und Flügel, zwischen einer klagenden Flöte und dem makellosen Schmelz einer Violine.
Jean-Luc lächelte, schritt das Treppchen hinab und musterte die Grüppchen, die sich in Windeseile um die weiß bezogenen Bistro-Tische gebildet hatten. Solange seine Musik im Kopf ertönte, fühlte er sich gut. Stabil.
Mehrere der Tische waren leer geblieben. Jean-Luc wusste, dass seine Mutter besorgt war. Und dass er selbst auch besorgt sein sollte. Mit einundzwanzig war er langsam zu alt, um noch als „Wunderkind“ durchzugehen. Ein Titel, der seine Konzertankündigungen schmückte, seit er mit elf Jahren zum ersten Mal auf einer grell ausgeleuchteten Bühne gestanden und auf das Publikum hinuntergesehen hatte. Damals war der Saal gerammelt voll gewesen. Dafür hatten – neben seinem unleugbaren Ausnahmetalent – die nimmermüden Anstrengungen seiner Mutter gesorgt. Doch in letzter Zeit wurden die Säle kleiner, und die Lücken in den Stuhlreihen größer.
Tatsächlich beschäftigte ihn das kaum. Etwa so, wie man dem Fortgang einer Handlung in einer Vorabendserie folgte, die man nicht besonders gerne sah: Etwas müßig und leicht gelangweilt. Getrennt durch eine dicke Glasscheibe. Erleichternd fern, angenehm nebensächlich.
„Jean-Luc, mein Liebster, da bist du ja endlich!“
Seine Mutter Marie flatterte um ihn herum wie ein Brutvogel um sein Küken. Er lächelte pflichtgemäß und ertrug es mit der ernsthaften Aufmerksamkeit des braven Sohnes. Marie zupfte ihm einige nicht vorhandene Fusseln von Revers seines Smokings und plapperte in einer Tour. Sie zerhackte die sphärenhaften Klänge in seinem Kopf, übertönte sie, machte sie nieder, wie ein Gartenhäcksler es mit lästigem Unkraut tat. Jean zuckte zusammen bei dieser Empfindung.
„Heute Abend war er nicht ganz in Topform, mein Kleiner. Innerlich ist er längst bei der Vorbereitung des großen Abschlusskonzertes in drei Tagen. Sie kommen doch hoffentlich auch zum Konservatorium, Monsieur Heradoux?“
Monsieur Heradoux lächelte unverbindlich und murmelte etwas Nichtssagendes zur Antwort. Das störte Marie nicht. Sie war in Topform. Wie jedes Mal, wenn sie seine Auftritte vorbereitete, die Veranstalter umwarb, oder die Pressemeldungen schrieb und die Homepage aktualisierte. Eine nimmermüde Redemaschine. Ein Maschinengewehr der Plattitüden. Ein östrogengetriebenes Perpetuum mobile, beseelt durch reine Mutterliebe. Ein Marschflugkörper, auf ein einziges, fernes Ziel eingerastet: seinen Erfolg. Seinen großen, finalen, überwältigenden, allumfassenden Durchbruch als Konzertpianist.
Er wusste, dass sie die Dinge anders wahrnahm als andere Menschen. Als die Kritiker beispielsweise, die schon über ihn berichtet hatten. „Technisch perfekt, aber ohne Seele.“ war zu lesen gewesen, oder „Er spielt wie ein Musikcomputer der übernächsten Generation es vielleicht können wird.“ Marie hatte getobt und geschimpft. Lange, gehässige Tiraden über Leute, die es wagten, andere zu beurteilen, während sie selbst nur höchst mittelmäßige Musik zustande brachten. Wenn überhaupt.
Er hatte durchs Fenster geschaut und den Klängen in seinem Kopf zugehört.
Jean-Luc schüttelte einige Hände, lächelte brav, sagte nichts. Das war in ihrer arbeitsteiligen Methode nicht vorgesehen. Für das Sprechen war Marie zuständig. Er hörte ihr beiläufig zu, so wie er dem Klatschen zuvor gelauscht hatte. Erkannte Muster in ihrem nicht endenden Redefluss. Verborgene Tonfolgen, unbeabsichtigte Reime, kontrapunktisch ausgestoßenes Lachen. Seine innere Melodie passte sich unmerklich an und nahm diese Impulse auf, variierte sie, umschmeichelte das Hauptthema mit unendlich ausfächernden Ableitungen.
Damit war er wieder im Gleichgewicht. Nun konnte es stundenlang so weiter gehen, ohne dass es ihm etwas ausgemacht hätte.
Der Abend glitt an ihm vorüber wie eine Landschaft an einem Zugfenster. Distanziert und leer starrte er ihm hinterher. Irgendwann verabschiedete sich seine Mutter, um mit einem Reporter auf ein Gläschen zu einem Exklusiv-Interview zu verschwinden. Vorher sagte sie ihm genau, welche Linie er zu nehmen hatte, und dass er an der Türe der Straßenbahn auf seine Hände achtgeben sollte.
„Ja, Mama“, meinte er und küsste sie auf die hingehaltene Wange, die nach teurem Parfum duftete.
„Denk daran, Deine Hände sind dein Kapital! Du musst gut darauf aufpassen, versprich mir das!“
„Ja, Mama.“
Er versprach ihr das ein Duzend Mal pro Tag.
Ein wenig später saß er auf einer Bank in der weitläufigen Gartenanlage hinter dem Palais und sah auf den Miniatursee hinaus. Es war schon nach zehn Uhr. Eine Zeit, in der er üblicherweise längst zu Hause saß und entweder eine letzte Übungsrunde spielte oder mit seiner Mutter einen Film im Fernsehen sah. Meistes auf Arte, manchmal auf France 1. Marie verabscheute die Privatsender mit ihrem Lärmprogramm und ihren Actionstreifen. Sie sprach oft davon, das Gerät abzuschaffen und nur noch Radio zu hören. Klassik natürlich.
Heute war sie im Dienst. Das bedeutete, er hatte frei. Und wie üblich keine Ahnung, was er in diesen freien Stunden machen sollte. Also saß er hier, sah auf das spiegelglatte Wasser hinaus, und verfolgte, wie sich der Himmel langsam von einem satten Tiefblau zu einem lichten Sommernachts-Fast-Schwarz verdunkelte. Und hörte die ganze Zeit seiner Musik zu, die sich unmerklich anpasste. Jetzt, kurz vor dem endgültigen Einbruch der Finsternis, klang sie wie Waldhörner und ein einsamer Kontrabass.
Plötzlich ein Lachen. Jung, lebendig, grell. So wenig zu seinen inneren Tönen passend, dass es sich schon wieder richtig anhörte. Ein Ausruf, unterdrücktes Gelächter. Jean-Luc drehte sich um.
***
„Heee, diese verfickte Dornen! Haben mir mein schönstes Hemd durchlöchert!“
„Psst, nicht so laut, du blödes Arschloch! Sonst hört uns noch jemand.“
Aurie kicherte unterdrückt. Claudes Ermahnung an Jac kam in einer Lautstärke, die nicht unbedingt geeignet war, eine Entdeckung zu verhindern. Sie trank einen Schluck aus der Sektflasche in ihrer Hand und nahm kaum wahr, wie die Flüssigkeit durch ihre Kehle rann, süß und halbwarm.
„So, mein Schatz, gleich sind wir da! Du wirst staunen!“
Claude grinste sie mit seinem unnachahmlich breiten Grinsen an: Mund weit aufgerissen, Augen ebenso, Zähne gefletscht. Aurie musste wieder lachen, obwohl sie die Grimasse nicht mehr lustig fand.
Früher hatte sie zu Claude aufgesehen wie zu einem herabgestiegenen Gott. Seine übertriebenen Faxen, seine Clownerien und wilde Streiche schienen ihr die Krönung weltmännischer Lebensart. Jetzt, nachdem sie über als ein Jahr mit ihm zusammen war – mehr oder weniger jedenfalls – da hatten sich die meisten seiner Sprüche und Gesten abgenutzt. Hinter Claude, dem Gott, war Claude, der Mensch hervorgetreten. Keine gute Entwicklung. Claude, der Mensch, war zwar drei Jahre älter als sie. Das bedeutete aber nur, dass er die Schule drei Jahre vor ihr abgebrochen hatte und seitdem arbeitslos durch die Banlieus zog.
Aurie lachte trotzdem noch einmal und ließ sich mitziehen. Neben ihr trabten Jac und Pilli und Chica, der Rest der kleinen Gang. Jac und Pilli hatten früher am Abend ein paar von den blauen Pillen eingeworfen und bekamen kaum mit, was lief. Nur Chica schien einigermaßen klar. Sie war sechzehn, schmächtig, und bestand nur aus riesigen Augen unter den Punkersträhnen. Aurie wusste, dass sie heimlich in Claude verknallt war.
„Heee, hier waren wir doch schon mal!“
Jac blieb stehen und stierte die weiße Fassade des kleinen Schlösschens an, das vor ihnen zwischen den Bäumen aufgetaucht war. Aurie sagte nichts. Sie hatte bereits vor einigen Minuten bemerkt, wohin Claude sie unter großer Geheimhaltung führte. Verwirrung erfüllte sie. Genau vor einem Jahr, an ihrem siebzehnten Geburtstag, waren sie ebenfalls in diesem abseits gelegenen Park gewesen. Und heute, an dem Abend, an dem sie endlich volljährig wurde, hatte Claude ihr etwas Einmaliges versprochen. Warum, um Himmels Willen, wollte er an diesen Platz zurück?
„Hier lang!“
Claude achtete nicht auf den Einwurf, sondern schlich sich auf die Seite des Gebäudes und tastete gezielt das kleine Fenster gleich rechts ab. Ein leises Klicken, er grinste ihnen mit erhobenem Daumen zu, und zog sich in die freie Fensteröffnung. Eine Minute später erschien er hinter den raumhohen Saaltüren, die auf die Parkterrasse hinausführten, und öffnete zwei der Flügel mit grandioser Geste.
„Mesdames et Messieurs, bitte sehr!“
Die vier schritten zögernd durch das Portal, eingeschüchtert von der Pracht der Umgebung. Üppiger Stuck verzierte die Wände des Saales, jetzt dunkle Kronleuchter funkelten an der Decke, und an den Seiten warteten Stehtische mit blütenweißen Stoffüberzügen.
Aurie bewunderte ein abstraktes Gemälde in frohen Farben und wünschte sich gleichzeitig, endlich wieder zurück zu sein. Zurück in Claudes chronisch zugemülltem Zimmer bei seiner Mutter, oder zurück in ihrer eigenen kleinen Dachkammer. Oder wenigstens in dem alten Schuppen hinter der Tankstelle, der das inoffizielle Hauptquartier ihrer Gruppe darstellte. Das war immer noch besser als der Knochenjob auf dem Markt, bei dem sie jeden Tag ein paar Euro mit Gemüsekisten schleppen und verdiente. Die Jungs machten sowas nicht, sondern gingen davon aus, dass sie ihren Lohn brüderlich mit ihnen teilte.
Claude winkte frenetisch, und sie folgten ihm zögernd nach vorne, in Richtung der Bühne. Auries Verwirrung steigerte sich, eine Mischung aus schmerzlich süßen Erinnerungen an ihren letzten Geburtstag und aus Ungläubigkeit, und Bangen. Claude würde doch nicht wieder ...?
Aber Claude tat es. Als sie alle vor dem Podest standen, da schwang er sich wie ein Cowboy auf den niederen Absatz. Von dort sah zufrieden auf sein Publikum, und pflanzte sich vor den großen, schwarzschimmernden Flügel. Er setzte ein pathetisches Gesicht auf, räusperte sich geziert, und griff in die Tasten.
„Happy birthday to yooooouuu, happy birthday to yoooouu, happy birthday, dear Auriiiieee, happy birthday to yooouu!”
Aurie starrte ihren Freund an. Dieser, unzufrieden mit der zurückhaltenden Reaktion seiner Gefolgschaft, winkte ihnen ungeduldig. Er spielte die simple Melodie erneut mit zwei Fingern und nicht ohne falsche Noten, und sang lärmend dazu. Die anderen fielen zögernd ein. Jac und Pilli sahen sich an, dann Aurie. Schließlich zuckten sie die Schultern und grölten mit. Chica warf ihr beim Singen fragende Blicke zu. Sie war letztes Jahr noch nicht dabei gewesen.
Aurie konnte nicht singen, ihre Kehle war wie zugeschnürt. Vor einem Jahr hatte Claude genau hier genau die gleiche Show abgezogen! Er war extra für sie in dieses Palais eingebrochen, hatte die Tür geöffnet, und ihr mit den Resten seiner kindlichen Klavierkünste exakt dasselbe improvisierte Geburtstagsständchen geschmettert.
Oh, wie toll hatte sie das damals gefunden! So süß, und so originell. Wie Claude eben war. Weshalb sie ihn ja auch so liebte. Die ganze Zeit seither trug sie die Erinnerung an diesen Abend mit sich wie einen geheimen, behüteten Schatz. Einen Edelstein, den man heimlich herausholt, ihn betrachtet und sich an seinem Besitz erfreut.
Vorsichtig stellte sie die Sektflasche auf den Bühnenrand. Sie wollte nichts mehr trinken. Der leichte Schwindel im Kopf, der für eine so angenehm flirrende Stimmung gesorgt hatte, war ihr plötzlich zuwider. Übelkeit kroch aus ihrer Magengegend hoch.
„Heee, meine Süße. Freust du dich denn nicht?“
Claude hatte das Stück mit einem schrägen Akkord zu Ende geführt und runzelte die Stirn. Tatsächlich: Er hatte es völlig vergessen! Der schönste Abend ihres Lebens, und er hatte ihn vergessen!
„Doch“, flüsterte sie erstickt, ohne ihn anzuschauen, und zwang sich ein Lächeln auf die Lippen. Jac machte Anstalten, Claude zu erinnern. Aber alle kannten Claudes andere Seite. Er konnte kalt und gemein sein und zuschlagen, schnell wie eine Natter. In seinem Plan der Dinge war es nicht vorgesehen, dass Untergebenen ihn auf seine Fehler hinwiesen. Jac klappte den Mund zu.
Claude wollte gerade zu etwas Ärgerlichem ansetzen, als seine Aufmerksamkeit abgelenkt wurde. Alle drehten sich um. Im offenen Durchgang zum Garten stand jemand mit einem Smoking und einer Fliege am weißen Hemdkragen.
***
Jean-Luc hatte den Jugendlichen von seiner Parkbank aus nachgeschaut wie Außerirdischen. Ganz abstrakt wusste er, dass es außer ihm und den paar Bekannten am Konservatorium auch andere junge Leute in der Stadt gab. So wie er wusste, dass es wahrscheinlich Leben auf fernen Planeten gab. Aber er hatte so wenig Berührungspunkte mit ihnen, dass ihre Bewegungen und ihr Lachen, ihre fast unverständliche Sprache exotisch und fremdartig auf ihn wirkten. So als kämen sie aus einer unbekannten und geheimnisvollen Kultur. Aus Papua-Neuguineau vielleicht, oder aus der inneren Mongolei.
Normalerweise wäre er froh gewesen, dass sie vorbeizogen, ohne ihn zu bemerken. Er wäre jetzt aufgestanden und weggegangen, hätte einen Sicherheitsabstand eingelegt. Heute war es anders, auf eine eigentümliche, nicht genau zu greifende Art. Er bemerkte es daran, wie die Musik in seinem Kopf sich wegen der Störung veränderte. Nicht wie sonst, indem die Instrumentalisten zwischen seinen Schläfen die Außengeräusche durch liebliche Halbakkorde wegspülten. Sie griffen stattdessen das Lachen auf. Ein helles Fagott antwortete darauf, und ein Klavier mit einem spielerisch schnellen Triller in den oberen Oktaven.
Wie hypnotisiert stand er auf und folgte ihnen. Er war noch nicht auf der Terrasse, als er das ungelenke Klavierspiel hörte. So schmerzhaft falsch in Melodie und Takt, dass er das Lied erst kurz vor dem Schluss erkannte.
Dennoch klagte sein inneres Orchester nicht darüber, sondern reagierte auf die schrägen Töne und formte eine Art beschwingte Polka daraus.
Ungewöhnlich. Und interessant!
Im halbdunklen Saal saß ein junger Mann am Flügel und sang laut und neben dem Ton. Etwa in meinem Alter, dachte Jean-Luc abwesend. Vor der Bühne stand ein anderer, schmächtigerer Typ mit einer Bierflasche, daneben einer mit dunkler Hautfarbe. Außerdem ein hübsches Mädchen mit blonden Haaren, und ein kleineres, schwarzhaariges. Sie trällerten zögernd mit, ohne Herz in der Stimme.
Der am Klavier war nicht zufrieden. „Heee, meine Süße. Freust du dich denn nicht?“, hörte er ihn fragen.
„Doch!“, antwortete die Hübsche leise, aber ihr Tonfall strafte die Aussage Lügen. Die Miene des Pianisten verfinsterte sich. Dann sah er Jean-Luc und sprang auf. Auch die Übrigen drehten sich um. Alarmierend schnell. Wie Katzen, die auf ein ungewohntes Geräusch reagierten. Sie trugen tiefhängende Jeans, kunstvoll bemalt und zerrissen, dazu Jacken und Pullover in Überweite. Und betont coole Kopfbedeckungen. Wollmützen und Baretts. Das Outfit wies sie als Angehörige eines fremden Stammes aus. Sein eigener – das wohlsituierte und gebildete französische Bürgertum – lebte weiter von ihnen entfernt als von jedem Maori.
Jean-Luc stand stocksteif da und hatte keine Ahnung, was er sagen oder tun sollte. Also blieb er stumm und tat nichts. Die Klänge im Schädel schwächten sich ab, wurden leiser, langsamer. Wie ein Soundtrack, der einer bevorstehenden Actionsequenz Platz macht.
„Was?“, fragte der Typ auf der Bühne in einem drohenden Ton. Jean-Luc hätte gerne einen Schritt rückwärts gemacht, wäre am liebsten eilig davon gegangen. Doch er konnte sich nicht rühren. Er fühlte sich wie festgewurzelt.
„Wir haben nur... Musik gemacht!“ In der Stimme des anderen schwang eine defensive Note mit. So als wolle er damit das nächtliche Eindringen und seine schauderhaften Künste erklären.
„Ich habe Geburtstag!“, meinte das blonde Mädchen schnell und lächelte. Ihre Zähne blinkten in der halbdunklen Umgebung. Der neben ihr nickte eilig.
„Ah!“, machte Jean-Luc und lächelte zum ersten Mal selbst. Vertrautes Gelände, endlich! Jetzt verstand er. Wenn seine Mutter Geburtstag hatte, überraschte er sie immer mit einem besonders schwierigen Stück, das er heimlich eingeübt hatte. Sie war dann so glücklich und so stolz. Manchmal standen Tränen in ihren Augen.
„Soll ich dir auch was spielen?“, hörte er sich fragen. Er hatte noch nie für jemand außer seiner Mutter gespielt. Dabei zählten die Auftritte vor Publikum nicht, das war was anderes als ein persönlich gemeintes Lied. Aber dem Gedanken, diesem Mädchen vorspielen zu dürfen, haftete etwas Kindlich-Unschuldiges an. Und gleichzeitig ein Hauch von Sünde. Eine unwiderstehliche Mischung.
Die fünf starrten ihn an. Dann drehten sich die vier vor der Bühne wie auf Kommando um und sahen zu dem am Klavier auf. Dem schien die Aufmerksamkeit aus irgendeinem Grund gar nicht recht zu sein.
„Klar!“, meinte der und warf die Hände über den Kopf, als sei das die normalste und langweilige Sache der Welt. Dennoch hatte Jean-Luc den Eindruck, dass er den Platz am Flügel ungern räumte.
Er kam in Bewegung und schritt steif durch die Stuhlreihen hindurch, dann vorne rechts und die drei Stufen zur Bühne hoch. Jemand kicherte, als er diesen Umweg nahm.
Der Typ machte den Hocker frei und wies mit übertrieben eleganter Geste auf die Sitzfläche. Jean-Luc lächelte unbehaglich und setzte sich. Vor ihm die Tasten, altvertraut, wie die Innenseiten seiner Zähne für die Zunge. Alles andere trat beiseite, verschmolz zum Hintergrund. Zum notwendigen Begleitumstand einer dreidimensionalen Welt, die für die ordentliche Ausbreitung von Schallwellen nun mal erforderlich ist.
Dort, wo sonst die Noten lagen, glänzte nur schwarzer Lack. Für einen Augenblick verfiel er in Panikstarre. Was sollte er spielen? Er hatte noch nie einfach so drauflos gespielt, irgendein Lied, aus dem Kopf.
Nicht weil er es nicht beherrschte – viele Partituren waren so tief in seinem Gedächtnis verankert, dass er im Schlaf jede Note hätte benennen können. Sondern weil Dr. Moreaux, sein erster Musiklehrer, immer „freies Spiel“ mit dieser besonderen, leicht abfälligen Betonung ausgesprochen hatte. Seine Mutter hatte das übernommen und konnte heute noch „freies Spiel“ genauso aussprechen wie Dr. Moreaux früher.
Er bemerkte, dass ihn alle erwartungsvoll ansahen. Vier Gesichter blickten zu ihm auf, fragend, neugierig. Das des hübschen Mädchens leuchtete förmlich, sie nickte ihm ermunternd zu und lächelte. Sie hatte eine tief ausgeschnittene Bluse an. Von seinem erhöhten Standort aus konnte er die helle Haut ihrer gut entwickelten Brüste und das Tal dazwischen einsehen. Sofort sah er anderswohin und schluckte.
Instinktiv griff er in die Tasten und brachte einen Auftakt von Bach. Seine Hände, seine Finger arbeiteten selbständig, lieferten fehlerfrei Note auf Note, in exakt der richtigen Dynamik und der passenden Betonung. Alles war so, wie es immer war. Wie es sein musste.
Und dennoch empfand er eine ungewohnte Unzufriedenheit mit seinem Spiel. Etwas fehlte.
Mit einem gewagten Tonartwechsel schwang er über zu einer Sonate von Mozart. „Mozart passt immer“, hatte Dr. Moreaux oft gesagt. Aber jetzt passten die vertrauten Akkorde nicht. Nicht ganz, nicht so nahtlos wie sonst. Perfekt perlten die Töne aus den Tasten, doch unter der makellosen Oberfläche blieb eine seltsame Leere zurück. Verwirrt fragte er sich, ob diese Leere sonst nicht anwesend war oder ob er sie nur nicht wahrnahm. Nicht einmal das unbeholfene Kinderlied seines Vorgängers vor ein paar Minuten hatte dieses seelenlose Loch aufgewiesen.
Vielleicht...
Seine linke Hand trieb den Basslauf weiter, variierte ihn unmerklich. Die rechten Finger spielte die ersten Töne von „Happy Birthday“.
Ah!
Jean-Luc lächelte erfreut. Das war leicht! Mit wachsender Begeisterung erschuf er aus dem Nichts eine beschwingte Mozartversion des Geburtstagsliedes. Schnelle, ornamentale Läufe rankten sich um die simple Melodie wie Lilienranken um ein Wappen. Wie von selbst fand sich eine zweite, eine dritte Stimme zum Grundmotiv.
Ein Ausruf, ein kurzes Klatschen lenkte ihn für einen Moment ab. Die vier Gesichter strahlten, da sie das Lied erkannt hatten, und nickten im Takt. Das blonde Mädchen wippte ein wenig. Sie war groß und schlank und erinnerte ihn an einen Gepard.
Es gefiel ihnen! Aus unerfindlichen Gründen war ihm das wichtig. Viel wichtiger als alles, was seine Professoren vom Konservatorium sagen mochten. Oder die Kritiker in den Zeitungen, oder seine Kollegen. „Freies Spiel“ war wohl doch nicht so schlimm.
Mit wachsendem Selbstvertrauen ging er zu Tschaikowski über, zu Debussy, zu Händel. Jeder der alten Meister gab ihm seine eigene, spezielle Variante von „Happy Birthday“, schenkte Töne und Taktmaße, Läufe und Kontrapunkte.
Als Jean-Luc beherzt weiterspielte, da bemerkte er nicht einmal, dass sein inneres Konzert leise geworden war, fast verstummt.
***
Aurie sah mit offenem Mund zu dem dünnen jungen Mann hoch. Er hatte so komisch ausgesehen, als er sich so ernst und gesammelt an das Klavier setzte. Für einen Moment hatte sie eine hämische Bemerkung von Claude beinahe herbeigesehnt. Sie wollte lachen, wollte sich ablenken vom eigenen Schmerz, der nach wie vor unter ihrem Brustbein wühlte.
Dann fing er an zu spielen. Die ersten Töne waren noch zurückhaltend, doch gleich darauf orgelte der Flügel los wie ein hochdrehender Sportwagen. Die ungewohnte Flut von klanglichen Eindrücken überforderte sie fast. Zu weit war diese Art von Musik von dem entfernt, was sie sonst hörte oder kannte. Aber als zwischen dem melodischen Rauschen die vertraute Folge von „Happy Birthday“ aufschien, da war es wie ein Rätsel, das sich unvermittelt von alleine löste. Sie lachte auf, klatschte in die Hände, und verfolgte atemlos, wie sich das Lied weiterentwickelte, drehte, tanzte, und sich dabei in raffinierten Endlosschleifen um sich selbst zu schlingen schien.
Claude stand hinter dem Pianisten, die Fäuste in die Hüften gestemmt und das Gesicht zu einer analytisch-kritischen Maske verzogen. So als müsste er noch abwägen, ob er dem Treiben zustimmen sollte. Ob er dem Können des anderen Respekt zollen würde. Doch gleichzeitig war seine Geste schon vertrocknet, verdorrt, zur Bedeutungslosigkeit zerfallen. Er war raus. Er hatte in diesem neuen, musikalischen Universum keinen Platz, er gehörte nicht zu dieser allumfassenden Schöpfung. Und er wusste es, das zeigten seine herabhängenden Schultern deutlich.
Auf einmal hatte Aurie den Eindruck, Claude zum ersten Mal so zu sehen wie er tatsächlich war. Ein sehniger junger Mann, der seine Hilflosigkeit mit Getue übertünchte und damit ein Reich regierte, das nur in seiner Einbildung existierte. Der andere, noch schwächere Geister brauchte, um seine haltlosen Fantasien zu stützen. Dem im Grunde nichts und niemand etwas bedeutete, außer seinem eigenen falschen Stolz.
In ihrem Kopf toste der nicht endende Strom der Musik wie ein Gebirgsbach durch eine Schlucht. Die klingende Woge spülte alles hinweg, was nicht felsenfest verankert war. Sie verstand nichts mehr. Weder ihre Idee, in jemand wie Claude verliebt zu sein, noch was sie mit der Gang verband. Oder was sie überhaupt wollte. Was sie suchte. Auf dieser weiten Welt musste es doch mehr für sie geben als nur Herumhängen, Drogen ausprobieren, und Gemüsekisten schleppen?
Der Pianist hieb wie besessen in die Tasten und trat gleichzeitig unten auf den Pedalen herum. Der Flügel donnerte und hallte und füllte den Palais so dicht mit ineinander verwobenen Klängen, dass sie kaum Luft zum Atmen bekam. Aurie spürte ein bekanntes Brennen in den Augenwinkeln und blinzelte heftig. Auch das verstand sie nicht – sie hatte noch nie wegen Musik weinen müssen.
Mit letzten, klagend langgezogenen Akkorden kam er zum Schluss. Die Töne verhallten einzeln in dem Saal. Sie blieben wie mit Widerhaken im Gehirn haften, lange nachdem wieder die tiefe, abendliche Stille herrschte.
Niemand bewegte sich, für ein paar Sekunden.
Endlich räusperte sich Claude, was sich fürchterlich falsch anhörte, und hieb dem Unbekannten auf die Schulter.
„Nicht schlecht, nicht schlecht!“, meinte er lärmend. „Kannst echt spielen, Alter! Echt!“
Der Musiker zuckte zusammen und drehte sich um. Er schien vergessen zu haben, dass die ganze Zeit jemand hinter ihm gestanden hatte.
Claude sprang schon nach vorne von der Bühne, dicht neben Jac. Er rieb erwartungsvoll die Hände, als könne er die nächste Attraktion des Abends kaum erwarten.
„So! Was machen wir jetzt? Sollen wir uns eine DVD besorgen? Den neuen Besson vielleicht?“ Er sah seine Truppe aufmunternd an.
„Ja... warum nicht?“, meinte Pilli dumpf und schüttelte den Kopf. Anscheinend hatte auch er das Pr
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(AutorIn)
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Dingo666
ich habe mich entschieden, keine weiteren Geschichten auf SEVAC zu veröffentlichen. Die drei Geschichten, die ich hier habe, bleiben jedoch.
Unter folgendem Link sind alle Werke von mir zu finden:
https://dingo666.com
Viel Spaß damit!«
Kommentare: 87
Auden James
Der vorliegende Text ist gleichfalls grotesk, was dem Umstand geschuldet ist, daß sein Verfasser offenbar dem unnachahmlichen Drang erlegen ist, so viele unsinnige Vergleiche und Stilblüten als irgend möglich in ihm unterzubringen. Zur Abschreckung, um den geneigten Leser vor der Verschwendung seiner wertvollen Lektürezeit zu bewahren, seien ein paar davon im folgenden angeführt:
i) "Er konnte kalt und gemein sein und zuschlagen, schnell wie eine Natter."
ii) "[G]leich darauf orgelte der Flügel los wie ein hochdrehender Sportwagen."
iii) "Er spielte kein Klavier mehr, sondern ein exotisches Blasinstrument. Einen ätherischen Dudelsack, der sich um ihn wand und rieb, und der so unvergleichlich reiner und harmonischer hallte als alle seine schottischen Vettern."
iv) "Sein Mund folgten [sic] dem weichenden Stoff wie ein Hütehund der Herde, berührten [sic] [...] schließlich die flauschigen Haare auf dem harten Kamm ihres Schamknochens."
v) "Sämtliche Atome des Universums fanden zusammen, schwangen gemeinsam, in einem einzigen, machtvollen A, über achtundvierzig Oktaven hinweg."
Diese Beispiele aus dem Text dürften genügen, um ob der Formulierungskunst Dingo666s dem geneigten Leser die Ohren schlackern zu lassen! Alles weitere, sofern man sich noch mehr an diesem Stuß zu erheitern gedenkt (ohne dafür die Qual der Lektüre desselben auf sich nehmen zu müssen), kann in meinem Kommentar "Schwülstiger Stuß oder Gewollt, aber nicht gekonnt" auf Literotica nachgelesen werden (falls der so überaus kritikfähige Dingo666 ihn gerade nicht wieder einmal gelöscht haben sollte).
Fazit: Schund, angereichert mit schwülstigem Stuß und gähnender Langeweile.«
Kommentare: 208
Toleranz ist, wenn man andere Meinungen auch zu läßt!
Das Menschen unterschiedliche Vorstellungen von schön haben, ist so alt wie die Menschheit!
Ich habe die Geschichte gerne gelesen und fand sie nicht schlecht! (Als Franke neigt man nicht zu Übertreibungen, da ist ein 'bassd schoo' eigentlich die höchste Auszeichnung!;-))
Die Bewertungen durch Goldmund sind mir bisher ebenfalls nicht negativ aufgefallen, sondern lagen meist meiner Bewertung ziemlich nahe!
Vielleicht hast auch Du nur einen so erlesene Geschmack, den ich evtl. nicht folgen kann.
In diesem Sinne, Leben und Leben lassen!
Und vielen Dank an Dingo666 für seine Geschichten, die ich weiterhin gerne lesen werde!!«
Kommentare: 11
Levaldo
Mal was ganz anderes, als was ich sonst zu lesen gewohnt bin. War ich zuerst geneigt, über ein paar Passagen hinwegzulesen, um schneller zum Höhepunkt zu gelangen, hab ich doch ganz schnell begonnen jede einzelne Silbe in mich aufzusaugen.
Meiner Meinung nach stellt der Autor eindrucksvoll die abgehoben theatralische Gefühlswelt des Protagonisten dar. Die Erotik bekommt durch die Sicht des verwirrten und auszubrechen versuchenden Genies eine ganz eigene "Note".«
Kommentare: 4
Kommentare: 214
aweiawa
Kommentare: 4
Seit langen mal wieder echt schön«
Kommentare: 27
Kommentare: 6
Das ist eine süße, kleine Geschichte. Sie macht Spaß, Lust, und weckt unerwartete Emotionen.«