Der letzte Schritt
von Hassels
Der aufgekommene Wind strich seine Haare in die Waagerechte, wie man es sonst vom Föhnen her kennt. Sein leerer Blick streifte die Wipfel der Bäume des angrenzenden Waldes. Es war ein buntes Bild, da die grünen Nadelbäume vom rotbräunlichen Herbstlaub der Laubbäume umschmeichelt wurden.
Die einsetzenden Böen rückten ihn und sein Vorhaben im Zeitfenster zurück. Er schaute auf sein etwa hundert Meter entfernt, in einer Parkbucht stehendes Auto, zudem er nun zurückkehrte.
Im weichen Ledersitz seines Testarossa, wollte er auf besseres Wetter warten.
Mit seiner Zunge tupfte er die filterlose Zigarette an, damit diese nach dem Anzünden nicht bröselt. Schnell legte sich ein Nebel in das Führerhaus, die Außenwelt wurde immer undurchsichtiger, wie sein Leben.
Alles hatte er, was andere zum Glücklichsein brauchen. Ein großes Haus, mehrere Autos und ein riesiges Vermögen. Zum Teil geerbt, zum größeren Teil erarbeitet. Ungebunden konnte er das Leben in vollen Zügen genießen, warum saß er in sich gekehrt, in seinem noblen Sportwagen?
Es gab keinen Grund sich zu grämen, die Geschäfte liefen bestens, seine One-Night-Stands der letzten Wochen, hatten keine Wünsche offen gelassen.
Nach betätigen des elektrischen Fensterhebers, konnte der Rauchschwaden zum Himmel empor steigen.
Seine Finger trippelten auf dem Lenkrad, seine Unruhe wuchs stetig. Das was eben noch so klar vor ihm war, war durch die Unterbrechung seines Vorhabens, windbedingt, nun vor seinem Auge verschwommen.
Der Wind wurde immer stärker, die Baumkronen schwangen hin und her. Vereinzelt flogen kleine, abgebrochene Äste durch die Luft. Zeit, alles noch einmal Revue passieren zu lassen.
Alles hatte er im Griff gehabt, bis letzten Donnerstag.
Nach fast zwanzig gemeinsamen Jahren im Büro, hatte seine Assistentin Sandra, gekündigt. Der ihr zustehende, über Jahre gesammelte Urlaub, war länger als die gesetzliche Kündigungszeit. Gestern hatte sie ihren letzten Arbeitstag gehabt, ihm den Rücken freigehalten.
Und er, er hatte es nicht geschafft, rechtzeitig von seinem Auswärtstermin zurück zu kommen. Die Schlüssel für Büro und Eingangstür hatte sie im Briefkasten hinterlassen.
Nach all den Jahren, wurde ihm, das hatte er heute über Tag festgestellt, der Lebensmittelpunkt genommen. Sandra wollte sich verändern, so hatte sie gesagt. Morgen würde sie umziehen, zu einem ihm fremden Mann, den sie im Internet kennengelernt hatte.
So alltagsvertraut sie über die Jahre geworden waren, hatte er nicht richtig zugehört, als sie vor drei Monaten davon erzählte. Je mehr er die Situation jetzt realistisch vor sich sah, umso düsterer wurden seine Gedanken.
Als der Wind abgeflaut hatte, machte er sich auf den Weg zur Brückenmitte. Hier war er vor mehr als zwanzig Jahren mit Sandra beim Joggen zusammengestoßen. Genau hier wollte er den letzten Schritt jetzt machen.
Gerade als er sein rechtes Bein über das Geländer schwingen wollte, setzte der Wind wieder richtig ein. Er hatte Mühe, zu seinem Testarossa zurückzukehren.
Als er sich in den Sitz schwang, schaltete sich der automatische Verkehrsfunk ein. Der Blick aufs Armaturenbrett verriet ihm, das es Einundzwanziguhrdrei war.
Der Wind wurde stärker, die Böen heftiger, die Bäume ließen sich zu extremen Verbiegungen hinreißen. Erneut erging er sich in der Vergangenheit. Kleinigkeiten, belanglose Handreichungen, versah er vor seinem geistigen Auge mit Schnörkeln und Schleifchen.
Eine ihm ebenbürtige Person, hatte keine Probleme damit gehabt, niedere Tätigkeiten wie Kaffeekochen zu erfüllen, dabei stets freundlich und zuvorkommend zu sein.
Das was er immer von sich fern gehalten hatte, holte ihn jetzt erbarmungslos ein. Seine Gefühle, die er immer kontrolliert an der Bürotür an den Haken gehangen hatte, meldeten sich.
Es vor sich her zu schieben, machte keinen Sinn.
Es kamen ihm jetzt jedoch Zweifel an seinem Vorhaben. War es der richtige letzte Schritt. Würde er sich trauen den anderen, im Ausgang nicht planbaren Schritt, zu machen?
Sein Ego hatte ihn immer davon abgehalten, mehr als Sandra`s Fürsorglichkeit im Büro, zu nutzen. Über die Jahre waren sie wie ein altes Ehepaar geworden, so vertraut, alles über den anderen wissend. Nie war er der Bittsteller ihr gegenüber gewesen.
Jetzt musste er handeln, wollte er sie nicht verlieren.
Über den Tag, ihren leeren Stuhl im Blick, hatte er sich für feige Variante entschieden. Er wollte sie in seinen Gedanken mit auf seine letzte Reise nehmen. Das Wetter hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Sein innerer Schweinehund focht weiter einen unerbittlichen Kampf. Das Radio schaltete er jetzt nach kurzem Blick auf die Uhr ein. Um Halb kamen auf seinem Lieblingssender die Nachrichten. Bei den Wetteraussichten vernahm er deutlich die Hurrikanwarnung für die heutige Nacht.
Sollte er hier wirklich auf besseres Wetter warten?
Das vereinzelte knacken der Bäume, war durch die geschlossene Scheibe zu hören.
Er schaltete seine Handy an, wählte sich mittels Bluetooth in die Freisprecheinrichtung ein.
Im Kurzwahlspeicher tippte er die Zwei an. Tut, - tut, - tut, - tut, -tut. Es folgte ein Knacken.
„Hallo Rainer! Habe ich etwas vergessen? Die Schlüssel im Briefkasten hast Du gefunden?“
Nachdem Sandra ihre Fragen gestellt hatte, gab es einen Moment der Stille.
„Hallo Sandra! Was kann ich machen, damit Du nicht gehst? Alles war im laufe der Jahre so selbstverständlich geworden, das ich das Wichtigste vergessen habe.
Ich liebe Dich!“
Endlich hatte er sich überwunden. Deutlich war das Schlucken am anderen Ende zu hören.
So lange hatte sie auf diese Aussage gewartet, irgendwann die Hoffnung aufgegeben. Und jetzt? Jetzt war es zu spät. Sie hatte einen innerlichen Schlussstrich gezogen.
„Es tut mir leid Rainer,“ mitten in ihrem Satz war ein lautes Krachen zu hören, aber dann fuhr sie fort.
„Ich habe fast zwanzig Jahre darauf gewartet, nun hast Du das Zeitfenster überzogen. Mit den Schlüsseln habe ich Dich gestern zu den Akten abgelegt.“
Sie wartete auf eine Antwort, doch ihr Handy zeigte nur, nachdem sie die Hörerebene vom Ohr genommen hatte, dass der Anruf beendet war.
Die Natur hatte ihm den allerletzten Schritt abgenommen.
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