Ein besonderer Umweg
von Hassels
Das Winterwetter, klirrende Kälte und eine von Schnee bedeckte Landschaft, jeder Atemzug wurde von einem aufsteigenden Schwaden begleitet, machte meinen Spaziergang zu einem einsamen Erlebnis. Weit und breit keine Menschenseele, nur ein hoppelnder Hase durchbrach die Ruhe – für einen kurzen Augenblick. Wie ein Stillleben aus der barocken Ära, das dargebotene Landschaftsbild faszinierte mich, lenkte mich von den Sorgen des Alltags ab.
Einige Zeit verharrte ich so auf der Stelle, erst als der Boden unter den Füßen nachgab, knirschte, setzte ich den Spaziergang fort. Mit jedem Schritt entfernte ich mich mehr und mehr vom Bild dieser einzigartigen Schönheit, verloren sich auch meine Gedanken in dem unschönen Grau meines Umfelds. Der Waldrand wirkte wie ein heruntergelassener Schleier, eine Abtrennung. Der Waldweg mündete, von zwei Pollern gerahmt, in die Straße in der ich wohne. Abrupt war ich wieder in der Realität angekommen.
Mit zwei großen, schwerbeladenen Einkaufstaschen in Händen, die Bäckerbeutel lagen oben auf, kam mir meine Nachbarin entgegen, unverkennbar. Ihr Mireille Mathieu Gedächtnishaarschnitt, das Kleid mit Blümchenmuster der siebziger Jahre, und Knobelbecher à la Bundeswehr. Das Outfit meiner Großmutter war moderner.
Ob Wetter oder Umgangston, ich war mir nicht sicher was kühler wirkte. Die Tageszeit hatte sie noch zum Besten gegeben, zwei Worte. Ich ließ sie vorgehen, und auf der ersten Etage verschwand sie vis-à-vis in ihrer Wohnung. 'Living next door to family', der Gedanke brachte mich zum Schmunzeln. Ja – eine Familie hätte ich auch gerne, aber nicht um den Preis dieser Trutscheligkeit. Die Wohnungstür fiel ins Schloss, ein schier endloses Wochenende lag an diesem Samstagmorgen vor mir.
Erst mal ein warmes Bad, da kamen mir immer die nettesten Einfälle. Gerade als ich die Armatur aufdrehen wollte, wurde es nebenan laut. Ich verharrte bewegungslos, lauschte. Den Wortführer erkannte ich sofort, mein sonst so schleimiger Nachbar stauchte seine Frau wie eine Schulgöre zusammen. Na dem würde ich – ich hob den Einhebelmischer an und das einlaufende Wasser übertönte den Lärm aus dem Nachbarbad.
Das Sandelholz duftete und der Schaum glänzte seidig. Nebenan war es jetzt ruhig, ich konnte mein Schaumbad genießen. Die Umstrukturierung der Firma, meine Entwicklungen für ein ganz neues Segment, schon wieder hingen meine Gedanken bei der Arbeit. Mein Handy läutete, riss mich aus den Zukunftsvisionen.
„Schätzchen ich habe einen Kunden für dein Kaliber, ganz kurzfristig. Du müsstest schon zu Mittag bereit sein. Ich simse dir gleich die Daten. Es lohnt sich!“ Ohne eine Antwort abzuwarten hatte Madame aufgelegt und schon erhielt ich ihre SMS.
Seit über einem Jahr arbeitete ich an den Wochenenden für eine Begleitagentur, nur gehobene Kundschaft. Da meine bisherigen Bekanntschaften nicht meinen Vorstellungen entsprachen, ich aber auch nicht ohne Sex leben wollte, hatte ich mich damals auf die Annonce hin beworben. So konnte ich mein Verlangen stillen, und der angenehme Nebeneffekt, ich wurde auch noch dafür bezahlt.
Für die körperlichen Dienstleistungen, es lag in meinem Ermessen, bekam die Agentur auch keine Provision. In dem einen Jahr war das Sex-Sparschwein auf fast fünfzehntausend Euro angewachsen, und ich war meist sehr gut gelaunt nach den Wochenenden in der Firma voll einsatzfähig.
Es blieben mir noch drei Stunden, abzüglich einer Autofahrt von einer knappen Stunde. Mit dem flauschigen Badetuch hatte ich mich abgetrocknet, mein Ebenbild sprach aus dem Spiegel zu mir. Die Vorfreude konnte ich sehen, spitz standen die Warzen ab und meine Pussy juckte, war frisch rasiert. Mit der Fingerprobe bekam ich meine Bestätigung, der Tampon war nötig. Der mit Spitzen besetzte String sollte ja frisch bleiben.
Grundfarbe schwarz, BH, String, Halterlose und Pumps bildeten den Unterbau, dazu eine weiße Bluse und ein graues Business-Kostüm. Zu dem dezenten Make – up passten Halstuch und Clutch in weiß gehalten. Meine glänzenden Augen im Spiegel, ich gefiel mir. Einmal um die eigene Achse gedreht, alles saß genau so wie es sollte.
Gut 120 Km später, die Straßen waren frei gewesen, hatte ich das Ziel zehn Minuten früher erreicht als geplant. Mein 'Klient' hatte schon wie vereinbart den Platz am Fenster des Restaurants eingenommen. Mit einem Glas Orangensaft und der Tageszeitung in Händen saß er entspannt da, las in der Zeitung. Ich ging auf ihn zu und erst als ich kurz vor dem Tisch stand blickte er auf. Zeitung beiseite, er stand auf und reichte mir die Hand.
Vermutlich war er kaum älter als ich, was mich in Anbetracht der sonst eher gesetzten Kundschaft erstaunte, aber außer guten Manieren hatte er keinerlei Ausstrahlung. Auf den ersten Blick, ein total dröger Knochen. Während des Essens verfestigte sich mein Eindruck, die schmale Konversation hätte man im siebzehnten Jahrhundert vermutet.
Das Sieben-Gänge-Menü zog sich, erst nach drei Stunden bestellte er den Espresso zum Abschluss. Mir graute es schon vor dem Rest des Nachmittags, es war kurz nach drei, und er hatte mich bis Mitternacht gebucht. Nach fünf Minuten Fußweg standen wir vor dem Kunstmuseum, diese Ausstellung hatte ich bislang in Ermangelung von Zeit noch nicht besuchen können. Ein Lichtblick. Wie ausgewechselt war er plötzlich, knüpfte Zusammenhänge zu anderen Künstlern und fragte nach meinen Eindrücken.
Ein reger Gedankenaustausch, es flossen beiderseitig Emotionen mit ein. Persönliches wurde ganz unbewusst preisgegeben. Die Durchsage: „Es ist gleich achtzehn Uhr. Bitte begeben sie sich zum Ausgang, wir schließen. Wir wünschen allen Besuchern ein schönes Wochenende!“, rüttelte mich wach. Bei keinem Kunden hatte ich zuvor die Regeln des Geschäfts derart gebrochen.
Wie selbstverständlich nahm er mich jetzt an die Hand, führte. Ohne Worte schlenderten wir über den großen, jetzt von den Buden befreiten Marktplatz und in meinem Kopf spielten sich seltsame Szenarien ab. Was hatte Holger, so hatte er sich vorgestellt, mit mir vor? Vom Eisblock hatte er sich zu einer Art Charmeur gemausert, seine gute Bildung mit in die Waagschale geworfen.
„Schau mal Vivi!“ Er deutete mit dem langen Arm zum offenen Glockenturm der Stadtkirche. Die tief stehende Sonne spiegelte sich auf dem Ornament der bronzenen Glocke. Holger kannte sich hier bestens aus, nur an dieser Stelle wurde die Glocke vom Licht voll erfasst. „Das ist wirklich wunderschön.“, antwortete ich nur. Eigentlich hatte ich erwartet dass er damit seine Ouvertüre abschließen würde, nun die Frage nach Hotel und Preis käme.
Weit gefehlt. „Magst Du Shakespeare? Im Schauspielhaus wird Romeo und Julia gegeben. - Ich würde gerne mit Dir dahin, aber nur wenn es Dich nicht langweilt.“ Über den Vornamen war er zum Du übergegangen, schaute mir jetzt ganz offen in die Augen.
'Es waren zwei Königskinder.' Wie ein Schauer durchfuhr mich der Gedanke. Ein Tsunami hatte mich überrollt, ich brannte lichterloh und... Der Holger vom Nachmittag war genau der Typ Mann den ich mir immer für mich gewünscht hatte, - und er war mein Kunde. Mir wurde schlecht, ich ließ seine warme Hand los, schmiegte mich an ihn um seinem Blick zu entweichen und griff ihm hinterrücks an seine Taille. Behutsam legte er seinen Arm um meine Schultern und ganz langsam gingen wir Richtung Schauspielhaus.
Im Foyer gingen wir an den Schlangen vor der Abendkasse vorbei, an der Treppe zur Lounge wurden die von ihm bereitgehaltenen Karten abgerissen. Ich entschuldigte mich „für kleine Mädchen.“ In der geschlossenen Kabine konnte ich schon deutlich die Spuren im String erkennen. Zur Mittagszeit hätte ich noch der Wüste Gobi Konkurrenz machen können, jetzt war die Saugkraft des Tampons erschöpft. Lautlos kamen mir die Tränen.
Ich ließ mir Zeit, trocknete mich unten und schob einen neuen XXL ein. Der Waschraum war Gott sei Dank leer. Ich wischte die Tränen ab und richtete mein Make-up. Holger wartete an einem der Stehtische mit zwei Sektflöten. Aber schon nach zwei Schluck ertönte die Schelle. Er dirigierte mich zu unseren Plätzen, Oberrang erste Reihe Mitte, die mit Abstand besten Plätze.
In der Bühnenpause, nach dem zweiten Akt, gönnten wir uns einen Eisbecher 'Red Moon'. Ich hatte bei seiner Frage nur auf Früchte und Eissorten geachtet, war überrascht als der Kellner eine große Schale mit zwei Löffeln brachte. Dezent löffelte jeder zunächst auf der ihm nahen Seite und wir beobachteten uns gegenseitig aus den Augenwinkeln. Als sich unsere Blicke trafen, es war wie die Aufforderung irgendeinen Blödsinn zu machen, lächelten wir uns an. Schwuppdiwupp stibitzte ich eine Himbeere samt Sahne von seiner Seite.
Es war der Auftakt zu einer Schlacht, jegliche Manieren wurden über Bord geworfen, und wie Schaufelradbagger stopften wir Eis, Früchte und Sahne in uns hinein. Zum Glück war es relativ laut um uns herum, so nahm niemand Notiz von uns als wir in schallendes Gelächter ausbrachen. Die Klingel läutete zum zweiten Mal, ich legte meine linke Hand auf seine Rechte. „Was hast du vor?“, fragte ich und sah ihm dabei in die Augen. „Später.“ Seine Hand entzog sich meiner, er stand auf und nahm mich galant an die Hand.
Zu Beginn des fünften und letzten Aktes, eine Kulisse in schwarz-weiß unterstrich die Inszenierung, legte er seinen Arm um meine Schultern. Ein angenehmes Gefühl stieg in mir auf, gleichzeitig wurde mir wieder schlecht. So nah und doch so fern, Himmel und Hölle waren weit geöffnet. Der vielzitierte Abgrund, ich zitterte.
Er ließ sich nichts anmerken, aber ich spürte seine Augen auf meinem Körper. Mit Standing Ovations quittierte das Publikum den letzten Vorhang. Wir mogelten uns schnell durch die Reihe, konnten so dem großen Run entkommen. Keine zehn Minuten später öffnete er mir die Tür zum Steakhaus, 22:16 zeigten die Leuchtziffern der Kasse.
Holger stellte sich einen grünen Salat mit Dressing zusammen, nahm dazu ein Filetsteak englisch. Mir reichte eine Folienkartoffel mit Kräuterquark. Wasser war unser gemeinsames Getränk. Wir unterhielten uns über die Inszenierung, aßen ein wenig, unterhielten uns weiter. Messer und Gabel zeigten an, wir waren fertig. Ein Kellner räumte die Teller ab, fragte ob wir noch etwas wollten, in fünf Minuten müsse er abrechnen.
„Jetzt ist später. Ich heiße tatsächlich Holger und es wäre nett wenn Du mir auch Deinen echten Namen sagen würdest. Vivi ist ja sicher nur dein Künstlername. Danach beantworte ich Dir auch Deine Fragen.“ Er hatte mich mit den Augen fixiert, ganz bewusst seine Hände auf seiner Seite behalten.
„Meine Oma sagt immer ich sähe aus wie die junge Vivi Bach, daher der Künstlername. Im echten Leben heiße ich Caroline. Heute Mittag dachte ich noch: Was für ein dröger Knochen. Im Museum bist Du dann aufgetaut. Und seit dem frage ich mich: Warum bestellt sich ein gut aussehender, junger Mann eine Begleitdame. Mit deinem Charme könntest Du doch fast jede Frau haben. Also?“
„Also Caroline. Übrigens ein hübscher Name. Ich habe nur wenig Zeit, die Damen auf Empfängen sind meist vergeben und die die noch frei sind, - sind es wohl zurecht. Auf den Datingseiten gibt es nur, nennen wir es freundlich, Fallobst. Dafür ist mir die Zeit zu schade. Für eine schnelle Nummer findet sich immer etwas, aber ich will irgendwann eine Familie haben. Ein guter Freund hat mir dann im Vertrauen gesagt, seine Frau war früher für einen Escort Service tätig. Viele Frauen mit Niveau verbinden das Nützliche mit dem Angenehmen.“
Diese entwaffnende Ehrlichkeit hatte ich nicht erwartet. Er räusperte sich, aber bevor er noch etwas fragen konnte, legte ich los: „Ich danke Dir für den schönen Tag. - Und NEIN. Ich möchte nicht in ein Hotel oder ähnliches. Hier Holger, als besonderes Bonbon gebe ich Dir meine Handynummer. Wenn Du die Frau fürs Leben gefunden hast, ein Urteil brauchst, dann ruf mich an.“
„Danke Caroline. Ich weiß das zu schätzen. Ich wünsche Dir einen schönen Sonntag.“ Während er an der Kasse zahlte, verließ ich das Restaurant, ähnlich wie sonst die Hotels am frühen Morgen. Es wurde eine chaotische Heimfahrt, immer wieder schielte ich auf das Handy auf dem Beifahrersitz. Aber es tat sich nichts. Der erste Blick am Sonntagmorgen, ich hatte keinen Anruf verpasst. In den schönsten Farben malte ich mir den ganzen Sonntag aus, wartete auf Holgers Anruf.
Montag, Dienstag, Mittwoch, tagsüber lenkte mich die Arbeit ab, aber die Abende wurden lang und länger. Donnerstagabend war ich richtig angefressen. Holger hatte sich immer noch nicht gemeldet und Freitag sollten die Abteilungsleiter für eine außerordentliche Vorstandssitzung nach dem normalen Feierabend im Betrieb bleiben.
Madame rief Freitagmittag an, aber den für mich angedachten Termin musste ich ihr absagen. Um 14:00 ließen alle sinnbildlich den Hammer fallen, verabschiedeten sich ins Wochenende. Nur die sechs Abteilungsleiter, ich war einer davon, und der Chef mit seiner Sekretärin saßen im Konferenzraum zusammen. Lang und breit schilderte der Chef uns die Daten der wirtschaftlichen Entwicklung und lobte meine Strukturmaßnahmen. Es war schon nach 17:00, als er die Katze aus dem Sack ließ.
„Mein Sohn hat im Ausland genügend Erfahrung gesammelt, er wird ab Montag die Geschäfte leiten. Ich werde nur noch in beratender Funktion zur Verfügung stehen. Die Krankheiten der letzten Jahre haben einfach zu einem zu hohen Substanzverlust geführt.“ Er drückte auf einen Knopf und die Tür zu seinem Büro ging auf.
„Darf ich vorstellen: Holger Bertram, mein Sohn. Ich hoffe sie werden genauso loyal mit ihm zusammenarbeiten, auch wenn er vielleicht neue Wege beschreitet. Bevor Holger sich an Sie wendet, will ich Ihnen allen Dank sagen.“ Während alle applaudierten, der Chef das Zepter übergab, saß ich in mich gekehrt auf meinem Platz. Gedanklich schrieb ich schon meine Kündigung, war den Tränen nahe. Holger...
Jede oder jeder stellte sich mit Namen vor. Meine Stimme versagte fast völlig. „Auf eine gute und erfolgreiche Zusammenarbeit. Ich wünsche ihnen allen ein schönes Wochenende. Nur sie Frau Schulz, Caroline Schulz war doch richtig? Aus der Abteilung Innovation und Entwicklung bräuchte ich konkrete Daten zum Abgleich mit meiner Analyse. Hätten Sie noch ein wenig Zeit?“, fragte Holger ohne Umschweife. Ich nickte und allgemein verabschiedete man sich.
Kaum hatten alle anderen den Raum verlassen, schaltete ich auf Angriffsmodus: „Du wusstest schon vorher wer ich bin. Hat's Spaß gemacht. Verarschen kann ich mich allein! Ich weiß was ich kann. Also hast Du jetzt die Wahl: Entweder ich ziehe mein Ding hier autonom durch, oder, oder ich kündige.“
„Reisende soll man nicht aufhalten.“ Mehr als unterkühlt kam es rüber, und doch hatte ich mit meinem Schuss ins Blaue wohl richtig gelegen. Ein kurzes Zucken in seinem Gesicht hatte es mir verraten. Was würde als nächstes kommen? Den strategischen Vorteil, er hatte sich darauf vorbereiten können, wie würde er ihn ausspielen?
„Deine Nebentätigkeit spielt hier keine Rolle. Die Arbeitskosten in dem Betrieb sind zu hoch, da müssen Lösungen her. Der angefangene Strukturwandel muss auf solide Füße gestellt werden.“ Er schaltete den Beamer ein, die Krankenstatistik des Betriebs. Speziell die Krankmeldungen für ein bis zwei Tage, die Verwaltungsangestellten brauchten erst ab dem dritten Tag ein Attest, machten einen erheblichen Anteil aus. Bei den Arbeitern zeichnete sich ein ähnlich deutliches Bild, immer wenn viel zu tun war, oder vor Feiertagen, war der Krankenstand um ein Vielfaches höher.
„Die Zusatzkosten für Leiharbeiter müssen aufgefangen werden. Immer wenn es boomt, haben die selben Leute keinen Bock auf Arbeit. Am besten schließen wir den Bereich der Arbeiter und lassen alles von Fremdfirmen machen. Dann haben wir fest planbare Kosten und weniger Beschäftigte. Damit könnten wir auch den freigestellten Gewerkschafter wieder als Arbeitskraft einsetzen.“
Fassungslos, solch ein asoziales Macho-Gehabe hatte ich von ihm nicht erwartet, bemühte ich mich Contenance zu wahren, nicht wie ein Vulkan zu kochen. Die Eruption zu unterdrücken und nicht unsachlich zu werden war das Ziel. Und in den Typ hatte ich mich verliebt, innerlich schüttelte es mich richtig durch.
„Dann planen Sie ohne mich!“, wurde ich jetzt wieder förmlich. „Wenn Sie zwei Minuten warten, liegt meine Kündigung auf ihrem Schreibtisch, Herr Bertram.“ Ohne eine Antwort abzuwarten drehte ich mich um und ging zu meinem Büro. Nur noch Datum und Unterschrift musste ich auf ein blanko aufgesetztes Kündigungsschreiben setzen.
Der Konferenzraum war leer, ich klopfte an der Tür des Chefbüros. Nach Aufforderung trat ich ein, drückte ihm das Schreiben in die Hand. „Dann viel Erfolg beim Ausbeuten. Wenn Sie sich mit den Leuten die nie krank feiern zusammensetzen, denen ihre Strukturmaßnahmen erklären, haben Sie sicher bald keine Lohnkosten mehr.“ Langsam redete ich mich in Rage, gingen meinem sozialen Gewissen die Pferde durch. „Lagern Sie doch alles nach China aus, die bauen ja sowieso unsere Technik nach. Es gibt viele Möglichkeiten die Kosten einzudämmen, nur sollte man es nicht auf dem Rücken der Beschäftigten machen. Selbst die Patriarchen früherer Zeiten haben da andere Stellschrauben gefunden. Groß geworden sind sie durch zufriedene Mitarbeiter.“
Breit grinsend schaute er mich an. Was sollte das jetzt? Links, rechts, es war mir ein Bedürfnis ihm ein paar zu scheuern. Mühsam beherrschte ich mich, es nicht zu tun. Gedanklich fühlte ich mich auf einer einsamen Insel, auf der höchsten Palme sitzend. Obwohl es nur drei, vier Sekunden gewesen waren, es erschien mir wie eine Ewigkeit bis er sich räusperte.
„Bitte sei mir nicht böse, ich wollte nur Deine Authentizität überprüfen.“ Dabei war er aus seinem Sessel aufgestanden, auf mich zugekommen, griff um meine Schultern und gab mir einen Kuss auf den Mund. Ich stieß ihn weg, verpasste ihm eine schallende Ohrfeige. „O.K. Die habe ich mir wohl verdient.“, sagte er überrascht. Er zerriss meine Kündigung und sein Gesicht wurde ernst. Mit seiner Erklärung wollte ich mich nicht zufrieden geben, drehte mich um und ging in mein Büro. Es war ein Vabanquespiel, der Ausgang völlig ungewiss.
Die drei Excel Tabellen für effektive Lohngestaltung hatte ich gerade aus dem Drucker geholt, da klopfte es an meiner Tür. „Herein!“ Langsam ging die Tür auf und, und ich hatte wohl zu viel riskiert. „Herr Bertram hat gerade das Haus verlassen und mir gesagt sie wären noch in ihrem Büro. Wie lange bleiben sie noch Frau Schulz?“, fragte Herr Leitner. Der Mann vom Werkschutz musste alle Bewegungen innerhalb des Hauses dokumentieren.
„Ich bin hier fertig Herr Leitner, Sie können mich zum Haupteingang begleiten und dann abschließen.“ Ziemlich frustriert verließ ich mein Büro und ging voraus. Einsam stand mein Flitzer auf dem Parkplatz, eine Kundenfahrt für Madame stand nicht auf dem Programm. Missmutig lehnte ich mich in die Sitzschale, der sonst so angenehme Sitz konnte mir jetzt auch nicht schmeicheln. Die eingeworfene Schnulzen-CD begleitete meine Heimfahrt.
Ein Hupkonzert riss mich aus meinem melancholischen Traum, 'Wenn das Liebe ist' von Glashaus hatte mir soeben den Rest gegeben. Die Parallelen, mein Verlangen der letzten Woche, alles hatte sich wie ein Film vor mir abgespielt. Grüner konnte die Ampel nicht werden, ich fuhr los und nur zwei weitere Autos schafften die Ampel noch. Die zweite Querstraße bog ich ab, eine verbotene Abkürzung, entzog mich so den Verfolgern.
Die Kelle des Polizisten blinkte, er winkte mich zur Seite. „Das ist eine Anliegerstraße. Führerschein und Fahrzeugpapiere bitte.“ Da er nicht mehr sagte oder fragte, übergab ich die gewünschten Dokumente. Er warf einen kurzen Blick auf meine Papiere und wurde geschäftig: „Unberechtigtes Fahren in einer Anliegerstraße, das macht ein Verwarnungsgeld von dreißig Euro. Zahlen Sie per Karte oder soll ich Ihnen einen Überweisungsträger ausfüllen?“ Es schien ihm wie Öl runter zu gehen, warum auch immer.
„Ich hätte gerne Ihren Namen und die Dienststelle um mich über Sie zu beschweren. Ich möchte meine Freundin Angela besuchen, sie wohnt in Nummer 87. Bevor Sie hier Strafzettel verteilen, sollten Sie sich bestimmt erst über deren Rechtmäßigkeit informieren.“ Dreist hatte ich gelogen, mir aber einen kaum widerlegbaren Grund für die Durchfahrt geschaffen. Angela wohnte tatsächlich im angegebenen Haus, aber Intimfeindin hätte es deutlich besser getroffen.
Ich schloss meinen Wagen ab, ging die dreißig Meter begleitet von dem Polizisten. Angela Rauh stand auf der von mir betätigten Klingel, eiligst gab der Polizist mir meine Papiere zurück und entschuldigte sich. Gott sei Dank, der Türöffner wurde nicht betätigt. Nach ein wenig Wartezeit ging ich zu meinem Wagen zurück, zuckte dem Polizist gegenüber mit den Schultern. „Sie scheint unsere Verabredung vergessen zu haben.“, begründete ich mein alsbaldiges fortfahren.
Nach drei hastig getrunkenen Gläsern Scotch wurde ich schnell müde. Etwas verkatert wachte ich auf, es hatte über Nacht wieder geschneit. Fast schon sehnsüchtig schaute ich auf mein Handy, es war kein unbeantworteter Anruf verzeichnet. Dieses Idyll des letzten Samstags, die paar Meter in den Wald, - mir war nicht nach Genießen.
Der Kaffee regte meine Sinne an, Scheiße! Mit Holger hatte ich es mir wohl verscherzt, Trauer machte sich zunehmend in mir breit. Es hatte etwas von Roulette, ich hatte auf Zahl gesetzt, volles Risiko. Hauptgewinn oder, in diesem Fall Pleite. Die einfache Chance, fifty-fifty, war mir mit zu vielen Zugeständnissen verbunden, entsprach nicht meinen Ansprüchen. Bis Mittag hatte auch Madame sich nicht gemeldet, nun plante ich den Nachmittag.
Nach dem Einkaufen durchforstete ich die auf mich zugeschnittenen Stellenangebote. Die Auswahl war nicht gerade riesig, aber ein Angebot in Österreich war verlockend. Mehr als 800 Kilometer entfernt, der Abstand sollte reichen. Online schickte ich die Bewerbung ab, wäre zum nächsten Monat verfügbar wenn bis Dienstag eine positive Rückmeldung käme. Neugierig buchte ich den Schlafwagen bis München, in der Früh konnte ich in den Zug nach Salzburg steigen.
Etwas außerhalb von Salzburg setzte mich das Taxi vor dem Werk ab. Ernüchtert vom ersten Eindruck, alles wirkte marode, wanderte ich die Straße zur Stadt zurück. Die Landschaft zwischen Industriegebiet und Stadt gefiel mir, die frische Luft erweckte ein Hungergefühl. Der kleine Landgasthof kam wie gerufen, und natürlich würde man mir auch schon um elf Uhr ein Mittagessen bereiten.
Der Schweinebraten mit Knödeln hatte gemundet, der Nachtisch, eine Schokomousse mit Beeren, war ein Traum. Das rustikale Ambiente des Gasthofs und der kredenzte Nachtisch, ein Widerspruch in sich. Mein Handy holte mich aus diesem lukullischen Erlebnis.
„Hallo Caroline. Ich habe nachgedacht, können wir uns treffen?“ Holgers Stimme klang verzweifelt.
„Hallo Holger. Hast Du die Frau fürs Leben gefunden?“ Die Spitze musste ich sofort loswerden. „Es wird heute aber nicht gehen, ich bin in Österreich bei einem Vorstellungsgespräch.“ Die ganze Breitseite meinen aufgestauten Frust ließ ich ihn spüren. Sein Schlucken konnte ich hören.
„Du willst die Firma wirklich verlassen?“ Er stockte nach der Frage, legte dann aber nach: „Ja, ich habe die Frau meines Lebens gefunden, ich habe mich schon bei unserem Treffen in Dich verliebt. Ich verstehe dass Du sauer bist, aber lass die Firma und vor allem mich nicht im Regen stehen.“
Es war ihm hörbar schwer gefallen seine Gefühle zu artikulieren. Der Gastraum war scheinbar um einiges heller geworden, so strahlte ich. Es blieb eine ganze Weile ruhig, ich antwortete nicht und er versuchte wohl seine Fassung zurückzugewinnen. „Wenn Du Dich beeilst, buche ich dir den Flug von Salzburg nach Weeze. Der Flug geht aber schon in einer knappen Stunde. Bitte Caroline.“ Er schluchzte fast, tat mir jetzt leid und ich sagte zu. Ob mein Versuch meine Freude zu unterdrücken gelungen war, würde sich zeigen.
Beschwingt war ich in die kleine Turboprop – Maschine gestiegen, vergaß meine Flugangst. Mit einem extrem großen Strauss roter Rosen wartete er am Ausgang in Weeze auf mich. Nichts konnte mich halten, sämtliche Bedingungen die ich stellen wollte hatten sich in Luft aufgelöst, ich flog ihm in die Arme. Erstmals küssten wir uns, es war als wenn die Himmelspforte zum Glück sich geöffnet hätte.
Als wir uns endlich voneinander zum Luftholen gelöst hatten, überwältigte es mich fast. Die Tränen in seinen Augen, rote Wangen wie bei einem frisch verliebten Teenie und der zärtliche Blick, erzeugten ein nie da gewesenes Gefühl in mir. Es war wie die Fahrt an einen unbekannten Ort, mein Gefühls – Navi sprach leise zu mir: 'Sie haben ihr Ziel erreicht!'
Hand in Hand schlenderten wir wortlos zum Parkhaus, immer wieder von Küssen und Küsschen unterbrochen. Weit und breit war kein Angeber – Schlitten zu sehen, der Senior fuhr ja einen Porsche Carrera. An einem A6 Avant in Anthrazit, die kleine Motorisierung mit dem 1,8 Liter Motor, blinkten die Lichter auf.
Kaum hatten wir den Bereich des Flughafens verlassen, begann er mit seiner Beichte: „Mein Vater wusste schon welchen Nebenjob Du hasst. Er hat alle wichtigen Personen von einem Detektiv durchleuchten lassen, auf der Suche nach dem Maulwurf. Von einem guten Freund habe ich mir dann unsere Technik erklären lassen, die Schwachstellen. Zum Nachbau braucht es wohl nur einen gewieften Elektroniker. Das wäre eine der wesentlichen Aufgaben für Dich, mach unsere Produkte gegen Piraterie sicher. Deine drei sehr sozialen Maßnahmen für eine wirtschaftliche Lohngestaltung haben mich beeindruckt. Und Du hast mir fast den Verstand geraubt. Loyal der Firma gegenüber hast du all meine Versuche auf Deine Arbeit zu kommen im Keime erstickt. Jede Stunde unseres ungewöhnlichen Treffens, zumindest von der Ausgangslage her, habe ich genossen. Und ich habe mich in Dich verliebt.“
Selbst in meinen kühnsten Träumen, von solch einer Offenheit eines Mannes hatte ich noch von keiner Freundin gehört. Sprachlosigkeit meinerseits, völlig abwesend drehte ich am Radiosender. Es war wie im Märchen, genau passend dröhnte die Reibeisenstimme von Luis Armstrong mir „What a Wonderful World“ entgegen.
Holger hatte so gar nichts von seinem alten Herrn. Er wohnte in einer Etagenwohnung einer ganz normalen Mehrfamilienhaussiedlung, der Senior residierte in einer Villa am Stadtrand. Schlichte Wände in mediterranem Stil, nichts überladendes und doch funktionell, spiegelte die Wohnung auch sein sonst an den Tag gelegtes Verhalten wider. Einzig die auf dem Wohnzimmertisch stehende Glaskaraffe mit den bereitgestellten Rotweingläsern zeugten von Noblesse, die eines bekennenden Gaumenfreundes.
Das Bouquet des Granatroten Weines hatte sich im ganzen Raum gefangen, lockte. Wahrscheinlich hatte er den Wein sofort nach unserem Telefongespräch dekantiert, ihm die Zeit zur Entfaltung gegeben. In der kleinen Küche stand die zum Wein gehörige Flasche, ein Beato. Nur kurz nahm ich die Flasche mit dem Bodensatz in die Hand, die Wahl meiner dritten Fremdsprache zu Schulzeiten kam mir jetzt gelegen. Wie in einem Weinbrevier waren die Eigenschaften aufgelistet.
Nach Ende der Wohnungsführung, ein Schlafzimmer mit Gitterstab - Bett und ein großzügiges Bad mit Wanne und Dusche, setzten wir uns auf die Couch vor den Wohnzimmertisch. Meine nicht vorhandene Weinkenntnis überspielte ich mit bei einer Weinprobe gesehenen Ritualen. Nach schwenken und riechen nahm ich einen kleinen Schluck. Der Wein schmeckte ausgezeichnet, ihn zu benennen wäre mir ohne das gelesene Etikett nicht möglich gewesen.
„Delikates Bouquet mit einem Mandelton. Samtig und geschmeidig und dabei fördert das leichte Aroma einen nachhaltigen Abgang.“ Weiter kam ich in meiner Beschreibung nicht, Abgang war das Zauberwort für meine Gedanken die nun anderweitig gelagert waren. Holger lächelte: „Eine große Weinkennerin bist du also auch noch. Perfekt beschrieben!“
„Entschuldige Holger. Italienisch hatte ich als dritte Fremdsprache. Von Wein habe ich keine Ahnung, aber dieser schmeckt mir ausgezeichnet.“ Bevor ich mich ganz verlieren würde, wollte ich die Fronten klären. „Wäre es für deinen Vater nicht eine Mesalliance, ich die Edelhure und du der Sohn aus gutem Haus?“
Den einen Arm legte er um meine Schultern, mit dem Zeigefinger der anderen Hand hob er mein Kinn an und küsste mich. „Ich habe direkt nach unserem Treffen mit meinem Vater gesprochen. Er sieht es eher als Vorteil. Eine Frau der nichts fremd ist, die weiß was sie will, die muss man nicht führen. Die darf man gelegentlich führen.“ Wie zur Unterstreichung küsste er mich noch inniger als zuvor.
„Und? Hast du nicht Angst von irgendwelchen Geschäftspartnern spöttisch angesehen zu werden? Es könnte ja durchaus jemand aus der Branche zu meinen bisherigen Kunden gehören. Und wirst du dauerhaft mit den Kontroversen leben können. Ich werde bei gewissen Sachen sicher nicht in berechnende Diplomatie einlenken. Mir scheint Streit vorprogrammiert. Kannst du das alles aushalten ohne an uns zu zweifeln?“ Mit großen Augen fixierte ich ihn, gab ihm keine Chance zu nachhaltiger Überlegung.
„Die Versöhnung ist das schönste am Streit. Mit dem dadurch breiteren Spektrum, Ausleuchten in alle denkbaren Richtungen, werden die besten Ergebnisse erzielt. Das gilt für den Geschäftsmann, und für den Liebenden gleichermaßen. Eintönigkeit, keine Reibungsfläche, sind der Tod einer Beziehung. Meine Mutter ist lieb und nett, für meinen Vater aber eine gewohnheitsmäßige Langeweile.“
Ich hätte seinen Ausführungen, der damit verbundenen Sichtweise stundenlang zuhören können, aber sein Handy, es prangte 'Vater', unterbrach ihn. Mein Hirn ratterte, Holgers Unterhaltung war ich nach der Begrüßung seines Vaters nicht gefolgt. Der mich sonst immer begleitende Verstand, die Berechnung wenn ich mir sonst Spaß gönnte, wurde vom guten Gefühl des Bauches beiseite geschoben. So sehr ich auch brannte, ich wollte das Gefühl erobert zu werden, genießen.
Gedanklich spürte ich seine zärtlichen Hände, wie sie meinen Körper liebkosten, mich an den Rand des Wahnsinns bringen. „Mein Vater bittet uns heute zum zwanglosen Abendessen.“ Holger riss mich aus meiner versonnenen Wunschvorstellung, sein Gesicht war vereist. Die Einladung widerstrebte auch ihm. Jetzt streichelte er mich tatsächlich, gab mir einen Kuss und säuselte: „Wir sollten das Beste daraus machen. Vielleicht überlegst du dir es ja nach dem Abend noch einmal.“
Ich lehnte meinen Rücken an seine Brust, schmiegte mich an ihn. Seine Hände wanderten sanft auf meinen Bauch, schlossen mich ein und ein zärtliches Knabbern an meinem Ohr brachten mir sofort dieses kribbelnde Wohlgefühl. Genießerisch schnurrte ich wie ein Kätzchen. Als seine Zunge mit meinem Ohrläppchen spielte, stöhnte ich auf. Remmidemmi in meinem Kopf und ein leises: „Ich liebe dich!“, gaben mir den Rest.
Erst Minuten später kam ich wieder zu mir. Die Seele baumelte, ich hatte mich fallen lassen und er hat mich aufgefangen. Obwohl die Schmetterlinge wie in einem geschlossenen Glas flatterten, seine starke Arme hielten mich einfach nur fest, habe ich mich noch nie zuvor so geborgen gefühlt. Kein noch so guter Sex hatte mich bislang annähernd so befriedigt wie diese einfach nur um mich gelegten Arme, weiter mochte ich gar nicht mehr denken. Einfach nur genießen.
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Danke an den Autor«
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ein paar Sprünge aber sonst eine netten Geschichte«
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ich mag Starke Persönlichkeiten.
Danke für diese hervorragende Geschichte.«
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