Ein traumhafter Flug
von Susi M Paul
„Endlich einmal habe ich Glück beim Fliegen“, dachte sich Karl. Die Stewardessen hatten die Passagiere schon durchgezählt, es konnte also nicht mehr lange dauern, bis die Tür geschlossen wurde. Vorsichtig schaute er sich um. Der Fensterplatz neben ihm war tatsächlich der einzige leere Platz in den Reihen um ihn herum. „Hab ich mir aber auch verdient!“, seufzte er.
Auf dem Hinflug hatte es ihn nämlich mehr als hart getroffen. Ein Fast-Food-Friedhof hatte sich da neben ihm in den Sitz gepresst. Der Typ hatte mindestens drei Zentner auf die Waage gebracht. Zwölf Stunden lang, von München bis Los Angeles, hatte er ihn gnadenlos gegen die Flugzeugwand gedrückt. Keine Chance, mit seinen eins achtzig und 85 Kilos dagegenzuhalten.
„Ach du Scheiße!“, fluchte er auf einmal leise vor sich hin. Vorne an der Tür tat sich noch etwas. Hektik und Diskussionen kamen auf. Ein Nachzügler, typisch. „Bestimmt so ein Idiot, der einen auf cool macht, nichts auf die Reihe kriegt, immer zu spät kommt, aber ausgerechnet mir dann die Beinfreiheit wegnimmt!“
Sekunden später wäre Karl allerdings mit Sicherheit aus den Latschen gekippt, wenn er sich nicht schon angeschnallt gehabt hätte. Der mutmaßliche Idiot entpuppte sich nämlich als absolute Traumfrau. Auf den Titelseiten von allen Illustrierten, ob für Frauen oder für Männer, in Haute Couture oder leicht bekleidet, hätte sie eine tolle Figur gemacht. Und das beste: Das Superweib, die femme fatale, la donna più bella und sexy von Welt kam direkt auf ihn zu. Auf ihn, Karl, den Möbelschreinermeister aus Günzburg.
Er scannte sie von unten nach oben ab und konnte sich gerade noch beherrschen, vor Bewunderung mit der Zunge zu schnalzen: halbhohe Absätze, dunkle Netzstrümpfe, das kleine Schwarze endete genau einen Zentimeter unter der Unzüchtigkeitslinie. Dazu eine graue, eng geschnittene Bluse, die deutlich zu erkennen gab, dass sie darunter nichts trug, eine dezente Perlenkette und das netteste Lächeln in einem dunkelblond umrahmten Gesicht, das er jemals gesehen hatte.
„Rücken Sie rein oder darf ich ans Fenster?“, gab der Engel von sich, als er vor ihm stand, ganz offenbar mit dem unverbrüchlichen Willen, sich ausgerechnet neben ihn zu setzen.
„Was immer Sie von mir wollen. Reinrutschen ist gut, aber Sie dürfen auch über mich drüber“, stammelte er zurück.
„Dann lieber Fenster. Ich kann Ihnen sagen: Zuerst der Stau und dann die Sicherheitskontrolle!“, fing sie an, sich zu entschuldigen, während er wohlerzogen ihr Rollköfferchen nach oben wuchtete. Die Aktentasche verstaute sie vor ihren Füßen, die Handtasche mit einem heraushängenden BH kam vorläufig auf Karls Sitz zu liegen. „Da, sehen Sie, in der Hektik bin ich nicht einmal mehr dazu gekommen, ihn mir wieder anzuziehen.“
Ihr künftiger Sitznachbar verdrückte sich gerade noch die Bemerkung, dass ihn dies ganz und gar nicht störe, dass es ihm im Gegenteil ein besonderes Vergnügen sei, ihre ungeschützten und sicher wunderschönen Busen neben sich zu wissen.
„Eine geschlagene Viertelstunde haben sie gesucht, warum der blöde Rahmen piepst, wenn ich durchgehe“, erzählte die BH-lose Schöne fast indigniert. „Bis jemand auf die Idee gekommen ist, das Ding da ohne mich durch den Apparat zu schieben. Da seien irgendwelche Metallverstärkungen drin, haben sie gesagt. Deswegen hat’s gepiepst. Sei’s drum, ich hab’s ja gerade noch geschafft.“
Mit einer unauffälligen Handbewegung wischte sich Karl den Sabber von seinem offen stehenden Mund, reichte ihr die Handtasche, setzte sich und schnallte sich wieder an. Selbstverständlich bot er dem Märchenwesen dann seine Hilfe an, doch die kannte sich mit den Gurten aus, machte es allein und erklärte mit ihrer perfekt zu einem weiblichen Engel passenden Stimme, warum sie sich so gut damit auskannte.
„Bis vor einem halben Jahr bin ich jede erste Woche im Monat am Mittwoch nach New York geflogen und am Donnerstag wieder zurück. Wegen einer meistens unendlich langweiligen Sitzung. Inzwischen machen wir das mit Videoschaltungen, aber ab und zu ist es eben schon gut, wenn wir uns persönlich treffen.“
Karl war tief beeindruckt von ihrer Wichtigkeit und teilte ihr dies auch sofort mit.
„Von wegen wichtig! Wenn ich das wäre, würde ich Business Class fliegen. Aber für unsereine aus der Devisenabteilung gibt’s leider nur Billigflüge und Holzklasse. Michi heiße ich übrigens. Und wenn wir schon acht Stunden gemeinsam zubringen werden, dann sollten wir das vielleicht per Du tun.“
Karl fand das gut und begann nun seinerseits, die Geschichte von seiner Reise von Kalifornien bis zur Ostküste zu erzählen. „Ein Kindheitstraum, den ich mir erst jetzt nach meiner Scheidung erfüllt habe. Meine Frau hat nie mitmachen wollen. Du kannst dir nicht vorstellen, was ich alles versucht habe, um sie umzustimmen. Aber mit ihr wäre es bestimmt nicht halb so gut geworden.“
In zwei Wochen viereinhalbtausend Kilometer im Leihwagen von Los Angeles nach New York. Jeden Kilometer davon, die Übernachtungen in den Motels, die Frühstücke mit den Truckfahrern, die unendlichen Weiten des Mittleren Westens, die Städte an den großen Seen, die letzte Woche in der Megatown am East River, die Wolkenkratzer, die Museen, alles das habe er genossen wie noch selten etwas in seinem Leben. „Freiheit pur“, fasste er seinen Trip zusammen, als das Flugzeug schon hoch in der Luft war.
Kaum signalisierte ein lautes Pling das Ende der Anschnallpflicht, rumpelte Michi auf, hechtete mit einem „Tschuldigung, ich will’s mir etwas bequemer machen“ über Karl hinweg, zog mit einer eingeübten Bewegung ein turnbeutelähnliches Säckchen aus ihrem Koffer und verschwand Richtung Toiletten. Zehn Minuten später stand seine gerade noch Traumfrau völlig verwandelt im legeren Wohnzimmerlook vor ihm. Doch nach einer kurzen Musterung bestand sie die Prüfung: „Immer noch klasse“, murmelte er halblaut vor sich hin angesichts von einem langen und weiten, hellblauen Sweatshirt und dazu passenden, weichen, hautengen und überaus anschmiegsamen Leggins, die kein Detail von den darunterliegenden Konturen verbargen.
„Was ist Klasse? Hab’ leider grad nicht zugehört“, erwiderte sie, während sie diesmal etwas umständlich über Karl drüberstieg.
Wenn sie gefragt hätte, wäre er natürlich aufgestanden, damit sie ganz normal und ohne diese Gymnastikeinlage auf ihren Platz gekommen wäre. Sie hatte aber nicht gefragt. Im Stillen hoffte er deshalb, dass sie die Kletterei auf sich nahm, weil ihr der Körperkontakt mit ihm zumindest nicht unangenehm war. Ihm gefiel es jedenfalls so sehr, dass er ihr bei dem Manöver gerne behilflich war, wo er nur konnte. Auf diese Weise stellte er auch aus nächster Nähe fest, dass der in jeder Hinsicht störende BH endgültig außer Dienst gestellt worden war.
„Klasse Idee, das mit der leichten Flugzeugkleidung, habe ich gesagt“, improvisierte er, während er eines ihrer göttlichen Beine von seinem Knie hob. „Na ja, und auch, dass du klasse darin aussiehst, viel besser als ich in meiner schlabbrigen und verwaschenen Trainingshose.“
„Danke für die Blumen, aber ganz schiach bist du ja auch nicht. Die Scheidung hat dir wohl gut getan. Mir hat sie das auf jeden Fall. Vom Aussehen her kann ich’s bei mir selbst natürlich nicht wirklich objektiv beurteilen, vom Wohlfühlen her schon. Sechs Monate ist es jetzt her. Nach langen zehn Jahren, wobei der Schlussstrich aber mindestens schon fünf Jahre überfällig war. Das kennst du vielleicht. Solange ihr euch keine Teller an den Kopf schmeißt und du einigermaßen regelmäßig deine Sexportionen abbekommst, redest du dir vor lauter Bequemlichkeit und Lethargie ein, dass doch immer noch alles gut ist.“
Damit hatten sie ihr Thema für die nächste knappe Stunde gefunden. Wie im Flug verging die Zeit bei den teils bissigen, teils nostalgischen Erzählungen über die jeweiligen Ex-Partner. Sogar die eine oder andere Indiskretion aus ihren ehemaligen Schlafzimmern flochten sie ein, um dem Gespräch eine pikante Note zu geben. Karl hatte ganz nebenbei fallen lassen, wie zunehmend spröde seine Julia geworden sei, wenn er vorgeschlagen hatte, doch mal etwas Abwechslung zwischen die Kissen zu bringen. Michi hatte daraufhin kichernd gestanden, dass es ihr Hans am liebsten immer nach der bewährten Methode gemacht habe, der nämlich, bei der er sich am wenigsten bewegen musste.
Genauer beschreiben konnte sie diese konkrete Stellung sowie ihre eigenen Vorstellungen von einem kreativeren zwischengeschlechtlichen Austausch von Körperflüssigkeiten jedoch nicht, denn plötzlich stand der Essenswagen neben Karl. Mutterseelenallein, weil die Stewardess nach hinten in die Küche verschwunden war. Sie hatte allerdings die Weinschublade offen gelassen.
„Für mich einen weißen“, flüsterte Michi ihm ins Ohr, noch bevor er sich entschieden hatte, ob er es wagen sollte. Und wie ein Honigkuchenpferd strahlte sie, als der Raubzug gelungen war und sie mit den winzigen Fläschchen anstießen. Einen zweiter Wein bekamen sie zum Essen, und hinterher schafften sie es sogar, der Stewardess zum Abschluss noch je einen Gin abzuluchsen. Für ihren Redefluss war das allerdings Gift, denn e
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