Endlich eine waschechte Nymphomanin
von GhostWriter
»Wenn Sie bitte noch einen Moment in der Kabine warten würden, ich komme in zwei Minuten.« Die junge Arzthelferin deutete auf zwei nebeneinanderliegende Kabinen, gleich neben dem Tresen, die mit einem schweren grünen Vorhang aus blickdichtem Stoff verhangen waren. Beide Vorhänge waren zur Hälfte zurückgezogen. Man konnte sehen, dass die Kabinen leer waren. Eine weitere Arzthelferin wuselte um Manuel Schäfer herum, der mit hängenden Schultern in die ihm zugewiesene Kabine schlurfte. Er fühlte sich elend. Die Aussicht auf die Tetanus Spritze verbesserte nicht gerade seinen Allgemeinzustand. Die Arzthelferin die seinen Weg gekreuzt hatte, kümmerte sich um eine ältere Dame, die zur Blutabnahme gekommen war. Das Labor befand sich direkt neben den Kabinen. Manuel schlüpfte hinter den Vorhang. Eine nüchtern eingerichtete, zwei mal zwei Meter große Kabine empfing ihn. Eine Liege dominierte die eine Hälfte. Das Papier, das von einer Endlosrolle am Kopfende abgewickelt, auf der gesamten Länge ausgebreitet war, war zwar zerknittert aber sauber. Trotzdem lehnte er sich nur mit dem Hintern an die Bank. Ein Stuhl an deren Fußende, sowie eine Apparatur deren Verwendungszweck Manuel nicht kannte, nahmen den restlichen freien Raum ein. Durch das Fenster, das mit einer Jalousie aus breiten Papierstreifen verhangen war, drang diffuses Licht in den kleinen Raum. Jemand war hinter ihm an den Vorhang getreten. Die Arzthelferin, die ihm die Kabine gewiesen hatte. Kommentarlos zog sie den schweren grünen Stoff zu, um sich mit quietschenden Sohlen wieder an ihren Computer hinter dem Tresen zu begeben.
Eine seltsame Beklemmung machte sich in Manuel breit. Der enge Raum suggerierte eine trügerische Privatsphäre. Nur ein paar Schatten drangen unter dem Vorhang, der nicht bis ganz auf den Boden reichte, zu ihm herein. Eine Weile war nur das Quietschen der Gummisohlen auf dem Linoleumboden zu vernehmen. Dann drang das Gemurmel der Arzthelferinnen gedämpft durch den dicken Stoff. Auch wenn die Kabine oben offen war, klangen sie, als wären sie viele Meter entfernt. Es war voll in der kleinen Hausarztpraxis. Manuel wappnete sich für einen längeren Aufenthalt. Sicher waren die angekündigten zwei Minuten nur eine rhetorische Floskel. Ein Windhauch der den Vorhang bauschte, strich ihm kühl um die nackten Knöchel. Er bestätigte seine Befürchtung. Ein neuer Patient würde die Arzthelferin hinter ihrem Tresen jeden Moment in Beschlag nehmen. Vielleicht sogar soweit ablenken, dass sie den Insassen in der engen Kabine wieder vergessen würde. Manuel konnte nur hoffen, dass sich irgendwann jemand an ihn erinnern würde.
Zielstrebige, drängende Schritte näherten sich der Anmeldung. Ein kurzes helles Klopfen untermalte sie. Absätze kamen Manuel in den Sinn. Sehr hohe, sehr dünne Absätze. Etwas plumpste nachlässig auf den Boden. Vielleicht eine Tasche. Mit leiser Stimme wurde ein Name genannt. Die anderen Stimmen waren trotz des Vorhangs besser zu verstehen. Die Stimme musste sehr zaghaft sprechen. Trotz des energischen Auftretens, das die Schrittfolge suggeriert hatte. Er hatte den Namen nicht verstanden, die Stimme gehörte aber zweifellos einer Frau. Ein zierliches Geschöpf tauchte vor Manuels geistigem Auge auf. Klein, schmal, mit tief zwischen die Schultern gezogenem Kopf. Verängstigt und Verunsichert. Vielleicht mit Schmerzen, die ihr deutlich im Gesicht abzulesen waren.
»Haben Sie einen Termin?« Die Stimme der Arzthelferin drang dumpf durch den Vorhang, aber sie war verständlich. Der unterschwellige Vorwurf, dass sie genau wusste, dass die angekommene Patientin keinen Termin haben würde, schwang in ihr mit. Offenbar gab die Patientin entweder keine Antwort, oder schüttelte nur den Kopf. Die entstehende Pause unterbrach die Arzthelferin selbst. »Es tut mir leid, Frau Berger, aber wir sind randvoll ausgebucht. Wenn es etwas sehr dringendes ist, müssen sie warten, bis ich sie dazwischenschieben kann.«
Manuel Schäfer vernahm nur ein unartikuliertes Nuscheln. Kurze, abgehackte Sätze, die eine gewisse Dringlichkeit transportierten, drangen durch den Vorhang. Er verstand keine einzige Silbe. Aber die Art und Weise wie die Patientin mit der Arzthelferin sprach, suggerierte eine sehr delikate Angelegenheit. Seine perfide Neugier war geweckt, als die Arzthelferin ein schockiertes »Oh mein Gott« raunte. Manuel sah sie geradezu bildhaft die Hand vor den Mund schlagen und die Patientin mit großen Augen anstarren. Warum regte sich plötzlich sein Schwanz in seiner Hose? Was für ein perverser Spanner bekam einen Steifen in einer Arztpraxis, nur weil eine Patientin einen Arzt brauchte und sich nicht traute, ihre Gründe laut und deutlich zu artikulieren?
»Warten Sie einen Moment, ich sehe nach ob sich der Doktor das schnell ansehen kann.« Vor Manuels geistigem Auge sah er die Arzthelferin auf den zweiten Vorhang, neben seiner Kabine deuten. Wie zur Bestätigung folgte die Aufforderung auf dem Fuß. »Wenn sie einen Moment in der Kabine warten wollen? Ich frage ihn sofort.«
Die klopfenden Schritte näherten sich seiner Nachbarkabine. Der schwere Vorhang wurde hinter der Patientin zugezogen. Ein leises Seufzen drang über die dünne Trennwand zu ihm herüber, kaum dass die Patientin sich in derselben, trügerischen Abgeschlossenheit ihrer Kabine alleine glaubte. Ihr Schatten breitete sich unter dem etwa fünf Zentimeter hohen Spalt zwischen der Wand und dem hellbraunen Linoleumboden aus. Das Licht, das bis eben noch hell auf dem Boden gespiegelt hatte, verschwand einen Moment lang. Es folgte ein Murmeln, das Manuel nicht verstand. Obwohl er jeden Moment damit rechnete, dass sein eigener Vorhang auf die Seite gezogen wurde, waren seine Ohren zur Gänze in der Nachbarkabine. Aber außer einem weiteren, resigniert klingenden Seufzer, mit der die Patientin ihren Unmut über die Umstände kundtat, blieb es ruhig nebenan. Kein Umhergehen, kein Rascheln, keine sonstigen Geräusche. Nur der Trubel hinter den Vorhängen dominierte die Geräuschkulisse.
Mit festen Schritten näherte sich jemand den Kabinen. „Die Spritze“ durchzuckte Manuel ein Gedanke, der ihn wieder in die Realität zurückholte. Schon sah er den Vorhang zur Seite geschoben, eine Schwester mit Haube auf dem Kopf und Mundschutz ihn aus großen, lüsternen Augen anstarren. Die Hand mit einer riesigen Spritze erhoben, von dessen Spitze ein kleiner, durchsichtiger Tropfen Flüssigkeit, die lange, matt schimmernde Nadel entlanglief.
»Die zwei«, sagte die Arzthelferin kurz und eindringlich. Manuel zuckte automatisch zusammen, als er den beiseitegeschobenen Vorhang vernahm. Tiefe Erleichterung durchströmte ihn, als er die Schrecksekunde überwunden und festgestellt hatte, dass jemand nebenan die Kabine betreten hatte. Sein eigener Vorhang hing schwer und träge herunter. Er schien ihn zu verspotten in seiner stoischen Ruhe, mit der er vor sich hin baumelte.
»Was tust du hier, verdammt?«
Die Stimme gehörte seinem Hausarzt. Dem Mann der die Praxis führte, in der sie sich befanden. Paul Kaber. Irgendwo zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt. Halbglatze, Stiernacken, massige Gestalt. Vor seinem geistigen Auge sah er den Arzt, den er seit dreißig Jahren kannte, der schon sein Hausarzt wurde, gleich nachdem Manuel aus der Säuglings Station des Krankenhauses entlassen worden war. Offenbar war er über die Anwesenheit der Dame nicht sonderlich erfreut. Die sonst ausgeglichene, beinahe gelangweilt wirkende Art, die der Arzt sonst ausstrahlte, passte nicht zu dem Zischen, das mühsam unterdrückte Wut transportierte.
»Bist du von allen guten Geistern verlassen? Du kannst doch hier nicht einfach rein spazieren.«
»Bitte, ich halte es nicht länger aus.« Die Stimme der Frau war ein Flehen, als hinge ihr Leben an der sofortigen Initiative des Doktors.
»Wir haben darüber gesprochen. Es geht hier nicht mehr.« Paul Kabers Stimme kippte. Das mühsame Flüstern hatte sich zu einem lauten Zischen gesteigert. Es folgte eine Pause in der er zu lauschen schien, ob jemand seinen Ausbruch gehört hatte. Als sich nichts besonderes ereignete, der Trubel hinter den Vorhängen ungehindert seinen Lauf nahm, weder die gesamte Praxis verstummte, noch jemand den Vorhang beiseiteschob um nach dem Rechten zu sehen, setzte er deutlich leiser hinzu:
»Wir haben unser Glück hier schon deutlich überstrapaziert. Du musst es bis heute Abend aushalten. Irgendwie. Hast du gehört?«
Manuel Schäfer stellte das Atmen ein, um nicht von seinen eigenen Geräuschen abgelenkt zu sein. Alles was hinter den Vorhängen passierte, hatte er vollständig ausgeblendet. Sein Gehirn filterte nur noch das, was seine Ohren über die dünne Trennwand aus der Nachbarkabine aufschnappten. Den letzten Satz hatte außer der Dame und ihm niemand sonst verstehen können. Aber wie lange würde das so bleiben?
Auch Dr. Kaber schien sich diese Frage zu stellen. Die Tatsache, dass ihn diese Frau hier aufsuchte, schien ihn schwer aus dem Gleichgewicht zu bringen.
»Du musst gehen. Sofort. Und komm nicht wieder hier her, hast du gehört?«
»Bitte Paul. Schick mich nicht einfach so weg. Ich brauche dich. Ich will dich.« Ein Rascheln drang über die Trennwand herüber. Die Absätze gaben zwei kurze Klopfer ab. Als wäre die Dame einen Schritt nach vorne gegangen. Gerangel entstand in der Nachbarkabine. Jemand stieß gegen die Trennwand und brachte das dünne Plastik, das mit drei Winkeleisen an den Boden und drei weiteren an die Wand geschraubt war, zum Vibrieren.
»Hör auf.« Die Stimme von Paul Kaber war wieder zu dem wütenden Zischen geworden. Sie schnitt wie ein Messer durch die stehende Luft. Das Gerangel ebbte trotzdem nicht ab. Stoff raschelte. Etwas metallisches stieß gegen die Trennwand. Unwillkürlich duckte Manuel sich, als würde die Gefahr von oben auf ihn herabfallen. Während er sich nach vorne beugte sah er einen Schatten sich der Wand nähern. Einen winzigen Augenblick wurde er durch die Spitze eines High-Heels ersetzt, der bis an die Kante der Trennwand heranreichte. Dann wurde das Bein wieder zurückgezogen. Diffuser Schatten waberte wieder hinter der Wand umher.
In Manuel Schäfers Gehirn aber, hatte sich das glänzend schwarze Leder wie ein Lichtblitz eingebrannt, der ihm vor den Augen zu tanzen schien. Als wäre der Schuh noch immer dort, sah er ihn vor seinem geistigen Auge. Die leicht abgerundete Spitze in der sich das Licht reflektiert hatte. Glänzend schwarz poliert. Die rote Sohle vom Abrollen keck ein wenig hochgebogen, die Ansätze ihrer Zehen, die so in das enge Leder gezwängt schienen, dass die Haut sich ein wenig gestaucht hatte.
Ein Flüstern, kaum mehr zu verstehen. »Gib mir deinen Schwanz.«
»Maja, ich bitte dich. Hör auf damit. Ich gehe jetzt wieder. Ich habe die Praxis voll.« Das Zischen als Antwort. »Und du verschwindest jetzt auch. Du bringst mich in Teufels Küche.«
Das Flüstern, fast noch leiser als eben. »Fick Mich. Jetzt und hier.«
Ein Schmatzen. Leise und irgendwie unvollständig. Wieder das Rascheln von Stoff.
»Verdammt, Maja.« Das Zischen jetzt so laut, dass es fast als Ausruf durchgehen konnte. Wieder Stille. Das Lauschen auf die Geräusche draußen. Jemand klapperte auf einer Computertastatur. Eine Arzthelferin sprach in ein Telefon. Im Labor nebenan geschäftiges Rumoren. Die ältere Dame, die zur Blutabnahme gekommen war, erzählte von ihrem Garten und den Paprika, die dieses Jahr so gar nicht wachsen wollten. Außerhalb der Blase in der sich die Kabinen zu befinden schienen, lief alles normal weiter. Scheinbar. Irgendwann würde jemand den Doktor vermissen. Ihn rufen. In die Kabine schauen. Das wusste auch Dr. Kaber. Vermutlich auch seine ungebetene Besucherin. Eine Entscheidung musste her. Sie zu ficken, so wie sie es sich wünschte, wäre sicher keine der möglichen Optionen.
Hier drüben, wollte Manuel rufen. Wenn der sexuelle Notstand nebenan so dramatisch war, dann wollte er gerne bereit sein einzuspringen. Der Doktor schien die Behandlung jedenfalls nicht fortführen zu wollen.
»Geh jetzt. Bitte Maja. Wir sehen uns später. Seit wann bist du so indiskret. Es hat doch die letzten Monate so gut geklappt mit uns. Du ruinierst alles, wenn du hier einfach so auftauchst.« Seine Stimme hatte einen flehenden, beinahe weinerlichen Unterton angenommen. Offenbar versuchte er an ihr Gewissen zu appellieren, nachdem der strenge Ton keinen Erfolg gebracht hatte. Maja gab keine Antwort. Einige kaum auszuhaltende Sekunden war es vollkommen still nebenan. Niemand dort schien sich zu bewegen. Scheinbar nicht mal zu atmen. Es war als wäre die Nachbarkabine überhaupt nicht mehr da. Dann bewegten sich die Schatten lautlos. Sie wankten hin und her. Wieder drang das Schmatzen zu Manuel herüber. Diesmal klang es ausgefüllt. Vollständig. Nebenan trafen sich zwei Lippenpaare. Atemloses Keuchen beendete das feuchte Geräusch. Dann nochmal die Kurzversion. Ein schneller Kuss. Die Schatten bewegten sich. Vielleicht drückte der Doktor seine Besucherin an den Schultern von sich weg. Ob sie es sich diesmal kommentarlos gefallen lassen würde? Die Geräusche deuteten darauf hin.
»Soll ich dir etwas mitgeben?« Die Stimme von Dr. Kaber klang jetzt gefasst. Fast professionell. Als wäre er wieder zum Doktor geworden, nachdem er die Phase des Liebhabers, oder Sugar Daddys oder was für eine Rolle er für Maja auch spielen mochte, abgeschlossen hatte. Haare raschelten auf Stoff. Offenbar schüttelte Maja den Kopf. »Bist du sicher?« Das Rascheln erklang erneut.
»Du gehst nicht raus und schnappst dir den erstbesten Kerl der dir über den Weg läuft. Versprich es mir.« Rascheln. »Du schaffst es zu warten bis heute Abend.« Rascheln. »Ich komme sobald ich hier fertig bin.« Rascheln. »In ein paar Minuten wird es wieder besser werden. Du musst diese Phasen aushalten.« Stille. Dann eine leise, zitternde Antwort.
»Du hast keine Ahnung wie das ist...« In die erneute Stille schrillte das Telefon. Die Arzthelferin meldete sich überlaut. Als wolle sie dem Doktor hinter dem Vorhang klarmachen, wo er sich befand und wie es in seiner Praxis zuging. Manuel hatte jedes Zeitgefühl verloren aber er glaubte, dass keine zwei Minuten vergangen waren, auch wenn sie sich wie zwanzig anfühlten. In die Kakophonie der Stimmen und Geräusche die hinter dem dicken grünen Stoff waberten, brannte sich ein Satz in sein Gehirn, der direkt durch die Plastikwand in seine Ohrmuschel zu dringen schien. Auf einer Wellenlänge die nur seine Ohren aufnehmen konnten: »…du bist nicht die Nymphomanin von uns beiden.«
Das Klackern der Absätze, das Rascheln des Vorhangs, das Schnaufen des Doktors nebenan, all diese Geräusche waren längst verklungen, da hielt Manuel Schäfer noch immer die Luft an. Als sich der Vorhang ruckartig zur Seite schob, erschrak er so heftig, dass die angestaute Luft mit einem lauten Schrei aus seinen Lungen fuhr. Die Arzthelferin, die mit einer in eine Vakuumhülle verpackten Spritze und einem kleinen Fläschchen, auf dem sich ein silberner Deckel befand, in die Kabine trat, erschrak bei dem Schrei nicht minder heftig. Sie zuckte zurück und hätte beinahe den Impfstoff fallen lassen. Mit riesigen Augen starrte sie Manuel an. In dessen Wangen schoss in sekundenbruchteilen so viel Blut, dass er eigentlich hätte ohnmächtig werden müssen. Andererseits befand sich zwischen seinen Beinen so viel angestautes Blut, dass genügend von dort abgezweigt werden konnte. Abwehrend hob er die Hände zu einer hilflosen Geste. Er murmelte ein unartikuliertes ‚Entschuldigung‘, wobei er sich sicher war, dass alles was er die letzten Minuten hier drinnen aufgeschnappt hatte, wie ein offenes Buch in seinem Gesicht abzulesen war.
Wenn die Arzthelferin auch nur ansatzweiße etwas von dem mitbekommen hatte, was nebenan vorgefallen war, dann wusste sie nun ohne Zweifel Bescheid, dass auch ihm die kleine Szene nicht verborgen geblieben war. Sollte dem so sein, ließ sie es sich jedoch nicht anmerken. Mit einem schmalen Lächeln, tat sie ihren Eintritt in die Kabine ab.
Wie in Trance ließ Manuel Schäfer die Prozedur über sich ergehen. In seinem Hintern steckten eine Million Ameisen. Er wollte raus aus der Praxis. Hinter dieser Maja her. Was er sich davon versprach wusste er nicht. Im Moment war es wohl vornehmlich Neugier, wie die Frau zu der Stimme aussah, die er eben noch belauscht hatte. Nein, eigentlich wollte er die Nymphomanin sehen, die eben den Doktor angefleht hatte, gefickt zu werden. Scheiß auf die Stimme. Die Arzthelferin schien sich anzustellen, als ob sie die erste Tetanusspritze ihrer Laufbahn setzte. Manuel zappelte herum als stände er auf glühenden Kohlen. Was die Prozedur nicht gerade vereinfachte. Spritze setzen, Abtupfen, Hose anziehen, Impfausweis stempeln. Alles schien wie Gummi gedehnt in die Länge gezogen. Die Zeit rann ihm wie feiner Sand zwischen den Fingern hindurch. Bis er endlich draußen vor der Praxis angelangen würde, wäre Maja sicher über alle Berge. Kaum anzunehmen, dass sie vor der Praxis herumstehen würde. Worauf sollte sie auch warten? Auf ihn?
‚Ja!‘ schrie eine Stimme in seinem Kopf. Wie sollte er sie ausfindig machen, wenn sie fortgegangen wäre? In welche Richtung sollte er suchen? Wie sollte er sie erkennen? Er hatte nur die Schuhe als Anhaltspunkt.
Gefühlt eine Stunde nachdem diese Maja die Praxis verlassen hatte, trat er durch die Eingangstür. Gleißendes Sonnenlicht empfing ihn. Die Hitze vor der Tür traf ihn wie ein Keulenschlag. Fast wäre er zurückgetaumelt. Erst hier draußen in der drückend schwülen Augusthitze wurde ihm bewusst, dass die Praxis seines Hausarztes klimatisiert gewesen war. Schon nach wenigen Sekunden brach ihm aus allen Poren der Schweiß aus.
Er befand sich am Ende einer kurzen, etwa fünfzig Meter langen Galerie. Rechter Hand befand sie ein großer Platz, eine Art riesiger Innenhof, der als Parkplatz fungierte. Manuel hetzte in diese Richtung. Es waren nur wenige Schritte. Seine Augen huschten ziellos über die bunten Blechdächer der geparkten Autos. Einige Frauen waren zwischen den Autos unterwegs. Von keiner konnte er die Schuhe entdecken. Er trat planlos ein paar Schritte vom Gehsteig herunter. Dort hinten war eine Frau mit Einkaufstüten in der Hand. Negativ. Gleich in seiner Nähe eine Frau die einen Kinderwagen vor sich her schob. Negativ. Eine Frau mit einem kleinen Jungen an der Hand. Negativ. Eine an der Seite eines älteren Herren. Er sah sie nur von hinten, konnte ihr Alter nicht abschätzen. Negativ, entschied er. Gerade als er sich auf den Weg in die andere Richtung aufmachen wollte, erinnerte er sich an das plumpsende Geräusch, mit dem Maja an den Tresen der Arztpraxis getreten war. Konnte das Geräusch von einer Einkaufstasche gestammt haben?
Er ruckte herum. Streckte den Hals nach der Frau mit den Tüten. Sie war verschwunden. Weiter hinten war die Heckklappe eines Autos aufgegangen. Ob Maja die Frau mit den Tüten war und gerade ihr Auto belud? Unwahrscheinlich. Sie hätte die Tüten auch erst ins Auto bringen und dann in die Praxis gehen können. Der Umweg wäre unerheblich gewesen. Zumal sie in der Verzweiflung in der sie war, keinen Einkaufsbummel gemacht hätte. Aber was wusste er schon über ihren Zustand. Alles pure Spekulation. Trotzdem entschied er sich die Frau mit den Tüten zu vergessen.
Er wandte sich in die andere Richtung. Kam erneut an der Eingangstür zur Praxis vorbei. Die Galerie endete auf der anderen Seite in der Fußgängerzone. Aussichtslos Maja dort zu finden. Er hetzte an den Schaufenstern vorbei. Eine Apotheke. Zwei Frauen darin. Sein Blick war nur auf die Beine gerichtet. Weiße Sneakers, blaue Halbschuhe. Negativ. Ein Damenbekleidungsgeschäft. Leer. Eine Postfiliale. Er riss die Tür auf. Eine Dame in.…seine Augen ruckten nach oben. Eine Oma. Der Rollator an der Seite gehörte ihr. Er stürmte wieder nach draußen. Seine Handlung hatte etwas Panisches. Wie ein Ertrinkender, der mit letzter Kraft auf einen vorbeitreibenden Baumstamm zu schwamm. Dabei wusste er nicht mal was sein Ziel war. Selbst wenn er Maja finden würde, was wollte er dann tun?
Eins nach dem anderen. Erstmal wollte er eine leibhaftige Nymphomanin in Natura sehen. Keine, von der andere Männer am Stammtisch berichteten. Mit den verrücktesten Geschichten dazu. Nein, eine die sich selbst als solche bezeichnet hatte. Ob ihr das im Gesicht abzulesen sein würde? Wenn, dann würde es ihm sicher die Suche erleichtern. Er musste unweigerlich Schmunzeln. Seine hektischen Aktionen hatten etwas von einem pubertierenden Spanner. Er wusste selbst nicht so recht, was plötzlich mit ihm los war. Er war knapp vierzig Jahre alt. Der letzte Sex lag keine 12 Stunden zurück. Gestern Abend mit seiner Frau. Der nächste Sex würde in weniger als acht Stunden stattfinden. Heute Abend mit seiner Frau. Und trotzdem hetzte er durch die Galerie, auf der Suche nach einer geheimnisvollen Unbekannten, als wäre er jahrelang auf einer einsamen Insel verbannt gewesen.
Am Rande seines Gesichtsfeldes tauchte etwas auf, das in Bruchteilen einer Sekunde seine volle Aufmerksamkeit auf sich zog. Er stoppte als wäre er gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen. Ein Jugendlicher auf einem Skateboard, der – natürlich – verbotenerweise auf dem Board und in halsbrecherischem Tempo durch die Galerie jagte, konnte gerade noch ausweichen. Sein lautstarker Protest und seine wüsten Beschimpfungen prallten unbemerkt an Manuel ab. An dem Straßencafé direkt am Ende der Galerie, saß eine einzelne Frau alleine an einem der kleinen, runden Glastische. Gerade stellte eine Bedienung einen Eiskaffee vor ihr ab. Sie saß zurückgelehnt in dem hellen, schmalen Stuhl aus Korbflechten. Ein schwarzer, glänzender Schuh mit hohen, dünnen Absätzen an einer schlanken Fessel, wippte an einem übergeschlagenen Bein. Die rote Sohle zeigte wie ein Stopp-Schild direkt in seine Richtung. Neben ihr auf den staubigen Knochensteinen, ruhte eine schwarze Segeltuchtasche. Die weiten Henkel, die das Tragen der Tasche auf den Schultern erlaubten, lagen achtlos im Staub. Sie wirkte jung und drahtig. Ihr Gesicht war hinter einer riesigen, tiefschwarzen Sonnenbrille verdeckt. Ihre Haare, so schwarz wie scheinbar alles an ihr, schienen das Sonnenlicht zu verschlucken. Die dichten Locken waren am Hinterkopf zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst. Der kurze schwarze Stretch Rock gab den Blick auf lange, sportliche Beine preis. Das dünne Top lag eng um ihren Oberkörper. Auch dieses war so schwarz wie eine mondlose Winternacht.
Manuel merkte erst als es schon zu spät war, dass er sie angestarrt hatte. Sie griff an den Bügel ihrer Sonnenbrille und hob sie von ihrer Nase. Aus zwei strahlend blauen Augen, die ihn unwillkürlich an einen Husky erinnerten, schaute sie ihn über die Nasenspitze an. Sie musste sein abruptes Stoppen bemerkt haben. Außerdem hatte er nachdem er stehen geblieben war, keinen Moment mehr woanders hingeschaut, als direkt auf sie. Es musste ihm im Gesicht abzulesen sein, dass er in ihr jemanden erkannt hatte. Wen, diese Frage schickte sie mit einer fragenden Miene stumm in seine Richtung. Manuel spürte sein Herz in seiner Brust pochen. Es dröhnte in seinen Ohren. Weil er den Blick immer noch nicht abgewandt hatte, kräuselte sich der fragende Ausdruck um ihre Nase noch ein wenig deutlicher.
Umdrehen und weggehen, schrie eine Stimme in Manuels Kopf. Seine Beine gehorchten nicht. Wie in Trance trat er einen Schritt nach dem anderen an den kleinen Tisch. Sein Puls raste. Was zur Hölle hatte er sich bei dieser Nummer gedacht? Was sollte er jetzt sagen? Hoch neben ihr aufragend, musste er einschüchternder wirken als er beabsichtigt hatte. Sein Mund war so trocken, dass er glaubte ihn nie wieder öffnen zu können. Wie ein dummer Schuljunge stand er vor ihr, unfähig auch nur ein Wort über seine Lippen zu bringen. Ihre Miene wurde immer ängstlicher und unsicherer. Als er sah wie sie sich Hilfe suchend mit einer schnellen Bewegung über die Schultern umblickte, hob er besänftigend die Hände. Die Geste hatte etwas so hilfloses, dass er beinahe über sich selbst lachen musste. Wäre die Situation nicht so bodenlos peinlich gewesen. Aber die kleine Regung in seinem Gesicht musste zumindest beruhigend auf sie gewirkt haben. Oder sie hatte mit ihrem schnellen Blick genügend kräftige Männer erkannt, die ihr im Notfall beistehen konnten. Manuel hatte keine Augen für ihr Umfeld. Seine Augen waren wie festgezurrt auf ihr Gesicht gebannt.
Was hast du geglaubt zu sehen? durchfuhr es ihn. Dass sie Nymphomanin auf die Stirn tätowiert hat?
»Kennen wir uns?« Ihre Stimme schreckte ihn auf. Sie holte ihn in die Wirklichkeit zurück. Die Wirklichkeit, das war ein mäßig gefülltes Straßencafé, mitten in der Karlsruher Innenstadt. An einem heißen Augusttag. Mit ihm als dümmlich dreinblickenden Mann, der vor einer Frau stand, die ihn sichtlich irritiert fixierte und gerne eine Antwort auf ihre Frage haben wollte. Ehe sie vermutlich die Geduld mit seinem peinlichen Starren verlor und ihn lautstark zur Rede stellen würde. Ob diese Peinlichkeit noch zu überbieten wäre?
»Ja.« Seine Stimme klang als käme sie von woanders als aus seinem eigenen Mund. »Ich meine, nein.« Manuel schüttelte den Kopf. Das letzte Mal da er sich so hilflos gefühlt hatte, war vor zwanzig Jahren gewesen, als er seine Frau in der Disco angesprochen hatte. Damals hatte er Erfolg gehabt. Ein Jahr später hatte er sie geheiratet. Der Gedanke machte ihm Mut.
»Wir haben uns eben bei Dr. Kaber gesehen.« Er trat einen Schritt zur Seite, um nicht wie ein Riese vor ihr aufzuragen.
»Genauer gesagt haben wir uns nicht gesehen, sondern ich sie nur gehört.«
Sein Herz drohte ihm jeden Moment aus der Brust zu springen. Er war sich sicher, dass sie das pulsierende Ding unter seinem Shirt sehen musste. Seine Ohren rauschten als stünde er unmittelbar neben den Niagara Fällen. Es arbeitete sichtlich in ihrem Gesicht. Manuel wusste nicht mal ob er vor der richtigen Frau stand. Fast schon rechnete er mit einem Kopfschütteln und einer abweisenden Handbewegung. Ich kenne keinen Dr. Kaber, hörte er sie sagen. Aber dann regte sich eine Erkenntnis in ihrem Gesicht, die ihm die Gewissheit gab, dass er vor genau der richtigen Frau stand. Sie musste in Gedanken die Stationen durchgegangen sein, die sie in Kabers Praxis durchlaufen hatte. Der kurze Halt am Tresen. Das Warten in der Kabine. Die Diskussion mit dem Doktor. Das Verlassen der Praxis. Es gab nur eine Station in der jemand zugehört haben konnte und dies von Belang sein würde. Manuel sah es förmlich hinter ihrer Stirn arbeiten.
»Ich war in der Kabine nebenan.« Es klang entschuldigend. Bemitleidenswert und unterwürfig. Dabei hatte er doch garnichts falsch gemacht. Er war nur dort gewesen. Dass er hatte mithören können, war nicht seine Schuld gewesen.
Dass du sie gesucht hast, ihr nachgelaufen bist und jetzt vor ihr stehst aber schon, hallte es durch seinen Kopf. Sie musste wohl zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen sein, denn sie fragte:
»Und was wollen sie von mir?« Ihre Stimme klang abweisend. Als fühlte sie sich von ihm in die Ecke gedrängt. Dich Ficken, schrie es in seinem Kopf. Er erschrak so sehr, dass er sich auf die Lippen beißen musste, um es nicht tatsächlich auszusprechen. Aber es stand ihm offenbar im Gesicht geschrieben. Sie zuckte die Schultern und ließ die Brille wieder auf die Nase rutschen.
»Schon klar«, meinte sie. »Wenn sie zugehört haben, erübrigt sich die Frage ja eigentlich.« Sie deutete auf den freien Stuhl ihr gegenüber. »Wollen Sie vorher noch einen Kaffee trinken?«
Manuel konnte nur mit offenem Mund und entgeisterter Miene zurück starren. Offenbar hatte sie die erste Überraschung überwunden, dass sie bei ihrem Gespräch mit Dr. Kaber belauscht worden war. Um ihre Mundwinkel spielte ein schüchternes Lächeln. Manuel glaubte gesehen zu haben, dass sie ihm zugezwinkert hatte, aber hinter der großen, tiefschwarzen Sonnenbrille konnte er ihre Augen nicht mehr erkennen.
Manuel schüttelte den Kopf. Er hob die Hände zu einer weiteren abwehrenden Geste. Wenn das so weiterging, würde er heute noch Muskelkater in den Armen bekommen.
»Nein, ich sollte wohl besser gehen. Tut mir leid, dass ich Ihnen nachgelaufen bin. Ich weiß auch nicht was mich geritten hat.« Seine Stimme klang jetzt ein wenig fester, aber das täuschte nur darüber hinweg, wie er sich fühlte. Es war als wäre er aus einem feuchten Traum aufgewacht. Als hätte jemand einen Eimer kalten Wassers über ihm ausgeleert. Plötzlich kam er sich vor wie der vollkommene Idiot. Wenn sich ein Loch im Boden auftun würde, er würde keine Sekunde zögern und hineinspringen. Was um Himmels Willen, war in ihn gefahren, sich so aufzuführen? Wo waren seine Gedanken gewesen? Was hatte er sich nur dabei gedacht. Sie zu belauschen, ok, das war nicht zu vermeiden gewesen. Ihr nachzulaufen, um zu sehen wie sie in Natura aussah, ok, das war gerade noch akzeptabel. Aber sie dann auch noch anzusprechen und ihr direkt zu verstehen zu geben, dass er sie belauscht hatte? Belauscht bei etwas derart Intimen, in einer Arztpraxis, das er weder hätte hören dürfen, geschweige denn weiterverfolgen dürfen?
Ja, dachte er. Du bist tatsächlich der vollkommene Idiot.
»Ich weiß es sehr wohl.« Ihre Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Auf einmal klang sie unendlich traurig. Als würde sie die Szene zigmal am Tag durchleben. Vermutlich war das gar nicht so abwegig. Welcher Mann wollte nicht auch mal eine Nymphomanin kennen? Immerhin stand er aus genau diesem Grund auch hier. Plötzlich kam er sich schäbig vor. Dreckig. Nein, eigentlich kam er sich wie ein ausgemachtes Arschloch vor. Wieder schien seine Miene Bände zu sprechen. Wie deutlich sie in seinem Gesicht lesen konnte, machte ihn zunehmend unsicher. War er wirklich so durchschaubar?
»Keine Angst. Sie sind nicht der erste, der eine waschechte Nymphomanin kennen lernen möchte.« Sie hatte die Stimme keinen Deut gesenkt, als sie ausgesprochen hatte, was der Wahrheit entsprach. Manuels Augen zuckten zu den anderen Gästen. Zum ersten Mal, seit er vor sie getreten war, hatte er die Augen von ihr gelöst, wie er überrascht feststellen musste. Er konnte keine Reaktion in den Gesichtern der anderen Gäste feststellen. Wenn jemand Majas Satz verstanden hatte, ließ er sich jedenfalls nichts anmerken. Dabei hatte Manuel vor wenigen Minuten selbst so seine Erfahrungen gemacht, was man alles aufschnappen konnte. Als er endlich in ihr Gesicht zurückblickte, war das Grinsen wieder zurückgekehrt. Es war ein offenes, schelmisches Lachen, dass ihn vollkommen entwaffnete. Er hatte das Gefühl so durchschaut worden zu sein, als wären seine Gedanken wie Untertitel über seinem Kopf mitgelaufen.
Das Gefühl verursachte trotz der Hitze eine Gänsehaut, die ihn erschauern ließ. Zu seinem Unmut, bemerkte sie auch das. Jetzt lachte sie ihn offen aus. Einer der Herren am Nebentisch drehte den Kopf zu ihnen herum. War das ein Grinsen in seinen Mundwinkeln?
Noch einmal deutete sie auf den Stuhl gegenüber. Jetzt ließ Manuel sich doch nieder. Ein leichtes Stöhnen entfuhr ihm, als seine Beine endlich sein Gewicht nicht mehr tragen mussten.
»Zittrige Knie, hm?« Verdammt wie machte sie das.
»Furchtbar«, entfuhr es ihm schneller als er nachdenken konnte. Aber jetzt musste auch er Grinsen. Er hatte sich hier vollkommen zum Trottel vor ihr gemacht. Was sollte er sich da noch um sein Ansehen bemühen. Sie las in ihm wie in einem offenen Buch. Wem sollte er etwas vormachen.
»Entspreche ich Ihren Vorstellungen?«
Reflexartig wollte er fragen, was sie meinte, konnte sich dann aber noch stoppen. Natürlich wusste er was sie meinte. Vermutlich stand ihm auch das schon wieder im Gesicht. Aber er hatte trotzdem keine Antwort parat. Unschlüssig zuckte er die Schultern.
»Ich habe keine Ahnung was ich mir vorgestellt hatte.«
»Pummelig. Einen Meter Fünfzig groß, pickeliges Gesicht, fettiges...«
»Ok, Ok, schon gut«, unterbrach er sie. Sie lachte ihr offenes, einnehmendes Lachen. Die Frau war so völlig anders als die verzweifelte Stimme, die den Doktor angefleht hatte, als ginge es um ihr Leben.
»Was ich vor Augen hatte, entspricht schon sehr nahe dem, was ich gerade sehe.« Er nickte und schaffte es diesmal nicht rot zu werden. Dafür glaubte er auf ihren Wangen einen leichten Schimmer zu erkennen. Vielleicht bildete er sich das aber auch nur ein.
»Aber?« Verdammt. Schon wieder wurde die Frage von dem wissenden Grinsen begleitet, dass da noch mehr war. Er nahm allen Mut zusammen und sprach aus, was er dachte. Es hatte ja doch keinen Sinn.
»Sie wirken jetzt vollkommen anders.«
Nun war es an Manuel einen Punkt auf seiner Haben Seite zu verbuchen. Sie hatte offenbar nicht damit gerechnet, das zu hören. Aber im Gegensatz zu ihm, fasste sie sich sehr schnell und machte aus ihrer Antwort keinen Hehl. Dankbar nahm Manuel zur Kenntnis, dass sie ein wenig leiser weiter sprach als noch zuvor.
»Es kommt in Schüben. Wie bei Süchtigen auch. Ich bin süchtig nach Sex. Meist habe ich es unter Kontrolle. Manchmal nicht. Dann neige ich zu Kurzschlussreaktionen. Vorhin war so eine. Ich bin an der Praxis vorbeigekommen, ich war aufgedreht. Hatte nur den einen Gedanken. Ich habe nicht nachgedacht. Ich hätte nie zu ihm hineingehen dürfen.« Sie sprach über Doktor Kaber wie über einen gemeinsamen Freund. Sie blickte ihm hinter den dunklen Gläsern in die Augen. Jedenfalls nahm Manuel das an, denn er konnte ihre Augen ja nicht sehen. Ihre Miene war ernst geworden, aber ganz langsam, wie in Zeitlupe legte sich das spöttische Lachen wieder in ihre Mundwinkel.
»Keine Angst. Der nächste Schub kommt bald. Höchstens einen Kaffee entfernt.«
Wie rot konnte er noch werden? Seine Wangen mussten längst glühend rot leuchten. Sie brach in lautes Lachen aus. Mit einem schmalen Finger, an dem ein rot lackierter Fingernagel leuchtete, deutete sie über Manuels Schulter. Er ruckte herum und zuckte zusammen, als er die diskret wartende Bedienung hinter sich stehen sah. Wieviel hatte die jetzt wieder von dem Gespräch aufgeschnappt? Himmel, nicht noch roter werden, schalt er sich. Mit zitternder Stimme bestellte er einen Milchkaffee. Diese Frau machte ihm Angst. Waren seine Gedanken wirklich so einfach zu lesen?
Natürlich, dachte er. Er war ein Mann. Sie eine Frau. Eine ganz spezielle noch dazu. Was wollte er hier verbergen? Er hatte in der Kabine gelauscht. Hatte dieses eine sagenumwobene Wort aufgeschnappt. War ihr nachgelaufen wie ein Schuljunge seinem heimlichen Schwarm. Hatte sie ausfindig gemacht und saß nun hier bei ihr am Tisch. Sicher nicht um einen Kaffee mit ihr zu trinken. Seine Gedanken und seine Fantasien hatten sich schon während der Suche nach ihr verselbständigt. Warum sonst hätte er ihr nachhetzen sollen. Der Grund könnte ihm auch als Leuchtreklame, hell pulsierend auf der Stirn stehen. Es wäre nicht deutlicher abzulesen als jetzt schon.
»Ja, Sie haben Recht.« Er nickte und fühlte sich plötzlich seltsam gel
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