Engelhaft
von FlorianAnders
Familie Degenhard ging ins Restaurant der Ferienanlage ihres philippinischen Urlaubsdomizils, eine weitläufige Holzveranda, die ein Palmendach überspannte. Der Abendwind rauschte in den Blättern und aus versteckten Lautsprechern erklang dezente Klaviermusik. Übermäßig voll war es nicht. Es gab genug freie Tische, doch Sabrina, die achtzehnjährige Adoptivtochter der Degenhards, entdeckte eine Familie, deren Sohn ungefähr in ihrem Alter sein musste. Sie kamen vor knapp einer Woche zusammen an. Dem Englisch der Eltern hatte man angehört, dass auch sie aus Deutschland stammten. Bisher hatte sich jedoch keine Gelegenheit ergeben, mit den Dreien bekannt zu werden. Sabrina stupste ihren Vater mit dem Ellenbogen in die Seite und nickte in die Richtung.
Thomas Degenhard, ein sportlicher Frühfünfziger, fuhr sich mit der Hand über seine von den Jahren entblößte Kopfhaut und schaute fragend zu seiner Frau. Veronika Degenhard zuckte mit den Schultern und sagte: »Naja, wir haben uns. Für Sabrina wäre es Anschluss in ihrem Alter.«
»Kannst du ihn nicht am Strand ansprechen?«
Sabrina machte eine unauffällige Fingerbewegung in Richtung des Jungen und schüttelte den Kopf. Ihre Mutter fügte hinzu: »Das stimmt. Ich hab ihn auch noch nie am Strand gesehen. Sei doch mal ein netter Vater.«
Thomas spielte den Empörten und beschwerte sich entsprechend beleidigt: »Ich bin immer ein netter Vater.«
Er warf einen um Bestätigung bittenden Blick zu Sabrina. Das blonde Mädchen zwinkerte ihm zu, zog ihn an der Schulter zu sich und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Derartigen Argumenten hatte ihr Vater nichts entgegenzusetzen. Er fügte sich in sein Schicksal und ging seinen Damen voran.
»Guten Abend«, grüßte er die Familie mit ineinandergelegten Händen. »Dürfen wir, soweit in der Ferne, für das Abendessen eine kleine Landeskolonie mit Ihnen gründen?«
Der andere Familienvater, ein Mann mit grauen Locken, gesunder Sonnenbräune, kleinem Bierbauch und ungefähr in Thomas Alter, schaute fragend zu seiner Frau und seinem Sohn. Die beiden hatten die gleiche, rotblonde Haarfarbe und einen hellen Teint, der im Gesicht des Jungen mit einigen Sommersprossen gesprenkelt war. Die Mutter schien wenig begeistert, wusste aber offenbar nicht, wie sie sich aus der Affäre ziehen sollte, ohne unhöflich zu wirken. Ihrem Mann ging es nicht besser, und da sein Sohn gar nicht reagierte, gestattete er es schließlich mit einer einladenden Handbewegung.
Thomas nickte, reichte dem Mann die Hand und stellte sich vor: »Thomas Degenhard, meine Frau Veronika und unsere Tochter Sabrina.«
»Sehr erfreut«, erwiderte der andere Mann und erhob sich mit einem Seitenblick zu seinem Sohn. Dieser rollte mit den Augen, folgte dem Vorbild seines Vaters aber.
»Weber. Manfred Weber. Das ist meine Frau Jennifer und mein Sohn Benjamin.«
»Na, aus Flensburg kommen Sie zumindest nicht«, versuchte Veronika, die Situation aufzulockern, und lächelte herzlich.
»Nein, wir kommen aus Hessen«, antwortete Manfred und betonte seinen Akzent besonders, »aber einen Bämbel haben wir nicht dabei.«
Seine Frau Jennifer bemühte sich, ihr Lächeln natürlich wirken zu lassen, doch es gelang nicht wirklich. Als sie Sabrina die Hand schütteln musste, studierte sie das spärliche Outfit des Mädchens mit missbilligendem Blick.
Die langhaarige Blondine hatte sich zu ihrem knappen Bikini nur ein fast durchsichtiges Tuch als Rockersatz um die Hüften geschlungen. Aus männlicher Sicht gab es sicher nichts, was an ihrem Traumkörper verborgen werden musste. Ihre Haut erstrahlte in gleichmäßiger Zimtbräune und ihre Rundungen waren atemberaubend. Ein kurzer, besorgter Seitenblick zu ihrem Sohn ließ ahnen, warum es ihr missfiel.
Benjamins Augen wussten nicht so recht wohin, als er Sabrina die Hand gab. Die kleinen, festen Brüste sogen an seinem Blick, wie ein Magnet, dem er verzweifelt zu entkommen versuchte.
»Hi«, stammelte er und Sabrina zwinkerte ihm freundlich zu. Als alle saßen, kam der Kellner, brachte die Karten und nahm die Getränkebestellung auf.
»Also, ich nehme einen Rotwein«, sagte Thomas und schaute zu seiner Frau, die nickte. Auch das Ehepaar Weber schloss sich an.
»Und du Sabrina«, fragte Thomas. »Auch einen Wein oder wieder dieses klebrig süße Zeug von Cocktail?«
Sabrina nickte begeistert..
Benjamin merkte zu spät, dass die Reihe an ihm war. Er glaubte, die anderen seien noch abgelenkt und so sahen alle, wie er Sabrina förmlich mit den Augen verschlang. Seine Mutter gab ihm unter dem Tisch einen kleinen Tritt gegen das Schienbein, während sie die anderen überspielend anlächelte.
Benjamin schreckte auf: »Was?«
Seine Mutter unterdrückte die Wut über seine Aggressivität und entgegnete betont freundlich: »Wenn du dem Kellner auch kurz sagen würdest, was du trinken willst.«
»Ne Cola.«
Der Kellner verschwand und Manfred Weber beeilte sich, den Smalltalk zu eröffnen.
»Woher kommen Sie denn?«
»Aus der Nähe von Hamburg«, antwortete Veronika.
»Ach, Hamburg. Eine wunderschöne Stadt«, schwärmte Jennifer plötzlich. »Wir waren vor zwei oder drei Jahren dort. Kleiner Kurzurlaub mit Musicalbesuch.«
»Ah, was haben Sie sich angesehen.«
»König der Löwen.«
»Ein tolles Stück.«
Die Unterhaltung der Eltern plätscherte so dahin, die Getränke kamen, die Essensbestellung wurde aufgegeben. Nach dem Essen tippte Sabrina ihre Mutter an, die entschuldigend mit den Schultern zuckte.
»Nein, Liebes, ich hab nichts dabei. Ich hatte ja keine Ahnung, dass du dich irgendwo dazusetzen willst.«
Sabrina rollte mit den Augen, dann wandte sie sich um und suchte den Kellner. Sie winkte ihn heran. Als er ankam, machte sie eine Geste, als würde sie mit der einen Hand etwas auf die andere Handfläche schreiben. Der Kellner zückte sofort Kugelschreiber und Block und machte sich schreibbereit. Doch Sabrina versuchte stattdessen, ihm vorsichtig beides abzunehmen. Er verstand erst nicht. Sie machte ihre Schreibgeste noch einmal und zeigte dann auf sich. Er überließ ihr die Sachen. Sabrina schrieb mit enormer Geschwindigkeit, aber in einer wunderschön leserlichen Mädchenschrift: »Was machst du so? Ich hab dich noch nie am Strand gesehen.«
Dann schob sie den Block zu Benjamin.
Auf die verwirrten Blicke erklärte Thomas Degenhard: »Sabrina spricht nicht.«
»Taubstumm?«, rutschte es Jennifer heraus. Ihr Ton schwankte zwischen Mitleid und der Genugtuung, dass ein derart perfektes Mädchen doch ein Makel hatte.
»Nein, nein«, widersprach Thomas, »taub schon mal gar nicht. Sie hört ganz normal. - Und nur zu oft, was sie nicht hören soll.« Er schielte seine Tochter mit einem provozierenden Grinsen an und zwinkerte ihr mit einem Auge zu. »Und stumm ist auch nicht ganz richtig. Sie lacht und schreit. Ihre Stimmbänder sind voll funktionstüchtig, aber aus irgendeinem Grund, den bisher noch niemand ergründen konnte, spricht sie einfach nicht. Sprachen selbst sind für sie ein Hobby. Vokabeln, Grammatik, das alles scheint, ihr zu zufliegen. Sie beherrscht Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch und seit neustem hat sie sogar arabisch angefangen. Aber sie spricht in keiner Sprache dieser Welt ein Wort. Wir unterhalten uns in Zeichensprache.«
»Ach«, sagte Manfred verblüfft. »Ist es vielleicht dann eher die Psyche?«.
»Wir haben sie von einem Arzt zum nächsten Psychologen geschleppt«, antwortete Veronika, »Sogar Delfintherapie. Niemand konnte irgendeinen Grund feststellen, warum sie nicht sprechen will.«
Sabrina wackelte mit dem Kopf und zog eine abfällige Grimasse, da sie es leid war, zum tausendsten Mal ihre Krankengeschichte zu hören. Sie wandte sich wieder an Benjamin und tippte mit dem Stift auf ihre Frage.
Benjamin drückte sich, als sei es eine große Anstrengung, aus der Rückenlehne des Stuhls hervor und suchte mit ein paar Blicken Rat bei seinen Eltern. Seine Mutter blinzelte nervös und spielte mit ihren Fingern. Sein Vater schluckte hörbar. So griff Benjamin nach dem Stift in Sabrinas Hand.
»Du kannst ihr einfach antworten. Sie hört jedes Wort«, erklärte Veronika noch einmal.
Benjamin räusperte sich, als seine Mutter auch schon für ihn antwortete: »Benjamin ist nicht am Strand. Er segelt lieber. Wir haben ihm ein Boot gemietet und damit macht er am Tag so seine Touren. Sportlich halt, unser Benny.«
Benjamin verdrehte bei der Betitelung die Augen. Sabrinas leuchteten jedoch auf. Sie zog den Block zurück und schrieb: »Cool. Nimmst du mich mal mit?«
»Benny segelt vor allem aus sportlicher Motivation«, erklärte seine Mutter für ihn. »Da muss mit Wende und Spinnacker setzen schon alles passen. Eine zusätzliche Person wäre ihm da eher im Weg.«
»Ach, bitte. Ich mach mich auch ganz klein und bleibe genau an der Stelle, die du mir zeigst«, notierte Sabrina.
Benjamin warf seinen Eltern einen schwer zu deutenden Blick zu. Zum einen drückte er die Hoffnung aus, sie mögen ihn davor bewahren, zum anderen enthielt er Traurigkeit, diesen Wunsch abschlagen zu müssen.
»Nein, ich glaube, es ist besser, Ben fährt allein«, schaltete sich nun sein Vater ein. »Es ist ja auch eine gewisse Verantwortung, einen Passagier mitzunehmen.«
»Ich kann schon auf mich aufpassen.«
»Kind«, widersprach Manfred, nach dem er ihren Einwand gelesen hatte »das da draußen ist der Ozean und nicht eure Binnenalster.«
»Ich würde aber sooooooo gerne.«
»Es wäre uns aber lieber, Benny segelt allein.«
Sabrina schmollte. Die Ablehnung passte ihr genauso wenig, wie die Tatsache, dass sie dieses Gespräch mit Benjamins Eltern führen musste, anstatt mit ihm.
Benjamin schien die Situation auch nicht zu behagen. Er stand auf und erklärte: »Ich will morgen früh los. Gute Nacht. Hat mich gefreut, Sie kennen gelernt zu haben.«
Veronika warf ihrer Tochter einen kurzen, mitfühlenden Blick zu. Sabrinas Schultern sackten herunter. Die Hoffnungen auf einen netten Abend hatten sich zerschlagen. Sie seufzte und machte ein paar schnelle Handzeichen.
»Gute Nacht, Spatz«, sagte ihr Vater und strich ihr tröstend über den Rücken, während sie aufstand, sich mit einem Nicken bei den Webers verabschiedete und mit schlurfenden Schritten die Terrasse verließ. Kaum hatte sie den Sichtbereich ihrer und vor allen Dingen Benjamins Eltern verlassen, rannte sie jedoch los. Sie hatte genau beobachtet, in welche Richtung der Junge in die Dunkelheit verschwunden war und holte ihn ein, bevor er seinen Bungalow erreichte. Benjamin hörte ihre laufenden Schritte, drehte sich kurz um, verdrehte die Augen und schaute demonstrativ in die andere Richtung, als sie an seiner rechten Seite erschien. So untrüglich dieses Zeichen auch sein mochte, so wenig ließ Sabrina sich davon abhalten, ihm trotzdem ihren Block unter die Nase zu halten, auf dem stand: »Ich hätte total Lust, einmal segeln zu gehen.«
»Aber du hast doch gehört: Meine Eltern wollen es nicht.«
Sie lächelte verschwörerisch, als sie schrieb: »Sie müssen ja nichts davon erfahren.«
Seine blauen Augen fuhren noch einmal jede heiße Kurve ihres atemberaubenden Körpers nach. Dann wandte er sich mit einem Ruck ab, als müsse er sich losreißen.
»Es geht nicht. Ich darf nicht.«
Sabrina blieb enttäuscht stehen und verschränkte die Arme beleidigt vor der Brust.
*****
Die Sonne schickte gerade die ersten Strahlen über den Horizont, als Benjamin die beiden Wasserkanister unter Deck verstaute. Vierzig Liter Wasser waren zwar weit mehr, als er je auf der geplanten Tagestour trinken würde, aber auf See wusste man nie. Er war lieber gut vorbereitet. Außerdem erschien ihm der fünf Meter zwanzig lange Daysailor am gestrigen Tag ein wenig zu leicht. Er stieg wieder auf den Steg und bückte sich, um seinen Rucksack mit dem Proviant, dem Fotoapparat und dem Fernglas aufzuheben, als er laufende Schritte hörte.
Es war die heiße Blondine von gestern Abend. Über ihrer Schulter hing der Riemen einer gestreiften Strandtasche. Ihre Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden und auf ihrem Kopf schaute eine Sonnenbrille in den Himmel.
Ärger stieg in Benjamin auf. Warum konnte sie ihn nicht in Ruhe lassen? Seine Augen verschlangen wieder ihren Körper. Ihre schlanken Beine verschwanden unter einem blauen Wickelrock aus einem leichten Stoff. Ein luftiges Top flatterte um ihren Oberkörper, aber der Junge erinnerte sich noch viel zu gut an den Anblick ihrer Brüste.
Seine Hände begannen zu schwitzen und der Speichel lief ihm im Mund zusammen, doch in seinem Kopf hämmerte: Verboten! Verboten!
Sie erreichte ihn und hatte diesmal ein Tablet dabei, auf das sie jedoch nicht tippte, sondern mit dem Finger schrieb.
»Guten Morgen. Mann, du bist ja schon früh hoch.«
Er zuckte gleichgültig mit einer Schulter, schnappte sich seinen Rucksack und stieg ins Boot.
»Kann ich nicht doch mit?«
Sie hielt das Tablet am gestreckten Arm vor sich und schielte ihn mit gesenktem Kopf von unten an.
»Nein«, antwortete er einsilbig.
Ein Knopfdruck in die untere linke Ecke des Tablets, und die Schrift verschwand. Sie schrieb wieder mit unglaublicher Geschwindigkeit: »Ach, komm schon. Deine Eltern sehen doch nicht, wie ich zu dir ins Boot steige und wenn’s sein muss, spring ich auf der Rückfahrt rechtzeitig ins Wasser und schwimm den Rest an Land, damit sie es nicht merken.«
»Nein, das geht nicht«, blieb er hart.
»Warum nicht?«
Benjamin seufzte. Irgendwie glaubte er, auf Sprache in diesem Moment besser reagieren zu können. Ihr Blick und die Worte auf dem Tablet, die nur vom Wasserplätschern, der kleinen Wellen an den Steg und Rufen der Seevögel begleitet wurden, wirkten so viel entwaffnender. »Das ist zu gefährlich«, sagte er schließlich.
»Ich bin eine hervorragende Schwimmerin.«
»Ja, nein, aber schon das Tablet. Was ist, wenn das ins Wasser fällt oder sonst wie nass wird? Am Ende bin ich schuld.«
Sabrina kniete sich an den Rand des Stegs und tauchte das Tablet bis zu ihrem Ellenbogen ins Wasser, zog es wieder heraus, und noch während das Wasser von der Oberfläche perlte, schrieb sie: »Kein Problem bis 60m Tiefe.«
Benjamin kämpfte darum, sich unbeeindruckt zu zeigen. Dann fiel ihm etwas viel Naheliegenderes ein. Er deutete mit dem Finger zu ihren Füßen und meinte: »Außerdem hast du keine...«
Er musste den Satz abbrechen, als seine Augen seinem Fingerzeig folgten. Sie trug nagelneue Segelschuhe.
Mit einem Kopfschütteln versuchte er, seine Gedanken zu sortieren.
»Außerdem habe ich nur eine Schwimmweste an Bord.«
Dieser Einwand traf ins Schwarze. Sie kniff ärgerlich die Augen zusammen und stampfte leicht mit dem Fuß auf. Doch im nächsten Moment schnipste sie mit den Fingern, stellte ihre Tasche ab und rannte davon.
Benjamin blieb wie angewurzelt stehen und sah ihr ungläubig nach. Sie verschwand in der kleinen Baracke des Hafenmeisters und es dauerte keine Minuten, bis sie wieder mit einer Schwimmweste herausgerannt kam, mit der sie Benjamin winkte.
Erst jetzt fiel diesem ein, dass er die Zeit ja zum Ablegen hätte nutzen können. Er brach in hektisches Treiben aus, rannte zum Bug und löste die Vertäuung. Als er die Heckleine löste, stand sie wieder bei ihm und strahlte ihn an.
Er stöhnt: »Glaub mir, es ist besser für uns beide, wenn du nicht mit kommst.«
»Bitte!« Als Ausrufezeichen malte sie ein Herz. Dann schrieb sie hinzu: »Komm schon. Achtzehn und mit den Eltern am Strand rumhängen. Das ist ätzend.«
Sie löschte die Schrift und schrieb neu: »Ich fühl mich da echt wie das fünfte Rad am Wagen. Nur Gruftis und Pärchen. Du bist der Einzige hier in meinem Alter.«
Benjamin schluckte. Er musste ablehnen, aber es fiel ihm schwer, so wahnsinnig schwer.
»Ich würde so gerne einmal auf dem Ozean segeln.« Sie löschte die Schrift und dann schrieb sie betont langsam, damit er Bogen für Bogen las: »Erfüllst du mir einen Wunsch, erfüll ich dir auch einen.«
Benjamin krallte die Finger ineinander, bis er seine Fingernägel fast auf den Knochen spürte, aber er brachte es nicht fertig, dieses Angebot abzuschlagen. Resignierend ließ er die Schultern sinken und nickte ins Boot.
Sabrina stieß einen kurzen, quietschenden Freudenschrei aus. Es war merkwürdig, einen Laut von ihr zu hören, dachte Benjamin, während er die Heckleine ins Boot warf, es sanft abstieß und dann hinter her sprang.
»Okay, wo soll ich mich hinsetzen?«, stand auf dem Tablet.
»Ist hier im Hafen noch egal. Raus fahren wir erstmal mit Motor«, erklärte Benjamin. »Ich hisse erst weiter draußen die Segel. Dann zeig ich dir alles.«
Sabrina nickte.
»Dachte, am Morgen ist es frischer. Stört`s dich, wenn ich ein paar Klamotten ausziehe?«
Er schluckte hart. So viel trug sie ja gar nicht. Bemüht, cool und gleichgültig zu wirken, zuckte er mit den Schultern.
Sie wickelte den Rock ab und zog das Top über den Kopf. Darunter trug sie einen schlichten, weißen Bikini, der auf ihrer zimtbraunen Haut geradezu leuchtete, als das Licht der Morgensonne auf ihn fiel.
Benjamin verkrampfte seine Hand um den Griff des Außenbordmotors, bis seine Knöchel weiß wurden. Sie sah verboten scharf aus. Verboten!
*****
Das Ehepaar Degenhard füllte sich am Frühstücksbüffet die Teller, als die Webers den überdachten Außenbereich betraten. Die Vier begrüßten sich und suchten sich einen gemeinsamen Platz, denn der Abend war, nach dem die Kinder verschwunden waren, noch sehr nett geworden. Jennifer Weber war regelrecht aufgetaut und es hatte sich eine lustige Unterhaltung ergeben, bei der auch der Wein nicht zu kurz kam.
»Haben Sie gut geschlafen?«, erkundigte sich Veronika Degenhard.
Jennifer Weber schaute verträumt zum Himmel und antwortete mit einem Seufzer: »Ach, das lässt sich so einfach gar nicht sagen. Ich hab gar nicht viel geschlafen, glaube ich, aber das Meeresrauschen durch das offene Fenster zu hören ist einfach traumhaft und so wahnsinnig entspannend. Ich hab das Gefühl, jeder Welle gelauscht zu haben. So eine Ruhe kennen wir aus Frankfurt natürlich nicht.«
»Ja, ich finde es auch traumhaft«, stimmte Veronika zu.
Der Concierge des Hotels, ein schmächtiger Phillipino in prunkvoller, traditioneller Kleidung, ging durch die Stuhlreihen und erkundigte sich bei den Gästen, ob alles zu ihrer Zufriedenheit sei. Sein Lächeln wirkte nicht aufgesetzt. Er schien sich wirklich über jede positive Bestätigung zu freuen. Und um sich bei den Gästen einzuschmeicheln, versuchte er, je nach Nationalität, ein paar Worte in deren Landessprache zu sprechen. Als er die beiden deutschen Ehepaare sah, ging er mit ausgebreiteten Armen auf sie zu und begrüßte sie mit den Worten: »Ah, die Apfel fallen nicht zu weit von Stamm. Sagt man nicht so, in Deutscheland?«
»Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm«, korrigierte Thomas Degenhard, »ja, das ist eine deutsche Redensart. Wie kommen Sie darauf?«
»Nun, die Mamas und die Papas sitzen hier zusammen und die Kinders gehen zusammen segeln.«
Jennifer Weber zuckte zusammen und schaute auf, wie ein Lamm, das sich dem hungrigen Wolf gegenübersah.
»Wie?«
»Oh, habe ich falsch gesagt?«
»Nein, nein, nein«, widersprach sie. »Wie kommen Sie darauf, dass Benjamin mit ...«
Der Concierge lächelte erleichtert, dass sein Deutsch doch verständlich war, und erklärte: »Nun, Herr Benjamin ging wie immer früh hinaus. Wenig später kam Fräulein Sabrina und fragte nach ihn. Sie hatte auch eine Stift und eine Papier dabei. Von gestern aus Restaurant, sagt sie. Nun, ich wollte nicht neugierig, aber auf Papier stand: Darf ich kommen mit? Also habe ich glauben, Fräulein Sabrina und Herr Benjamin seien zusammen raus mit die Boot. Ist das falsch.«
»Ja«, murmelte Jennifer vor sich her, als ihr die anderen wieder aufzufallen schienen. »Äh, nein«, antwortete sie und lachte nervös. »Ich meine, danke.«
»Bitte schön.«
Unter einer höflichen Verbeugung drehte der Concierge sich weg und ging zum nächsten Tisch.
Jennifer legte die Hände wie beim Gebet zusammen, stützte ihre Ellenbogen auf den Tisch und verbarg ihre untere Gesichtshälfte dahinter.
»Verdammt, verdammt, verdammt«, zischte sie zu ihrem Mann, »ich habe Benny, extra noch einmal ausdrücklich gesagt, dass er sich von dem Mädchen fernhalten soll. Er hat es mir fest versprochen.«
Manfred Weber presste die Lippen nachdenklich aufeinander und antwortete kurze Zeit später. »Vielleicht ist sie ja ganz woanders hin.«
»Wer’s glaubt. Warum hat sie wohl nach ihm gefragt.«
»Vielleicht hat er sie ja auch abgewiesen. Das weißt du doch gar nicht.«
»Und wo ist sie dann?«
Manfred schaute Veronika und Thomas an, als hätten sie unmöglich etwas von der Unterhaltung der beiden mitbekommen können und fragte: »Haben Sie Ihre Tochter heute schon gesehen?«
Die beiden schüttelten die Köpfe und Veronika erklärte: »Sabrina hat einen eigenen Bungalow. Wenn sie schon noch mit Mama und Papa verreisen muss, dann wenigstes mit eigener Bude, hat sie verlangt.«
Jennifer sog Luft in unterdrückter Wut ein. »Kann ihre Tochter kein Nein akzeptieren?«
»Doch, schon«, antwortete Thomas, plusterte die Wangen auf und entließ die Luft mit einem Laut des Unverständnisses, bevor er seine Tochter verteidigte, »aber ich hab gestern schon nicht so recht verstanden, wo das Problem liegt. Ich meine, Verantwortung für Passagiere. Ich bitte Sie. Und so eine Strafe kann es für einen jungen Mann ja nun auch nicht sein, wenn er jemanden wie unsere Sabrina einmal mitnimmt und an diesem Tag vielleicht mit etwas weniger sportlichem Ehrgeiz segelt.«
»Sie haben ja keine Ahnung«, erwiderte Manfred in unheilvollem Unterton.
Veronika rümpfte leicht spöttisch die Nase. »Sie tun ja so, als trainiere er für die Olympiade.«
»Nein, tut er nicht«, widersprach Jennifer ungehalten, »aber das gibt Ihrer Tochter noch lange nicht das Recht, sich über unsere Entscheidungen hinweg zu setzen.«
Für Thomas wurde diese Unterhaltung nun eher lächerlich. Er fragte: »Wie alt ist Benjamin?«
»Achtzehn«, antwortete Manfred.
»Sehen Sie, unsere Sabrina auch. Es mag uns zwar schwerfallen, aber im Prinzip haben wir da nichts mehr zu melden. Die beiden sind alt genug, selbst zu entscheiden, was sie tun oder lassen.«
Jennifer Webers Lippen zitterten, als sortiere sie Worte, die sie Thomas jeden Moment an den Kopf werfen wollte. Ihre Finger suchten auf der glatten Tischplatte nach Halt. Schließlich stand sie mit einem Ruck auf, stieß den Stuhl mit den Kniekehlen nach hinten und verkündete: »Ich muss zum Hafen.«
*****
Benjamins Blut kochte und seine Hose schien, jeden Moment explodieren zu wollen, so extrem quälte ihn der Druck in seinem steinharten Penis.
Sie waren hinausgefahren, wo er den Motor abgestellt und eingeholt hatte, bevor er die Segel setzte. Es wehte eine gute Brise. Sie kamen gut voran. Benjamin hatte Sabrina erklärt, was sie bei einer Wende zu tun hatte und sie beherrschte es nach zwei Proben nahezu perfekt. Den Worten seines Vaters folgend, legte Benjamin den Daysailor nicht so hart an den Wind wie sonst, sondern ließ sich gemächlich dahin treiben, bis Sabrina ihn fragte, ob sie nicht schneller fahren könnten, worauf er ihr erklärte, dies ginge nur, wenn sie das Trapez benutzen würden. Sie war sofort begeistert und nun hing sie, die Füße auf der Reling, mit ihrem ausgestreckten Körper in der Stoffschlaufe, die ihren Rücken hielt, und lehnte sich gegen den Wind. Sie lachte vergnügt, wenn der Bug von einem Wellenkamm in den nächsten stürzte und die Gischt aufspritzte. Ihre Haare wehten im Wind, Wassertropfen perlten über ihre nackte Haut und ließen den Stoff ihres weißen Bikinis immer durchsichtiger werden. Ihre Arme hielt sie ausgestreckt über sich, die Hände um das Seil gefasst, das das Trapez mit der Spitze des Masts verband.
Dieser Anblick löste wilde Fantasien bei Benjamin aus. Ihre Nippel zeichneten sich in den nassen Stoffdreiecken des Bikinioberteils ab. Er konnte den Farbunterschied zwischen Brustwarze und Haut erkennen.
Plötzlich drehte Sabrina ihren Kopf und schaute zu ihm. Ihr Lachen verschwand und so etwas wie eine schuldbewusste Mine zeigte sich. Sie knickte die Knie ein.
Ben lenkte reaktionsschnell gegen und legte das Boot sanfter in den Wind, so dass sie sich wieder neben ihn setzen konnte.
»Hey«, ermahnte er sie, »das kannst du nicht so ohne Vorwarnung tun, sonst kentern wir noch.«
Sie entschuldigte sich mit einem schuldbewussten Blick, nahm ihr Tablet und schrieb: »Tut mir leid. Segeln ist geil. Ich hatte noch nie so einen Spaß auf dem Wasser. Danke, dass du mich mitgenommen hast.«
Ihre Freude und ihr Dank waren ihm peinlich und er wandte seinen Blick ab. Sie holte ihn mit ihrer Hand unter seinem Kinn zurück und verwies auf den Bildschirm.
»Okay, du hast mir meinen Wunsch erfüllt. Welchen kann ich dir jetzt erfüllen?«
Er erstarrte. Ob mehr vor der Tatsache, dass sie diesen Satz vorhin nicht nur so daher gesagt hatte, sondern wirklich ernst meinte, oder vor den Möglichkeiten, die er sich verbieten musste, wusste er nicht.
Er umfasste das Handgelenk unter seinem Kinn mit sanftem Griff. Pfirsichweiche, warme Haut. Sein Herz pochte. Seine Augen irrten auf der Suche nach einer Antwort umher. Was er sich wünschte, wusste er genau, doch das durfte er nicht.
»Nein, schon okay. Hab dich gerne mitgenommen«, log er.
»Nein, nein, Ben«, schrieb Sabrina, »so war es abgemacht. Also sag!«
Er suchte nach etwas, dass er sich wünschen durfte. Sein Blick fiel auf das Nackenband seiner Fotokamera, das aus seinem Rucksack hing. Er griff danach und antwortete, erleichtert: »Ich würde gerne ein Foto von dir machen.«
Es gab kein schüchternes Okay, wie er es erwartet hatte. Sie warf sich auch nicht bereitwillig in Pose, wie es sich ein Mädchen mit ihrem Aussehen leisten konnte, sondern sie tat das Schlimmste, dass sie tun konnte. Sie verzog das Gesicht zu einer spöttischen Miene, die unmissverständlich sagte: ›Das kann unmöglich dein Ernst sein.‹
Das Gefühl, durchschaut worden zu sein, nagte an ihm. Das schönste Mädchen der Welt saß in seinem Boot und nahm ihm nicht ab, dass er nur ein Foto wollte. Sie fragte sich vermutlich, ob er überhaupt schon etwas von Blumen und Bienen gehört hatte. Aber es war verboten, alle hatten ihm das gesagt.
Der Frosch in seinem Hals drohte ihn zu ersticken und musste mit aller Härte heruntergeschluckt werden. Er musste wenigstens einen Testballon starten. Mit unsicherer Stimme fügte er hinzu: »Ohne den Bikini.«
*****
Jennifer Weber legte in ihren forschen Gang immer wieder einige hastige Laufschritte ein. Ihr Mann hatte Mühe ihr zu folgen und auch die Degenhards mussten fast in einen leichten Dauerlauf übergehen, um nicht zu weit zurückzufallen. Sie verstanden nicht, was die Frau aus Frankfurt zu einer solchen Besorgnis trieb.
Sie erreichten den kleinen Yachthafen. Jennifer stürmte auf das Hafenbüro zu und riss die Tür auf, dass der darin sitzende Mann, ein korpulenter Australier mit hellbraunen Locken, einem an den Enden weit heruntergezogenen Schnurrbart und kristallklaren blauen Augen, fast seinen Morgenkaffee auf seine haarige Brust verschüttet hätte. Gerade noch rechtzeitig konnte er sich im Schreck auf den auf zwei Beinen nach hinten gekippten Stuhl nach vorne fallen lassen, um die heißen Topfen lieber auf seinen Schreibtisch, als auf seine nackte Haut zu vergießen.
Er rückte seine Kapitänsmütze zurecht, während er die Eintretenden mit einem missbilligenden Blick belegte. Wer konnte an einem so schönen Morgen solche Hektik verbreiten?
»Guten Morgen, Darran«, blaffte Jennifer ihn in Englisch an, als sei er an allem schuld.
»Guten Morgen, Frau Webber.« Die deutschen Anreden kannte er offenbar. »Irgendwelche Probleme?«
»Ist unser Sohn heute rausgefahren?«
»Sicher. Wie jeden Morgen.«
»Wirklich wie jeden Morgen?«, hakte Manfred nach und Darran erkannte sofort, was gemeint war. Er lächelte schräg und schielte die anderen verschwörerisch an, so als müssten die Eltern stolz auf ihren Sohn sein, wenn sie die folgende Information hörten: »Okay, nicht ganz wie jeden Morgen. Da war natürlich dieses wirklich heiße Zuckerbaby bei ihm.«
»Sind sie zusammen rausgefahren?«, fragte Jennifer hastig nach.
Darran nickte. Er konnte sich nicht erklären, wo das Problem lag. Er hätte dieses Mädchen überall mit hingenommen, und wenn Benjamin sein Sohn wäre, hätte er ihm heute Abend einen anständigen Whiskey für diesen Spitzenfang spendiert. Dann jedoch fiel im ein, was Deutsche für ein Problem sehen konnten: Verordnungen, Bestimmungen, Regeln. Also versuchte er, die Aufregung zu schlichten, in dem er berichtete: »Ach, mach dir keine Sorgen. Ben ist ein korrekter Deutscher. Er hat darauf bestanden, dass sie eine Schwimmweste mitnimmt. Ich hab ihr selbst eine gegeben. Es wird also niemand untergehen. Außerdem ist Ben ein wirklich ausgezeichneter Skipper, wie mir scheint. Als er gestern Abend rein kam, konnte ich noch ein paar Wenden von ihm sehen. Er ist fast mit voll Speed in die Hafeneinfahrt, dort aber fiel augenblicklich das Segel und mit dem Restschwung konnte er noch genau wenden und an seine Position am Steg fahren. Ich war wirklich beeindruckt.«
Zu Darrans Überraschung löste sein Bericht jedoch keine Beruhigung aus.
»Scheiße, scheiße, scheiße«, murmelte Jennifer vor sich her. »Das hätte nicht passieren dürfen.«
»Was ist denn los?«, wollte Veronika wissen und legte ihre Hand beruhigend auf Jennifers Schulter. Diese ruderte sie mit einer ausladenden Armbewegung herunter und wandte ihr noch deutlicher den Rücken zu.
»Es ist los, dass Ihre Tochter einfach nicht gehorchen kann.«
Manfred nahm seine Frau beruhigend in den Arm.
»Schatz, das alles bedeutet noch gar nichts. Es muss nichts passiert sein.«
Sie warf ihm einen Das-glaubst-du-doch-selbst-nicht-Blick zu.
»Soll ich ihn anfunken?«, fragte Darran, der immer noch nicht kapierte, was los war.
»Das kannst du?«
»Sicher.«
Im Gefühl, wieder Herr der Situation zu werden, ging Darran zum Funkgerät, justierte einige Knöpfe, nahm das Mikrophon und gab einen Ruf heraus.
*****
Während der Schweiß aus jeder Pore seines Körpers drang und ihn im Seewind frösteln ließ, trocknete Benjamins Kehle aus. Er bekam kaum mehr einen Tropfen Speichel zusammen und schluckte er ihn herunter, fühlte es sich an, als wäre sein ganzer Rachen aufgerissene Erde.
Sabrina empfand seinen Zusatzwunsch offenbar als glaubwürdiger. Sie stand von der kleinen Seitenbank auf, suchte in dem schaukelnden Boot breitbeinig einen sicheren Stand, streckte die Arme wie eine Tempeltänzerin über den Kopf, und während ihre Handgelenke umeinander kreisten, sanken sie in ihren Nacken und lösten den Verschluss.
Zu Benjamins Bedauern blieben die Bänder auf Sabrinas nasser Haut kleben und rutschten nicht herunter, so dass sie die kleinen Stoffdreiecke mitzogen. Alles blieb an seinem Platz, doch seine Aufregung stieg, denn sie löste auch den Verschluss auf ihrem Rücken. Ihre Hände legten sich auf ihre appetitlich runden Brüste und schoben den Stoff in einer streichelnden Bewegung herunter.
Egal wie schwer es war, den Frosch vor wenigen Augenblicken herunterzuschlucken. Sein Herz hämmerte Benjamin nun einen noch festeren Pfropfen in den Hals. Was geschah hier?
Sie warf ihm das Oberteil mit einem kecken Handgelenksschwung provozierend ins Gesicht. Ihre andere Hand wanderte ihren flachen Bauch hinab, zwischen die Beine und rieb genüsslich ihren Schamhügel. Dann schob sie ihre Finger von der Taille die Hüften hinab, wobei sich der jeweilige Mittelfinger unter das kleine Bändchen des Slips schob. Der ohnehin schon knappe Slip wurde immer enger zusammengeschoben. Schließlich gab er die Sicht frei. Sie war rasiert.
Benjamin rang nach Luft. Wie lange konnte er sich noch beherrschen. In ihm erwachte ein Panther, der nach Beute gierte. Die Gelegenheit war so günstig, einfach unwiderstehlich. Er hielt sich an der Reling und der Ruderpinne fest, um jetzt nichts Dummes zu tun, aber er wollte, er wollte so sehr. Und es war ja auch niemand in der Nähe. Wenn seine Mutter, sein Vater und all die anderen wüssten, was er sich jetzt wünschte.
Das Funkgerät rauschte und eine Stimme erklang. Egal wer nach ihm rief. Er tat es im Auftrag seiner Eltern. Sie durften nichts erfahren.
Benjamin sprang vor, schaltete das Gerät aus. Er wollte nichts hören. Niemand durfte etwas hören. Durch sein plötzliches Hochschnellen wankte das Boot. Den Schaukler in die eine Richtung hatte Sabrina noch ausgleichen können, doch die Bewegung in die andere riss sie um. Auch Benjamin wurde auf die Sitzbank zurückgeworfen und das nackte Mädchen fiel genau über seine Knie.
Er spürte ihre nackte Haut auf seinen Beinen. Wie weich, wie warm, wie lebendig war dieser Körper. Wie wunderbar musste es sein, sie an all den verbotenen Stellen zu berühren. Er griff nach dem nächstliegenden Seilende, packte ihre Arme, zerrte sie auf den Rücken, schlang das Seil in schnellen Windungen um ihre Handgelenke und zog es mit einem einfachen Schlaufenknoten zusammen.
*****
»HQ für Echo Echo Charlie Fox!«, rief Darran zum x-ten Mal ins Mikrophon, ließ die Sprechtaste los und lauschte ins weiße Rauschen des Lautsprechers.
»Vielleicht hat er abgeschaltet?«
Thomas und Veronika tauschten Blicke mit dem rundlichen Hafenmeister, die sagten, dass sie sich gut vorstellen konnten, warum zwei junge Menschen, alleine auf einem Segelboot, das Funkgerät ausschalteten. Dass sie darin aber noch keinen besonderen Grund zur Sorge sahen.
Jennifer griff sich in die Haare, als wollte sie sich alle gleichzeitig ausreißen, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Ihr Mann nahm sie liebevoll in den Arm und flüsterte ihr zu: »Es muss nichts passiert sein, Schatz. Alle haben gesagt, seine Therapie war erfolgreich.« Es wirkte jedoch, als versuche er sich selbst, von seinen Worten zu überzeugen.
»Meinen Sie nicht, Sie sollten uns endlich sagen, was für ein Problem es gibt?«, fragte Thomas in ruhigem, aber fordernden Ton.
Das Ehepaar Weber sah sich einige Zeit schweigend an. Die ersten Tränen liefen über Jennifers Wangen. Das schlechte Gewissen der beiden war beinahe spürbar. Schließlich nahm Manfred einen entschlossenen Atemzug.
»Es ist etwas mit Benjamin.«
Er räusperte sich. Die Informationen, die er nun preisgeben musste, kamen ihm nicht leicht über die Lippen.
»Es ist, also, Benny ist… bei Mädchen schon einmal…« Er suchte nach dem richtigen Wort. »… auffällig geworden.«
»Was meinen Sie mit ›auffällig‹?«, hakte Veronika nach.
Die Webers hielten keinem Blick mehr stand, doch die Art wie sie Löcher in die Umgebung starrten, sagte genug.
»Wollen Sie damit sagen, ihr Benjamin hat schon einmal ein Mädchen verge…«
»Versucht!«, unterbrach Jennifer Veronikas Vermutung. »Versucht! Es ist nie zum Äußersten gekommen. Aber deshalb haben wir ja auch alles getan, ihn von Mädchen wie ihrer Tochter fernzuhalten. Es wäre auch nichts passiert, wenn Ihre Sabrina…«
»Ben und Mädchen?«, hakte Darran nach, der sich die Zusammenhänge des deutschen Gesprächs zusammenreimte. Er schüttelte enttäuscht den Kopf. »Scheiße. - Und der Junge sah so nett aus.«
»Er ist auch nett«, beteuerte Jennifer. »Ein ganz lieber Junge.«
»Okay, was jetzt? Polizei? Küstenwache?«, fragte Darran mit dem Blick zu den Degenhards.
»Haben die eine Chance, zwischen den ganzen Inseln ein kleines Segelboot zu finden?«, wollte Manfred wissen.
Darran brach in wilde Geschäftigkeit aus. »Sie sind weg seit...« Er schaute auf die Uhr, rannte dann zu seinem Laptop, auf dem er die aktuelle Windgeschwindigkeit ablas. Er rechnete im Kopf, rannte zu einer an der Wand hängenden Seekarte des Gebietes und fuhr mit dem Finger darüber. »Der Radius müsste sich eingrenzen lassen«, sagte er.
»Das darf doch alles nicht wahr sein. Nicht schon wieder.«
Jennifer tippelte aufgeregt im Kreis und schüttelte die Hände, als seien sie nass. Ihr Atem raste.
»Beruhige dich, Schatz«, versuchte ihr Mann, auf sie einzuwirken und ihren Gang, mit einem sanften Griff um ihre Schultern, zu stoppen.
*****
Das Boot wäre beinahe gekentert. Blitzschnell hatte Benjamin im letzten Moment die Ruderpinne herumgerissen und das Schlimmste verhindert. Doch mit dem Schreck verschwanden auch all die wilden Fantasien auf einen Schlag aus seinem Kopf. Nun schaute er voller Entsetzten auf das, was passiert war.
Er hatte es schon wieder getan. War er wirklich verrückt? Krank? Bilder von zermürbenden Verhören durch den Schulleiter schwirrten durch seinen Kopf, die Scham seiner Eltern und ihre Vorhaltungen, Sitzungen bei Psychologen. Das wollte er nie mehr wieder erleben, doch jetzt… Das Mädchen lag bäuchlings über seinen Oberschenkeln, die Hände auf den Rücken gefesselt. Wie sollte sie keine Angst haben? Alle hatten Angst vor ihm. Dabei wollte er doch gar nichts Böses tun. Er wollte es tun. Alle taten es? Warum durfte er nicht? Wieso ließen Mädchen sich vor aller Augen auf dem Schulhof betatschen und knutschten herum? Und wenn er in trauter Zweisamkeit auch einmal anfassen wollte, war es Belästigung, ja, versuchte Vergewaltigung, hatte eine Mutter ihm sogar vorgeworfen.
Aber lag sie so falsch. Er schaute auf das Mädchen auf seinen Schenkeln. Wieso hatte er das Seil gegriffen? Diesmal war es nicht nur festhalten und anfassen. Diesmal war es mehr.
Selbst wenn er ihre Fesseln jetzt wieder löste. Sie würde verlangen, zurückgebracht zu werden, dann würde sie ins Hotel rennen, ihren Eltern alles erzählen.
Er dachte daran, wie sehr er seine Eltern wieder enttäuscht hatte. Seine Mutter würde ihm wieder Vorhaltungen machen und ihn wahrscheinlich keine Sekunde seines Lebens mehr unbeaufsichtigt lassen. Und diesmal war er nicht in Deutschland. Philippinische Polizei, philippinische Gefängnisse. Eine Panikwelle erfasste ihn. Das würde er nicht durchstehen.
Für einen Moment flog der Gedanke durch seinen Kopf, über Bord zu springen. Dann wäre alles ein für alle Mal vorbei. Er wäre eins mit dem Ozean und die Mädchen dieser Welt sicher vor ihm. Aber nicht einmal das konnte er tun.
Sabrina mochte zwar eine schnelle Auffassungsgabe haben, aber sie würde es nicht schaffen, das Boot alleine zurück zu segeln. Sein Selbstmord wäre dann auch ihr Tod. Vielleicht würde sie hoffnungslos abtreiben, vielleicht kentern. Nein, nicht einmal diese Option blieb ihm.
Er sah auf ihren knackigen Po, der verlockend nah unter seiner Nase zu ihm aufreckte. Er spürte die Wärme ihres Körpers auf seinen Schenkeln. Ein Schweißfilm hatte sich zwischen ihrer und seiner Haut gebildet. Sie roch verführerisch, wobei er nur das Vanillearoma aus der Duftkomposition identifizieren konnte, vermischt mit dem salzigen Geruch des Meeres.
Er sog kühlende Meeresluft ein, hielt sie einen Moment an und entließ sie dann in einem schicksalsschweren Seufzer. Es half nichts.
Er griff nach dem Seilende, zog die Schlaufe auf und ließ es zu, dass sie sich von seinen Oberschenkeln schob. Sie sprang jedoch nicht von ihm weg, wie die anderen Mädchen, sondern sank auf die Sitzbank neben ihn. Sie wirkte verwundert. Konnte sie vor Schreck noch gar nicht begreifen, was gerade passiert war?
Ben traute sich nicht, sie anzusehen, wartete auf ängstliche oder hasserfüllte Vorwürfe. Erst dann fiel ihm ein, dass er dieses Mal keine zu hören bekäme. Er wusste aber nicht, ob er sich darüber freuen sollte, oder ob die Sprachlosigkeit nicht schwerer wog, als jeder Vorwurf.
Sie rutschte von der Bank auf die Knie und ging auf alle Viere. Vermutlich waren ihre Knie vor Angst ganz weich. Dann erkannte Ben, dass sie zu ihrem Tablet kroch. Es lag auf dem Boden des Boots und rutschte im Wellengang vor und zurück. Sie griff es, setzte sich zurück auf die Bank und reichte es ihm. Der Bildschirm war schwarz. Ben hatte sie ja gewarnt, dass es kaputt gehen könnte. Als einer seiner Finger jedoch das Touchscreen berührte, leuchtete es auf.
»Es funktioniert noch«, sagte er in der Hoffnung, dass sie das ein bisschen versöhnen könnte.
Sabrina bedeutete ihn mit einem Nicken, auf den Bildschirm zu schauen
.
»Und was ist jetzt mit deinem Wunsch?«
Hatte sie gar nicht verstanden, was vorgefallen war, schoss Ben als Erstes durch den Kopf. Dann schaute er vollkommen verwundert auf den Bildschirm. Wann hatte sie das überhaupt geschrieben?
*****
Jennifer bekam einen Nervenzusammenbruch. Mit vereinten Kräften schafften ihr Mann, die Degenhards und Darran sie in ihren Bungalow, wo man ihr ein paar Beruhigungstropfen gab.
Manfred war zwar gefasster, als seine Frau, aber auch er konnte keine Ruhe finden. Thomas überzeugte ihn, weder Polizei noch Küstenwache einzuschalten. Seiner Meinung nach gab es außer der Ahnung der Webers keinen wirklich konkreten Grund, so viel Wirbel zu machen. Dem stimmte Manfred erst zu, als Darran anbot, mit seinem Motorboot auf die Suche zu gehen. Veronika versprach, bei Jennifer zu bleiben, und saß sie am Bett der Frau, während die Männer sich auf die Suche nach ihren Kindern machten.
Jennifer schlief nicht. Sie lag erschöpft in ihren Kissen. Hin und wieder rann eine Träne aus ihrem Augenwinkel. Veronika hielt ihre Hand und streichelte mit der anderen beruhigend darüber.
»Hübsches Zimmer«, sagte sie in dem Versuch, ihre neue Bekannte auf andere Gedanken zu bringen. »Und eine tolle Aussicht.«
Jennifer sah ihr offen ins Gesicht und runzelte die Stirn.
»Du scheinst, dir wirklich gar keine Sorgen, um deine Tochter zu machen?«
Veronika zuckte mit den Schultern. »Sabrina kann ganz gut auf sich aufpassen.«
»Wenn es meine Tochter wäre, ich glaube, ich würde verrückt werden.«
»Ach, die beiden werden schon miteinander klarkommen.«
Jennifer schüttelte kraftlos den Kopf, womit sie Veronika nicht widersprach, sondern sich weiter über deren Ruhe wunderte. Eine Weile schaute sie aus dem Fenster, bevor sie ihren Kopf zurückdrehte.
»Darf ich dich etwas fragen?« Ihre Stimme klang vorsichtig.
»Na klar.«
»Ist es vielleicht...« Sie machte eine Pause, schein zu überlegen, ob sie diese Frage wirklich stellen durfte. »... weil es doch nicht das eigene Kind ist?«
Veronika schüttelte nicht beleidigt, aber entschieden den Kopf und lachte entspannt.
»Nein, das mit Sicherheit nicht. Mein Mann und ich lieben Sabrina abgöttisch. - Vielleicht gerade, weil sie so ist, wie sie ist. Aber vielleicht hatten auch wir ein Problem, von dem wir nichts wussten, oder wir bekommen noch eins, wofür wir sie brauchen? Vielleicht haben wir aber einfach nur Glück, so einen besonderen Menschen bekommen zu haben.«
Jennifer verstand kein Wort. Ihr Gesichtsausdruck war ein einziges Fragezeichen.
»Na ja, dass sie so ohne jeden medizinischen, wie psychischen Grund nicht sprechen will, ist nicht das einzig Besondere an ihr. Sie...« Veronika brach ab. »Nicht so wichtig.«
Jennifer war zu schwach für eine wirklich ermunternde Geste. Sie rieb nur mit dem Daumen Veronikas Handrücken.
»Nein, das ist ... das glaubt sowie so niemand?«
»Was?«
»Ich weiß nicht einmal, wie man es nennen soll«, erklärte Veronika mit hochgezogenen Schultern. »Sie hat irgendwie etwas Besonderes. Mir fällt wirklich nur das Wort ›Magie‹ dafür ein.« Sie lachte unsicher. »Bestimmt hältst du mich jetzt für verrückt.«
Jennifer schüttelte den Kopf, womit sie log, doch sie wollte mehr wissen.
»Das erste Mal passierte es, als sie fünf Jahre alt war«, berichtete Veronika mit dem Blick durch das Fenster, der jedoch in die Vergangenheit zu schweifen schien. »Wir haben im Krankenhaus meinen Patenonkel besucht, der einen Herzinfarkt hatte. Für Sabrina hatten wir Stifte und Malbuch mitgenommen, wie man das halt so macht, um ein Kind ein bisschen zu beschäftigen, wenn Erwachsene sich unterhalten wollen. Sie schien auch ganz brav und so vertieften wir uns ins Gespräch, bis wir plötzlich merkten, dass sie das Zimmer verlassen hatte. Wir liefen raus, fragten bei den Schwestern. Das Kind war weg. Da war ich in Panik. Nach über einer Stunde hat eine Schwester sie schließlich gefunden. Sie war zwei Zimmer weiter gegangen, in dem eine Frau im Sterben lag. Ich werde das Bild nie vergessen. Sabrina saß auf der Bettkante und hielt die Hand der Frau.«
Jennifer und Veronika guckten gleichzeitig auf ihre Hände, die sich hielten, und lächelten sich an.
»Ja, so ungefähr«, fuhr Veronika fort. »Als mein Mann und ich ins Zimmer kamen, schaute Sabrina uns an. Mir gingen tausend Dinge durch den Kopf. Eine Frau beim Sterben. Verkraftet mein fünfjähriges Kind das schon? Und dann schlug die Frau die Augen auf. Sie sah uns an, dann Sabrina. Ich habe nie ein glücklicheres, ja, seligeres Lächeln gesehen als das dieser Frau. Und dann war sie tot. Sabrina machte keine Zeichen, was los sei. Sie legte die Hand der Frau ganz behutsam auf deren Brust, sprang von der Bettkante, nahm Thomas’ und meine Hand und ging mit uns raus, als hätte sie ihre Oma zum Kaffeetrinken besucht.«
Jennifer richtete ihren Oberkörper schwerfällig auf und stützte sich auf den Ellenbogen ab.
»Willst du damit sagen, mein Sohn wird sterben?«
»Um Gotteswillen, nein«, beteuerte Veronika. »Sabrina ist keine Todesbotin oder so. Sie spürt irgendwie, wenn jemand ein Problem oder einen Mangel hat und sie hat die Macht, es zu ändern. Also, die verrückteste Geschichte ist, als sie einen Tiger vom Liebeskummer befreite.«
Jennifer stieß einen spontanen, wenn auch kraftlosen Lacher aus.
»Wie?«
»Sie war in der neunten Klasse und musste ein Berufspraktikum machen. Tierpflegerin. Sie bekam einen Platz in einem kleinen Zoo in der Lüneburger Heide, nicht weit von uns. Vor allem einheimische Tiere und alte Haustierrassen, aber um dann doch etwas mehr Publikum anzuziehen gibt es dort auch Schneeleoparden und einen sibirischen Tiger. Als Sabrina ihr Praktikum dort machte, verweigerte dieser Tiger das Essen. Er wurde untersucht. Zahnprobleme, körperliche Gebrechen, Fehlanzeige. Er wollte einfach nicht fressen. Ein paar Tage, nachdem Sabrina ihr Praktikum dort begonnen hatte...«
»Fraß er wieder?«, vermutete Jennifer.
»Wenn es das nur gewesen wäre, dann hätte es auch Zufall sein können. Nein, nach ein paar Tagen, als Sabrina sich besser auskannte, nahm sie ein Stück Fleisch und ging zu dem Tiger auf die Anlage. Also, nicht an den Rand oder die Gitter, nein, rein ins Gehege. Kein Schutz zwischen einem ausgehungerten Dreihundertkilokiller und meiner Tochter. Ein Glück wurde mir alles erst nachher berichtet. Wenn ich es selber gesehen hätte, hätte mich vermutlich der Schlag getroffen. Aber dieser Tiger hat ihr nichts getan. Sie konnte mit ihm spielen. Das habe ich am nächsten Tag mit eigenen Augen gesehen. Die haben sich gekabbelt wie zwei junge Hunde auf der Stadtparkwiese. - Na ja, beim ersten Mal war im Park natürlich helle Aufregung. Zum Glück war Sabrina so vernünftig, erst nach Schließung des Zoos auf die Anlage zu gehen. Also, das Publikum hat nichts davon mitbekommen, aber die Pfleger natürlich. Entsprechend wurden Sabrina, ihre Klassenlehrerin und wir am nächsten Tag zum Direktor des Zoos zitiert, weil sie natürlich eklatant gegen Sicherheitsvorschriften verstoßen hatte. Der Direktor wollte sie eigentlich rausschmeißen. Doch mitten in der Standpauke steht Sabrina auf, geht zu einem Büroschrank und holt einen Aktenordner heraus. - Da sibirische Tiger in freier Wildbahn so selten sind, gibt es unter den Zoos ein weltweites Zuchtprogramm, um den Genpool zu vergrößern. - Sie schlug eine Seite darin auf mit einer Tigerin und legte sie dem Direktor vor die Nase. Es stellte sich heraus, dass diese Tigerin für die Zucht vor einiger Zeit in diesem Zoo mit dem Kater zusammengeführt wurde. Und es muss wohl richtig gefunkt haben. Biologisch gibt das keinen Sinn. Tiger sind ausgesprochene Einzelgänger. Aber dieser Tiger tickte offenbar anders. Und Sabrina kann so etwas spüren, oder Gedankenlesen oder sonst was. Es ist nicht zu erklären. Dass diese Tigerin dort war, wusste Sabrina nicht, wo welche Akten im Büro stehen, konnte sie auch nicht wissen, aber ... sie hat sie zielsicher gefunden. Von da an hat sie den Tiger nach Ende der Besuchszeit von Hand gefüttert. Also, sie hatten da so ihr Jagdspiel. Sabrina rannte in der Regel mit dem Fleischstück davon und das Vieh hinter her. Ich sag dir, da wird dir mulmig im Bauch, wenn sich so ein Riesenmonster auf dein Kind stürzt. Und das ging so lange, bis die Verhandlungen mit dem Besitzerzoo der Tigerin, nicht zuletzt durch eine großzügige Spende eines Mäzen, zu einem erfolgreichen Ende gebracht wurden. Seit dem ist alles prächtig. Schon zweimal Nachwuchs. Und auch der Tigerin kann Sabrina sich bis heute gefahrlos nähern, sogar den Kleinen.«
Jennifer sah sie ungläubig an. Die Geschichte war einfach zu fantastisch.
»Und was heißt das für Benny?«
Veronika zuckte mit den Schultern.
»Keine Ahnung? Ich weiß nicht, was dein Sohn für ein Problem hat, aber eins weiß ich: Vor dieser Reise wollte Sabrina unbedingt ein paar Segelschuhe haben. Bis gestern hätte ich gesagt: ›Ist wohl gerade angesagt bei den jungen Leuten.‹ Doch als du gestern meintest, Benjamin segele, wusste ich, da ist wieder irgendetwas im Busch.«
»Willst du damit sagen, Sabrina wusste, dass sie Ben hier treffen wird?«
Veronika zog die Schultern hoch.
»Ich weiß nicht, was in ihrem Kopf vorgeht. Ob sie in die Zukunft schauen kann, oder, ob eine andere Macht sie leitet und sie beim Kauf der Schuhe auch noch nicht wusste, wofür sie gut sind. Wenn du sie fragst, schaut sie dich an, als wüsste sie nicht, worüber du sprichst. Manchmal glaube ich, sie ist sich dieser besonderen Fähigkeiten selber nicht bewusst, und manchmal, dass sie ihr so selbstverständlich vorkommen, dass sie unsere Fragen danach einfach nicht nachvollziehen kann. Aber eines habe ich gelernt: Ihr zu vertrauen.«
»Wenn ich das auch nur könnte«, seufzte Jennifer.
*****
Ben verstand nicht, was hier gerade vor sich ging. Wer hatte das geschrieben? Hatte sie wirklich nicht kapiert, was er versucht hatte?
Plötzlich spürte er etwas in sich, eine Art Impuls. Dieser zwang ihn, ihr in die Augen zu schauen, diese leuchtenden Augen. Ihr Blick wirkte wissend, aber nicht im Sinne von: >Sie hatte die Situation durchschaut<, sondern von >allwissend<.
Sein Herz begann zu flattern. Dieses merkwürdige Etwas, dieser Impuls, raste durch seinen Kopf, erfüllte sein tiefstes Inneres und ihm wurde klar: Sie wusste alles; all seine Fantasien um gefesselte Frauen, all seine Angst vor Einsamkeit, seine Panik, vielleicht nie ein Mädchen abzubekommen und seine verzweifelten Versuche, dies mit schierer Körperkraft zu erzwingen.
Was musste sie jetzt von ihm denken? Er konnte ihrem Blick nicht mehr standhalten und schaute zu Boden. Dort lag das Seilende, mit dem er sie gefesselt hatte. Er spürte, dass sie wusste, was er ansah. Und dann schoben sich ihre Hände in sein Blickfeld, die Handgelenke eng aneinandergelegt.
War das eine Aufforderung?
Bens Herz donnerte wie ein Vorschlaghammer auf einen Amboss. Durfte er? Wollte sie wirklich, dass er...?
Mit zittrigen Fingern hob er das nasse Seil auf. Ganz langsam und behutsam, so als könne er ein scheues Tier verscheuchen, legte er eine Windung um ihre Handgelenke.
Sie wehrte sich nicht.
Er wollte gerade einen Knoten machen, als er innehielt.
»Ja, das ist mein Traum. Aber es ist nur richtig, wenn es auch deiner ist.«
>>Dann mach!<<
Ben fühlte sich, als pumpe jemand pures Helium in seinen Körper. Sein Brustkorb öffnete sich. Alles erschien frei und leicht. Er zog das Seil durch die Schlaufe und wollte festziehen, als eine Böe das Boot erfasste.
Reaktionsschnell legte Ben einen Arm um Sabrina, stemmte die Beine in den Boden, warf sich gegen die Kipprichtung, während seine andere Hand das Ruder griff und gegenlenkte. Der Wind gab nicht auf. Ben drückte dagegen. Für einen Moment hielten sich die Kräfte im Gleichgewicht, dann holte der Wind Atem. Das Boot sackte zurück. Ben und Sabrina sahen sich erleichtert an.
Bens Erleichterung folgte jedoch der Wunsch nach einem Schrei der Wut. Das schönste Mädchen der Welt war bereit, mit ihm seine Träume zu leben und sie saßen in diesem Boot fest. Sein Blut kochte und sein Penis pochte, doch es war zu gefährlich.
Sabrina hingegen lächelte nur, hob ihre gefesselten Hände und zuckte mit den Schultern ganz so, als wolle sie sagen: >Ich bin deine Gefangene. Bring mich hin, wo du willst.<
Die Insel. Ben schlug sich vor den Kopf. Vor zwei Tagen hatte er eine winzige Insel entdeckt, wie man sie aus Karikaturen kannte, nicht mehr als ein bisschen Sand mit einigen Palmen in der Mitte.
»Ich kenne eine Insel.« Er schaute auf das GPS-Gerät und den Kompass. »Sie ist nicht weit von hier.«
Sabrina nickte und setzte sich auf der Bank zurecht.
Ben schnappte sich das Trapez, warf sich hinein, reckte sich aus dem Boot und legte es so hart an den Wind, wie er konnte. Sein ganzer Körper kribbelte vor Aufregung. Es schien ihm, als könne er die Billionen Blutkörperchen spüren, wie sie ihn in ihrer rasenden Fahrt an den Wänden seiner Adern kitzelten. Das Segelboot flog förmlich über das Wasser und doch schien die Zeit, nicht vergehen zu wollen. Immer wieder schien sie stillzustehen, wenn er auf dieses unglaubliche Mädchen schaute.
Ihr nackter Körper war eine Sensation, jeder Blick auf ihn, ein neuerlicher Genuss; so als sähe man ihn wieder und wieder zum ersten Mal. Gleichzeitig wuchs das Vertrauen in die Situation. Wie lange saß sie nun schon nackt neben ihm? Es fühlte sich an, wie eine Ewigkeit. Und sie tat nichts, es zu ändern. Selbst das Seil, das nicht wirklich eine unüberwindbare Fessel darstellte, hatte sie noch nicht abgestreift.
Endlich erschien eine Reihe schwarzer Punkte am Horizont. Die Insel lag in einem Streifen Mehrer, aber sie war ihm als die Schönste erschienen. Sie hatte den schönsten Strand und die wenigsten Felsen, so dass man ungefährdet anlanden konnte. In der Mitte war Platz genug für zwanzig oder dreißig Palmen, deren Wurzeln den Sand zusammenhielten und anderen Sträuchern und Gräsern die Chance gegeben hatten, sich anzusiedeln.
Als er nah genug heran war, sprang er auf, reffte die Segel, ging unter Deck und zog das Schwert ein. Der Restschwung reichte aus, bis das Boot sanft auf dem sandigen Untergrund auflief. Er schnappte sich den Anker, sprang ins Wasser, das ihm bis an die Oberschenkel reichte, und kämpfte sich an Land, wo er eine Spitze in den Sand trat. Dann kehrte er zurück und hob Sabrina aus dem Boot.
Sie war nicht wirklich schwer für ihn, obwohl sie höchstens fünf oder sechs Zentimeter kleiner war, als er. Aber vermutlich verlieh ihm das erhebende Gefühl, sie berühren zu dürfen, diese Kraft. Einen Arm unter ihrer Kniebeuge, einen unter ihren Achseln. Dort, wo seine Hand um ihren Oberkörper fasste, berührten seine Finger schon fast ihre Brüste und in den Kuppen kitzelte das Verlangen nach mehr.
Plötzlich straffte sich das Seil, mit dem ihre Hände gefesselt waren. Die Schlaufe zog sich auf und die Wicklungen rutschten von ihren Handgelenken.
Ben verfluchte sich. Das Seil war natürlich mit dem Boot verbunden. Schweren Herzens stellte er Sabrina im Wasser auf den Füßen ab. Hoffentlich war das jetzt kein Stimmungskiller für sie. Er sprang zurück zum Boot, kramte ein paar Ersatzleinen aus einer Kiste. Dabei fiel sein Blick auf ihre Strandtasche. Er erkannte die Nase eines Delfins auf einem Badetuch. Als unter Lage vielleicht nicht schlecht.
Er griff die Tasche. Sie wartete im Wasser stehend auf ihn und ging erst weiter, als er wieder bei ihr war. Er verharrte einen Moment, denn es war unmöglich, sich an ihrem Anblick sattsehen. Und sollte er jetzt wirklich...?
Wie zur Antwort drehte sie ihm den Rücken zu und legte diesmal dort die Handgelenke aneinander.
Ein eisiger Schauer rann Bens Rücken herunter und verwandelte sich in seinem Bauch in kochend heiße Lava. Er führte sie am Oberarm auf den Strand, stellte die Tasche ab und nahm das kürzeste Seil. Windung für Windung legte er es um ihre Handgelenke, zog das Restseil zwischen den Gelenken hindurch und machte einen Knoten.
Jetzt gehörte sie ihm. Eigentlich hatte er gehofft, diese Gewissheit würde ihm etwas Ruhe geben, doch es stachelte seine Fantasien nur noch mehr an. Sein Herz raste, als er hinter sie trat und seine Hände auf ihre weiche Haut legte. Er drückte ihren Körper an sich, seine Hände wanderten ihren Bauch hinauf. Er hatte noch nie nackte Brüste berührt und doch hatte er immer gewusst, dass es sich genau so anfühlen müsse, nein, es fühlte sich noch tausendmal besser an. Er massierte diese Kugeln zarten Fleisches, als wollte er dieses unglaubliche Gefühl herauskneten. Dabei konnte er gar nicht anders, als ihr den Hals zu küssen. Sie schnurrte ein langgezogenes »mmmh«.
Zusammen sanken sie auf die Knie. Sabrina ließ ihren Kopf auf den Sand sinken und reckte ihm ihren knackigen Po entgegen. Diese Rundung war so frech. Er musste ihr einfach einen Klaps geben. Sie quietschte vergnügt und er schlug noch einmal zu, doch nun wurde der Druck in seiner Hose übermächtig, denn sein Blick viel natürlich auch auf ihre feuchte Mitte. Dazu diese devote Haltung. Ihr Oberkörper auf dem Boden, ihr Hinterteil in der Höhe, die Hände gefesselt.
Er zog sich mit einem Ruck Shorts und Unterhose gleichzeitig herunter. Sein bestes Stück federte voller Spannkraft, er nahm es, richtete es aus. - Und sie warf sich auf die Seite.
Bens Herz blieb stehen. Bekam sie jetzt doch noch Angst? Hatte er etwas falsch gemacht?
Ihr Kopf zuckte. Nein, es war ein Nicken. Bens Stirn kräuselte sich. Was wollte sie ihm sagen? Sie schien in eine Richtung zu deuten.
»Deine Strandtasche?«
Heftiges Nicken.
Er kroch zur Tasche, zog sie zu sich und blickte hinein. Was konnte sie wollen? Als Erstes entdeckte er einen durchsichtigen Plastikbeutel. Zunächst dachte er an eine Bonbontüte, auch wenn die Größe und die Form nicht wirklich zu den darin enthaltenen, eingepackten Kleinigkeiten passte. Der eigentliche Inhalt war in quadratischen, rot weiß gestreiften Plastikpäckchen verpackt. Nein, die weißen Streifen waren Schrift: London.
Es dauerte noch zwei Sekunden, bis im klar wurde, dass er auf einen Beutel voll Kondome guckte. Er riss die Augen auf? Wie viele waren das?
Ihre braunen Augen schauten in seine und funkelten vor Erwartung. Egal wie viele. Jetzt brauchte er erst einmal eins. Ben griff die Tüte, zerrte am Plastik. Ratsch. Die Hälfte des Inhalts regnete über den Strand. Ihm war es egal. Er nahm eines, riss die Verpackung auf und zog das zusammengerollte Gummi heraus. Seine Finger zitterten vor Aufregung. So hart sein Liebeskrieger sich auch rekte, es war nicht so einfach, das Kondom darüber zu bekommen. Es war so dünn und so seifig und auf und ab, konnte sein Penis noch genug wackeln. Verzweiflung stieg in ihm auf. So dicht vor dem Ziel und jetzt das!
Sabrina kämpfte sich auf die Knie und machte mit einem hörbaren Schnappen auf sich aufmerksam. Als Ben sie ansah, reckte sie ihren Oberköper, schürzte die Lippen und öffnete leicht ihren Mund.
Ben stürzte das Herz bis in seine heruntergezogenen Hosen. Sein Penis war schon seit Stunden eine eisenharte Keule, doch nun schoss noch ein Schwall kochendes Blut hinein. Er stand auf, ging, sogut die Hosen um seine Fußgelenke die zuließen, zu ihr und hielt ihr das Kondom vor das Gesicht.
Sie nahm das Spermareservoir zwischen die Lippen und nährte sich seinem besten Stück. Ihr Mund berührte seine Eichel. Als ihre Lippen sich darüber stülpten, erzitterte den Boden. Das saugende Gefühl machte ihn wahnsinnig. - Es war wunderbar. Es war wunderbar. Es war... das erste verbrauchte Kondom des Tages.
Bens Knie gaben nach. Er ließ sich in den Sand neben sie sinken und atmete schwer. Als er wieder etwas bei Sinnen war, legte er einen Arm um sie und zog sie dicht an sich heran.
»Das war...«
»Schsch«, zischte sie beruhigend. Er schwieg und so lagen sie eine Weile einfach nur da. Dann sah er zum Boot.
Die Spitze des Bugs lag auf dem Trockenen. Das Wasser lief ab. So konnte er es unmöglich zurück ins tiefere Wasser schieben. Zu schwer
.
»Wir sitzen hier eine Weile fest, bis die Flut wieder hoch genug ist«, erklärte er.
Sie lachte. Plötzlich spürte Ben ihre Hände an seinen Seiten. Sie kitzelte ihn durch, bis er sich krümmte. Dann schmiss sie ihm das Seil, mit dem er sie gefesselt hatte, vor die Füße, schüttelte ihr Hände, als Zeichen, dass sie sich befreien konnte, in der Luft und rannte lachend davon.
Er sprang auf und preschte ihr nach.
*****
Die Webers und die Degenhards saßen im Restaurant beim Frühstück, wobei die Degenhards wirklich etwas aßen, während die Webers mehr auf ihr Essen starten. Jennifer rührte mit ihrem Löffel in ihrem Müsli, das mittlerweile zu einem Brei aufgequollen war.. Manfred hatte sich vor fünfzehn Minuten ein Brötchen aufgeschnitten, seit dem lagen die Hälften unbeachtet auf seinem Teller.
Plötzlich kam Darran auf die Terrasse gestürmt und rief aufgeregt: »Das Boot ist wieder da. Das Boot ist wieder da.«
Die Suche der Männer war den Tag über erfolglos geblieben. Mit dem Einbruch der Dunkelheit waren sie in den Hafen zurückgekehrt. Darran hatte versprochen im Hafenmeisterbüro zu bleiben und sich sofort zu melden, wenn das Segelboot mit Benjamin und Sabrina zurückkehrte.
»Ich muss wohl etwas eingenickt sein«, gab er kleinlaut zu. »Sie müssen tief in der Nacht zurückgekommen sein. Aber das Boot ist da.«
Jennifer Weber wurde von Darrans Aufregung angesteckt. Sofort wieder in Angst und Hektik versetzt, berichtete sie: »Aber Benny war heute Morgen nicht in seinem Zimmer. Ich habe extra noch einmal nachgeschaut.«
Thomas Degenhard, der sein Gesicht hinter einer drei Tage alten, deutschen Zeitung verborgen hatte, murmelte nur: »Dann werden sie wohl in Sabrinas Bungalow gegangen sein.«
Manfred Weber sprang auf, rannte schon einige Schritte, entschied sich dann aber auf seine Frau zu warten, die etwas länger brauchte, aufzustehen.
»Wo wollt ihr hin?«, fragte Thomas und lugte über seine Zeitung.
»Na wo wohl?«, entgegnete Manfred.
»Wenn die Kinder gestern spät in der Nacht zurückgekommen sind, werden sie vermutlich noch schlafen.«
»Und wenn nicht?«, wandte Jennifer ängstlich ein.
»Dann will ich sie noch weniger stören«, antwortete Thomas und wies auf die Plätze der beiden. »Setzt euch und frühstückt in Ruhe. Sie sind wieder da. Dann werden sie auch irgendwann auftauchen.«
»Aber wir, ich, die beiden, wenn jetzt«, stammelte Jennifer.
Veronika stupste ihren Mann mit dem Ellenbogen sanft in die Seite. Mit einem langgezogenen Stöhnen faltete dieser die Zeitung zusammen, legte sie auf den Tisch und erhob sich.
»Wenn es denn unbedingt sein muss.«
*****
Sabrina erwachte durch ein Klopfen an der Tür. Sie musste sich einen Moment sammeln. Die Ereignisse des letzten Tages waren zu aufregend gewesen. Gerade ihr letzter Orgasmus, bei dem Ben sie stehend zwischen zwei Palmen gefesselt hatte und von hinten genommen hatte, steckte ihr noch als süße Erinnerung in jeder Faser ihres Körpers.
Sie lag eng an ihn geschmiegt im Bett ihres Schlafzimmers. Daran, dass er ihre Fesseln noch gelöst hatte, bevor sie angelegt hatten, mochte sie sich noch nicht so recht gewöhnen. Das Spiel hatte Spaß gemacht und sie hatte es nicht gerne unterbrochen. Aber es wäre sicher zu missverständlich gewesen, hätte er sie nackt und gefesselt ins Hotel geführt. Das musste sie leider einsehen.
Doch in diesem Moment erwies sich seine Entscheidung als ganz praktisch, denn als sie die Stimme ihres Vaters hörte, brauchte sie ihre Hände.
»Sabrina, Schatz, bist du da?«
Sie klatschte einmal laut in die Hände.
Ben schreckte aus dem Schlaf. Sabrina legte ihm eine Hand auf die Brust, streichelte sie beruhigend und lächelte um Entschuldigung bittend. Von weiter her hörte er die Stimme von Sabrinas Vater. »Einmal klatschen bedeutet: ja, zweimal: nein.«
»Geht es dir gut?«
Das war seine Mutter.
Sabrina sah ihn mit gerunzelter Stirn an, beantwortete die Frage aber mit einem Klatschen.
»Ähm, und ist Benjamin auch bei dir?«
Nun wurde Ben die Situation klar. Er winkte und schüttelte wild den Kopf, damit Sabrina bloß nichts von seiner Anwesenheit verriet.
Diese verdrehte jedoch die Augen und dachte nicht im Traum daran, auf ihn zu hören. Sie klatschte wieder.
»Und ist alles in Ordnung bei euch?«
Sabrina zeigte Benjamin einen Vogel, was die eigentliche Antwort auf diese Frage sein sollte, dann aber klatschte sie abermals.
»Okay, wir sind beim Frühstück unten. Kommt ihr auch?«, fragte nun Sabrinas Mutter.
Sabrina zeigte auf die Tür und fing an, an ihren Fingern abzuzählen, wie viele Leute wohl vor der Tür stehen mochten.
Sie klatschte noch einmal.
»Okay, dann bis gleich«, sagte Thomas und Jennifer schob nach: »Und lasst uns nicht zu lange warten.«
*****
Ben kam aus dem Badezimmer. Sabrina lag immer noch nackt quer über dem Bett und spielte mit einem Handy. Er war überrascht, als er erkannte, dass es sein Handy war. Noch dazu hatte sie seine Fotos aufgerufen und schob auf dem Touchscreen des Smartphones ein Bild nach dem anderen zur Seite.
Sie hatte ihm unglaubliche Erlebnisse geschenkt und intimer als sie es geworden waren, konnte kein Mann mit einer Frau werden, und doch fühlte er seine Privatsphäre verletzt. Wenn sie gefragt hätte, hätte er ihr sicher nicht verboten, sein Handy zu nehmen. Aber es sich einfach so zu greifen...
Er räusperte sich, doch sie schien den Unmut darin zu überhören, oder sie ignorierte ihn. Sie drehte sich jedoch um, ging auf die Knie und zeigte ihm eines seiner Fotos. Einen heimlichen Schnappschuss.
»Das ist Leonie. Sie geht in meine Klasse«, erklärte Ben.
Sabrina schüttelte den Kopf und vergrößerte einen Bildausschnitt links oben. Ben nahm ihr das Handy ab und musste genau schauen, wer ihm da noch auf das Bild geraten war.
»Das ist Brillenschlange.«
Sabrina schaute ihn tadelnd an und gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf.
»Das ist ihr Spitzname, weil sie wirklich die hässlichsten Brillengestelle trägt, die es gibt. Ihr richtiger Name ist Fiona. Ziemliche Streberin. Nicht besonders beliebt.«
Sabrina stand vom Bett auf, gab Ben noch einen Schlag auf den Hinterkopf, zeigte noch einmal auf das Mädchen und zog sich dann an.
Ben musterte das Bild. Fiona hatte wirklich einen fürchterlichen Brillengeschmack und ihre Garderobe war nicht gerade besonders sexy oder auch nur modern. Zusammen mit der Tatsache, dass sie Klassenbeste war, machte sie das zu Mobbingopfer Nummer eins in der Klasse. Eigentlich hatte sie niemandem etwas getan. Und wenn jemand einmal die Hausaufgaben vergessen hatte und abschreiben wollte, dafür war sie gut genug. Vor allem gab sie sie immer heraus. -, vielleicht in der Hoffnung, dadurch mehr in die Klasse aufgenommen zu werden. Seit Jahren musste sie eine Enttäuschung nach der anderen einstecken.
Auch Ben mied ihre Nähe. Er war selbst schon nicht der Beliebteste, schließlich war er neu in die bestehende Klassengemeinschaft hinzugekommen und auch wenn niemand es wissen konnte, warum Familie Weber umgezogen war, so gab es doch Gerüchte, die in die richtige Richtung liefen. Sich mit Fiona zu zeigen, wäre sein endgültiger Ausschluss aus der Gemeinschaft.
Er erinnerte sich an die wenigen Male, in denen er ein paar Worte mit ihr gewechselt hatte. Eigentlich war sie ganz nett; keine dieser zickigen Tussies und wenn Mann mal ganz genau hinschaute. Also, wenn man sich die Klamotten einfach mal wegdachte. Eine schlechte Figur hatte sie eigentlich nicht. Und wenn man sich die Brille wegdachte...
Sabrina schnipste und bedeutete Ben, sich anzuziehen. Er warf das Handy aufs Bett und schlüpfte in seine Klamotten. Sie reichte ihm ihre Hand und er ergriff sie zuversichtlich. Doch als sie zur Tür ging, blieb er stehen.
Was würden seine Eltern sagen.
»Können wir sagen, ich sei versehentlich bei dir im Zimmer eingeschlafen?«
Sabrina lachte.
*****
»Ich kann nicht behaupten, dass ich gänzlich frei von väterlicher Eifersucht bin, wenn Sabrina mit einem Jungen zusammenkommt«, beantwortete Thomas Degenhard die letzte Frage von Manfred, »aber damit werde ich wohl klarkommen müssen. So ist nun mal der Lauf der Dinge.«
»Ah, guten Morgen, Fräulein Sabrina und Herr Benjamin«, tönte die Stimme des Concierge aus einiger Entfernung herüber. »Sehe ich da ein junges Glück?«
Die Webers richteten sich in ihren Stühlen auf und reckten die Hälse. »Halten die Händchen?«, fragte Jennifer, als sähe sie einen Marsmensch.
»Was frisch Verliebte halt so machen«, sagte Thomas, der sich wieder hinter seine Zeitung verkroch.
Der Concierge strahlte über das ganze Gesicht, als er die beiden zu ihren Eltern führte. Er hatte natürlich mitbekommen, als die aufgelöste Jennifer Weber vom Hafen zurückgebracht wurde. Er hatte ihr aus der Hotelapotheke die Beruhigungstropfen gebracht. Ob er sich mehr über das junge Glück freute oder über die Tatsache, dass all die Aufregung, sich nun als unbegründet erwies, konnte niemand sagen.
»Nun ist wieder Butter in alles, nicht wahr?«, fragte er, als sie den Tisch erreichten.
Veronika lächelte ihm zu.
»Natürlich.«
Er klatschte erfreut in die Hände, verbeugte sich und wünschte allen noch einen guten Appetit und schönen Tag.
Sabrina begrüßte ihre Eltern mit Küssen auf die Wange. Dafür ließ sie Benjamins Hand los, der sich dadurch noch verlorener vor dem Tisch seiner Eltern vorkam. Im Zimmer mit Sabrina erwischt worden zu sein, wäre ihm unter normalen Umständen schon peinlich genug gewesen, doch bei seiner Vorgeschichte, erschien ihm die Situation erdrückend. Seine Mutter hatte es ihm verboten.
Sabrina nahm ihr Tablet notierte etwas und zeigte es den Webers. Sie sahen eine Sonne mit lachendem Gesicht und die Worte »Guten Morgen«. Dazu strahlte Sabrina mit dem Smiley auf dem Tablet um die Wette.
Jennifer antwortete mit einem verhaltenen »Guten Morgen.« Sie musste sich erst einmal sortieren. Sie hatte mit dem Schlimmsten gerechnet und offensichtlich war nichts passiert; zumindest nichts, was ihre Befürchtungen bestätigte. Ihr Sohn hatte die Nacht mit einem Mädchen verbracht. Beide schienen bis über beide Ohren verknallt zu sein. Alles schien so, wie es sein sollte, wie sie es sich eigentlich immer für ihren Benny gewünscht hatte. Hatten sich all die Therapien ausgezahlt? Hatte es wirklich geklappt, ihren Sohn vor dem zu bewahren, was sie immer befürchtet hatte?
Sie schaute Sabrina an, die sich neben ihren Vater setzte und ihm ein angebissenes Brötchen klaute.
Er protestierte halbherzig: »Hol dir gefälligst selber was.«
Oder waren es nicht die Therapeuten, sondern wirklich dieses Mädchen? Es war nicht zu leugnen. Auf eine ganz besondere Weise schien sie eine Art Strahlkraft zu haben, der man sich kaum entziehen konnte. Ihre durch und durch positive Art, ihr Lachen, und auch wenn sie die Details der Nacht und vielleicht auch schon des vorherigen Tages gar nicht wissen wollte, so ging trotz allem eine Art von Unschuld von ihr aus; etwas - sie stutzte selber bei dem Gedanken - engelhaftes.
Erst nun bemerkte Jennifer, dass Benjamin immer noch wie ein Angeklagter neben dem Tisch stand. Sein Kopf glühte rot. Er schien sich schrecklich zu schämen. Am liebsten wäre Jennifer ihm voller Stolz um den Hals gefallen, doch vor all den anderen traute sie sich nicht. Außerdem wollte sie ihn nicht noch mehr in Verlegenheit bringen. Also versuchte sie, so normal wie möglich zu klingen und sagte: »Guten Morgen, Schatz. Setz dich doch. Hast du keinen Hunger?«
Sabrina bemerkte nun auch, dass Ben noch stand, packte ihn am Arm, zog ihn auf den Stuhl neben sich und gab auch ihm einen Wangenkuss.
»Habt ihr zwei gut geschlafen«, fragte Manfred. Auch er hatte noch Schwierigkeiten mit der Situation umzugehen und versuchte, so gut es ging, Normalität vorzuspielen.
Benjamin ging es nicht besser. Er hatte mit jeder Menge Ärger gerechnet. Noch dazu fühlte er sich bis auf die Knochen durchschaut, was er und Sabrina getrieben hatten. Dass nach den unglaublichen Entwicklungen gestern, auch bei seinen Eltern nicht annährend das passierte, was er befürchtet hatte, verunsicherte ihn. Durfte er auch so tun, als sei alles normal?
Sabrina rette ihn aus der Situation, in dem sie ihn mit zum Büffet zog, wo die beiden sich ihr Frühstück zusammenstellten. Als sie an den Tisch zurückkehrten, sah seine Mutter auf. Sie lächelte ihn glücklich an. Bens Herzschlag beruhigte sich. Sie war ihm nicht böse.
Sabrina löffelte ihr Müsli und schrieb dabei auf ihrem Tablet, dass sie danach zu den Webers hinüber schob.
»Ich wollte wirklich unbedingt einmal auf dem Ozean segeln. Tut mir leid, dass ich Ben überredet habe. Ich hoffe, Sie können mir verzeihen. Aber wie Sie sehen, hat er mich ja heil zurückgebracht. Ich hoffe, Sie haben sich darüber gestern nicht zu sehr aufgeregt.«
Ein kurzer Anflug von Röte zog durch Jennifers Gesicht. Sie versuchte, ihn abzuschütteln, lächelte Sabrina dankbar an und antwortete: »Nein, nein, war alles halb so wild.«
Veronika Lippen konnten ein paar Kaffeespritzer nicht zurückhalten.. Sie schnappte sich schnell eine Servierte, mit der sie versuchte, ihr Lachen buchstäblich zu unterdrücken. Auch ihr Mann hob seine Zeitung, um sein Grinsen unter Kontrolle zu bekommen.
»Freut mich, wenn es dir gefallen hat«, fuhr Jennifer fort. »Und du hattest keine Angst, dass alles einmal umkippen könnte.«
Jennifer war sich nicht sicher, ob Sabrina klar war, dass sie eigentlich nicht über das Segeln sprachen.
»Nein, ich habe mich bei Ben immer absolut sicher gefühlt«, schrieb Sabrina auf das Tablet.
Es wäre so schön, wenn das wahr wäre, dachte Jennifer. Sie schaute zu Ben und streckte ihre Hand nach seiner aus. Ihr Mann sah es und legte seine auf ihre. Die Drei sahen sich eine Weile an und schwiegen.
»Wir wollen gleich wieder zusammen rausfahren«, verkündete Ben, doch es klang mehr wie eine Frage.
»Sei vorsichtig!«, bat Jennifer.
»Und pass gut auf Sabrina auf!«, forderte sein Vater.
Ben nickte.
Mit der Erleichterung kehrte auch der Appetit zurück. Jennifer schaute in ihre Müslischale. »Was ist das eigentlich für ein Brei hier? Haben die kein richtiges Müsli? Sie stand entschlossen auf und sagte: »Irgendwie habe ich noch riesigen Hunger.«
Sabrina schrieb derweil auf das Tablet. »War nicht was mit der Flut und wann wir spätestens losmüssen?«
Ben las es, schaute auf seine Armbanduhr und sagte: »Oh, ja, wird Zeit.«
Die beiden Standen auf. Sabrina verabschiedete sich mit einem Kuss von ihren Eltern. Ben sagte zu seinem Vater: »Bis später.«
»Ja, dann Mast- und Schotbruch ihr zwei.«
Sabrina schrieb auf ihr Tablet. »Nein, da pass ich schon auf.«
Manfred Weber wurde rot.
Sie liefen auch noch einmal zum Büffet, um sich von Bens Mutter zu verabschieden. Diese stellte ihren Teller ab und konnte nun doch nicht mehr an sich halten. Sie umarmte ihren Sohn und drückte ihn fest an sich. Danach nahm sie Sabrina in den Arm.
Sie sah noch lange auf den Durchgang, durch den die beiden verschwunden waren, bevor sie zu den anderen zurückkehrte. Auch am Tisch drehte sie sich noch einmal um. Sie seufzte glücklich und sagte zu ihrem Mann. »Weißt du, was Sabrina gerade gesagt hat?«
Ihr Mann schaute sie erwartungsvoll an.
»Ben ist wunderbar und wir sollen ihm wieder vertrauen.«
Thomas Degenhard ließ die Zeitung langsam sinken. Er sah Jennifer eindringlich an und erklärte dann mit leiser aber deutlicher Stimme: »Jennifer, Sabrina spricht nicht.«
Das Rührei fiel von Jennifers Gabel, die auf dem Weg zum Mund abrupt stoppte. Und als würde das Besteck von Sekunde zu Sekunde schwerer, sank ihre Hand herunter auf den Tisch.
Sie hatte diese Worte aber nicht vom Tablet gelesen. Sie hatten sich umarmt, als Sabrina sie sagte. Sie versuchte, sich an ihre Stimme zu erinnern, an einen Klang, an das Geräusch eines Flüsterns, - doch da war nichts. Und doch wusste sie genau, dass diese Worte von Sabrina stammten.
Veronika lächelte wissend: »Glaubst du es jetzt?«
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Leichtgewicht«
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So eine detailiert beschriebene Erzählung mit ihren farbenfrohen Charakteren, ihrer romantischen Magie und nicht zuletzt ihrem blitzsauberen Schreibstil hat ja nun wirklich mehr als nur 6 Punkte verdient!
Einzig und allein die Schilderung von Benjamins Vergangenheit hätte etwas klarer sein könne. Da man sich quasi selbst zusammen reimen musste, was damals vorgefallen ist, erschien mir - abhängig von der eigenen Vorstellung - entweder das Verhalten von Benjamins Eltern etwas zu überzogen oder aber die Reaktion von Sabrinas Eltern auf die Offenbarung schlicht und ergreifend zu schwach.
Insgesamt muss ich aber sagen: Hut ab! Eine sehr schöne und durchdachte Geschichte, die man kaum besser hätte erzählen können.«
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Sehr schöne geschichte.
das einzige was ich mir gerne gewünscht hätte ist das, dass das auf der Insel ausführlicher gewesen wäre. Man hört ja nur die Andeutung zwischen den Palmen. Na vllt kommt das in der Fortsetzung, welche von mir ausdrücklich erwünscht ist.«
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Da kann man gar nicht genug von bekommen.«
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