Gewaltakte - Kapitel 6
von Dusty
Kapitel 6
Sonntag
Ich schlich schon zum dritten mal um meinen Wohnzimmertisch. Dabei war ich mir durchaus bewusst, dass mein Verhalten dem einer Katze glich, welche auf leisen Pfoten um und in gespannter Haltung die Beute einkreiste. Im Zentrum meines Interesses stand jedoch kein Tier, dem ich im geschmeidigen Angriff den Tod bringen wollte, sondern eine kunstvoll verzierte Karte. In der Mitte gefaltet stand diese Aufrecht mitten auf dem Tisch und in sie hinein gesteckt ragte oben eine blutrote Rose, drei feine Dornen an ihrem Stiel zeigend, heraus.
Auf der Vorderseite der Karte prangte in kunstvoll verschnörkelten goldenen Buchstaben zuerst das Wort "Einladung" und dann, nur leicht größer geschrieben, "Galeria Mendez". Dazu war auf dem schneeweißen Karton ein feines Muster an schwarzen und dunkelroten Ornamenten abgedruckt, welches einen kunstvollen Rand bildete und, auch das fiel mir auf, wie die Ranken einer wuchernden Wildrose seine Triebe zu den Buchstaben des Textes ausstreckte. Zweifelsfrei handelte es sich um eine sehr edle Einladungskarte, welche von stilvoller Hand gestaltet war und gediegene Exklusivität verriet.
Karte und Rose standen dort als stiller Gruß und schlichte und sehr unaufdringliche Erinnerung an Gregors Anwesenheit. Ich hatte sie gestern, nachdem ich aufgestanden war, nicht sofort entdeckt. Um so überraschter war ich dann, als ich sie fand. Es hatte nur Sekunden gedauert, bis ich in diesem bescheidenen Arrangement Gregors eindrucksvollen Stil erkannt hatte. Sein Talent mit sparsamen und wohl kalkulierten Gesten maximalen Effekt zu erzielen, erstaunte mich stets aufs neue.
Mit ihrem eindrucksvollen Rot stand diese Rose seit jeher als ein Symbol für die Geheimnisse und Leidenschaften der Liebe. Aber beide waren immer auch mit Gefahren verbunden. So wie Liebe einen Menschen bis in den Himmel heben konnte, so vermochte sie auch restlos zu zerstören. Oft genug geschah das, weil Leidenschaft den klaren Blick trübte und jene Steine der sonst so wachen Aufmerksamkeit entzog, über die man später straucheln würde. Dieser warnende Gedanke wurde sehr präsent, als ich die Dornen der Rose betrachtete.
Die Dornen waren nicht groß und alles andere als eindrucksvoll. Aber sie konnten die Haut durchbohren und das Blut desjenigen fordern, der sie ohne die gebotene Achtsamkeit berühren wollte. So lagen das Schöne und das Verletzende eng beieinander. Das machte wohl den Reiz der Rose aus, die auf diese Weise wie keine andere Pflanze ihrer Gattung für all das Treibende und zugleich Vernichtende der Menschen stand. Glück und Untergang lagen nicht selten so nahe zusammen, wie Blüte und Dornen der Rose.
Lockruf und Warnung, formulierte ich still mit den Lippen. Das war es. Dieses fortdauernde Kreisen meiner Gedanken schärfte meinen Verstand und war zugleich eine intellektuelle Ablenkung für die unerhörten Erlebnisse des Vortages, die mein bisheriges Selbstverständnis bis in die Grundfesten erschüttert hatten.
Zuerst empfand ich nach meinem zweiten Erwachen gestern nur Leere. Dieses mal wusste ich, dass Gregor gegangen war. Nichts stimulierte mehr meine Sinne, kein fremder Atem und kein feines Kräuseln zeigten sich auf der Haut. Einzig eine völliges emotionales Vakuum waren geblieben. Es war keine Erschöpfung, wie sie nach großer Anstrengung auftrat, sondern vielmehr eine geradezu vollkommene Entladung aller Energien. Ich fühlte mich weder gut noch schlecht.
Doch so wie der Schlaf verflog, kehrte das Leben in meinen Körper zurück. Mit diesem füllte sich das Vakuum und langsam, aber mit unheimlich ansteigender Konstanz, baute sich ein Gefühl totaler Erniedrigung auf. Erschüttert fragte ich mich selbst, zu was ich mich da hingegeben hatte. Zwar war der Schmerz der Schläge längst verflogen, wenngleich ich noch ein deutliches Ziehen an meinem Hintern spürte. Doch der Zustand meines Bettes sprach Bände und verriet deutlich, was sich nur Stunden zuvor darin abgespielt hatte.
Als ich genug Kraft gesammelt hatte floh ich geradezu aus dem Schlafzimmer. Damit versuchte ich mich dem aufkommenden Sturm quälender Erinnerungen zu entziehen. Dieser Gedanke trieb mich aus dem Schlafzimmer. Ziellos und noch nicht in der Lage mich dem Erlebten zu stellen war ich durch die Wohnung geirrt. Ich fühlte mich schutzlos und grenzenlos einsam. Niemand streckte Halt gebend die Hand zu mir aus, noch war da ein Seil, das meinen Fall bremsen sollte. Dann fand ich die Karte mit der Rose darin.
Im ersten Moment hatte mich eine unsägliche Erleichterung überkommen. Dachte ich zuvor noch, Gregor hätte mich zurück gelassen wie einen gebrauchten Lumpen, so wusste ich jetzt, dass er nicht ohne ein für ihn so typisches Zeichen gegangen war. Er hatte seinen stillen Abschiedsgruß so fein dosiert, dass mir der Atem stockte. Unwillkürlich musste ich in diesem Moment an ein sehr populäres Gleichnis denken, dass oft in christlichen Predigten verwendet wurde. Niemand fällt tiefer als in Gottes Hand. Genau so fühlte ich mich, nachdem ich die Karte entdeckt hatte.
Mit der Karte und der Rose setzte Gregor einen überaus feinfühligen Punkt hinter eine überaus ausschweifende Orgie. Enthemmt hatten wir unseren Gefühlen freien Lauf gelassen, als gäbe es kein Morgen und keine Konsequenzen. Als ich dann schlief und dem unvermeidlichen Moment des Erwachens entgegen dämmerte, da baute Gregor mir mit respektvoller und vorausschauender Geste diese kleine Brücke, die mich in die Wirklichkeit rettete.
Obwohl ich neugierig war, bereitete ich mir zuerst ein schamlos verspätetes Frühstück zu. Dann erst studierte ich die Karte näher. Der feine Duft meines aromatischen Kaffees hing noch in der Luft, als ich die Einladung endlich in die Hand nahm und ihren Inhalt las.
Auf der linken Innenseite der Karte war die halb fertige, fast nur schemenhaft erkennbare Radierung einer nackten Frau abgedruckt. Die zweifellos sehr junge Schönheit war von großer und sehr schlanker Statur. Ihre langen Beine hielt sie, aufrecht stehend, über kreuzt. Dabei zeigte sie sich frontal dem Betrachter, hielt aber den Kopf gesenkt, so dass nur der Mittelscheitel ihrer langen Haare und kein Gesicht zu erkennen waren. Die Schultern nach vorn gezogen hielt sie ihre Arme ausgestreckt nach unten, diese ebenfalls überkreuzend und dabei die rechte Handfläche auf dem linken Oberschenkel ruhend und vis-a-vis. Die Stelle, wo sich ihre Arme überlappten, verdeckte dabei zugleich die Scham der Frau. Die fein akzentuierten Muskeln ihrer Bizeps dagegen versperrten die Sicht auf ihre Brüste. So regte das Bild, obwohl es keinen Zweifel an der vollkommenen Nacktheit der in geradezu klassisch-griechischer Pose dargestellten jungen Frau aufkommen lies, geschickt die Fantasie des Betrachters an.
Auf der rechten Innenseite waren die Ornamente nur am oberen Rand und von dort bis zur Mitte des äußeren rechten Randes reichend aufgedruckt. Im Gegensatz zur Vorderseite waren die Ornamente allerdings hier nur von schwarzer Farbe. Von diesen rankten sich jedoch dünne Triebe in die Mitte, die dann kunstvoll, in blutroter Farbe ausgeführt, zu einem Text auf blühten.
„Ich erlaube mir Sie, als geschätzten Kunstliebhaber, zu unserer Ausstellung MALERISCHE KONNOTATION in den Räumen meines Ateliers einzuladen. Neben meinen eigenen Werken dürfen sie zahlreiche und sorgfältig ausgewählte Arbeiten von Studenten der Kunstakademie bewundern. Im Mittelpunkt dieser exklusiven Ausstellung stehen anregende Vermischung von Sehen und Phantasie, von Klarheit und Geheimnis. Ich laden sie ein, gemeinsam mit anderen Gästen und mir, eine Entdeckungsreise zu den Wurzeln künstlerischer Motivation zu wagen. Die Galerie öffnet für einen handverlesenen Liebhaberkreis am kommenden Sonntag ab 12:00 Uhr mittags. Es wäre mir eine große Freude sie dort begrüßen zu dürfen.“
Es folgte die Adresse des Ateliers. Soweit ich das sehen konnte, handelte es sich um eine der gehobeneren Gegenden der Stadt. Sie passte damit zu der eindrucksvollen und sehr aufwendigen Gestaltung der Einladung. Es gehörte wenig Vorstellungskraft dazu, den Personenkreis der eingeladenen Personen in eher vermögenden gesellschaftlichen Schichten zu vermuten.
Auf dem unteren Drittel der Seite stand noch eine handschriftliche Ergänzung. Diese war mit blauer Tinte hinzugefügt und zeigte eine grazile und überaus schöne Schrift. Für mich bestand kein Zweifel, dass es sich dabei um Gregors Handschrift handelte.
„Liebe Sandra, Sie würden mir eine große Freude machen, wenn Sie mich zu dieser Ausstellung begleiten. In Erinnerung an unser überaus angenehmes Gespräch in meiner Bibliothek könnte mir auch sehr gut vorstellen, dass die Galerie ihrem Geschmack entspricht. Ich schicke ihnen am Sonntag um 13:00 Uhr ein Taxi, das sie zu der angegebenen Adresse bringen wird. Ich freue mich sehr auf einen inspirierenden Nachmittag in ihrer Gesellschaft. Gregor.“
Zuerst hatte ich mir eingeredet, ich wüsste nicht, ob ich die Einladung annehmen sollte. Die Beziehung zu Gregor hatte mich schon soweit gebracht, dass ich mich selbst zu belügen anfing. Dabei wusste ich tief in meinem Inneren, dass ich die Einladung ganz sicher nicht ausschlagen würde. Der Verstand mochte sich sträuben. Aber mein Herz und ein Verlangen, vom tiefen Grund meiner Seele kommend, gaben längst den Ton an.
Der Lärm tobender Kinder, der vom Hinterhof bis herauf zu meinen nur angelehnten Fenster drang, rief mich in die Wirklichkeit zurück. Es war noch eine gute Stunde, bis ich abgeholt würde. Seufzend wischte ich vorerst die Erinnerungen an gestern beiseite und ging ins Bad.
Dort machte ich mich sorgfältig zurecht. Ich tat es weniger wegen Gregor und noch weniger aus dem Bedürfnis gut auszusehen. Es lenkte mich schlicht und einfach ab und überbrückte die Wartezeit quälende Wartezeit.
Ich wählte sehr bequeme Shorts und ein die Figur betonendes luftiges und ärmelloses Shirt als Kleidung. Dazu schlüpfte ich in sehr legere Segeltuchschuhe. Ich Spiegel überprüfte ich meinen Gesamteindruck. Die Kleidung war sommerlich und sehr lässig, stand mir aber hervorragend, wie ich fand. Die Shorts zeigte viel von meinen Beinen und das Shirt erlaubte von der Seite her einen kecken Blick auf meinen Busen, den ich mit einem Bikini-Oberteil gegen allzu freche Aufmerksamkeit verhüllt hatte.
Ich war zufrieden mit meinem Aussehen. Meine Anspannung hatte sich gelegt und auch das unangenehme und sicherlich meist ergebnislose Grübeln war fort. Von der Küche her hörte ich vertraute Klänge aus dem dort vor sich hin dudelnden Radio. Ich stand einen Moment still und lauschte dem Lied, das gerade gespielt wurde.
„You say that we've got nothing in common ...“
Ich erkannte die Melodie als ein Lied von der Gruppe Deep Blue Something. Ich mochte es sehr, ganz besonders wenn ich in melancholischer Stimmung war. Erfreut summte ich mit und bewegte leicht meinen Kopf zum Rhythmus des Liedes.
„No common ground to start from ...“
Mit wippenden Oberkörper ging ich hinüber zum Schlafzimmer.
„And we're falling apart ...“
Dort angekommen tanzte ich schon fast zur Melodie.
„You'll say the world has come between us ...“
Im Schlafzimmer öffnete ich meinen Kleiderschrank.
„Our lives have come between us ...“
Summend nahm ich aus dem oberen Regel meine Schmuckkiste und stellte sie vor mich in eines der unteren Fächer, wo ich deren Deckel aufklappte.
„Still I know you just don't care ...“
Vor mir, auf dem schwarzen Samt, mit dem das Kästchen innen ausgekleidet war, glitzerten der goldene Armreif, die Ohrringe und die dazu passende Kette, die ich von Andrea und Gregor bekommen hatte. Ein warmer Schauer raste durch mein Herz, als aus dem Radio der Refrain des Liedes schmetterte.
„And I said what about, breakfast at tiffany's
She said: I think I, remember the film
And as I recall, I think,we both kinda liked it
And I said: well, that's the one thing we've got.“
Von ganzem Herzen sang ich jede Zeile des Refrains mit. Heute traf es wieder perfekt meine Stimmung. In meinem Kopf hallte „breakfast at tiffany's“ immer noch nach. Inspiriert von diesem großartigen Lied sah ich jetzt dem Treffen mit Gregor viel optimistischer entgegen.
Das Gold der Schmuckstücke hatte einen warmen Glanz. Wenn man innerlich sehr aufgewühlt war, dann konnte man den Reiz, den das wertvolle Edelmetall auf die Menschen ausübte, gut verstehen. Seine Wärme verlieh ein seltsames Gefühl von Sicherheit und Zufriedenheit.
„And I hate when things are over
When so much is left undone ...“
Ich legte die Kette an und streifte den Armreif über. Der Schmuck und die Musik hatten eine belebende Wirkung auf mich. Die letzten Reste düsterer Gedankenfetzen verschwanden endgültig, als ich lauthals zum zweiten mal den Refrain mit sang. Da signalisierte die Klingel an der Tür auch schon mein Taxi. Erwartungsvoll und ziemlich heiter gestimmt verließ ich die Wohnung.
Das gleißende Sonnenlicht während der Fahrt tat sein übriges. Die hellen Straßen mit ihren satten Farben und dem überaus kräftigen Grün der Bäume wirkten belebend. Es war eine Freude, die Blicke dahin gleiten zu lassen. Die positive Stimmung versetzte auch meinen Intellekt in neue Aufnahmebereitschaft. Gespannt sah ich dem Ausstellung entgegen und freute mich auf einen interessanten Nachmittag. Gregor hatte sich schon mehrfach als ein sehr intelligenter und unterhaltsamer Unterhalter bewiesen. In seiner Gesellschaft bestand wenig Gefahr auf Langweile. Es würde mich wundern, wenn er nicht auch zu Bildern reichhaltige und tiefgründige Gedanken ausbreiten würde.
Nach einer dreiviertel Stunde erreichte das Taxi das Atelier. Der Fahrer hatte mir vorher bereits versichert, dass der Transport komplett geregelt sei und bereits bezahlt war. So verabschiedete ich mich und trat vor das Gebäude. Es handelte sich um einen ebenerdigen Flachbau mit viel Glas, der direkt an ein mehrgeschossiges Geschäftshaus anschloss. Die niedrige Bauweise gab den Blick die Kronen von noch recht jungen Linden frei, die offensichtlich dominierendes Element einer noch jungen kleinen Parkanlage hinter dem Haus waren.
Die Straße säumten hingegen auf beiden Seiten mächtige Kastanien, die auf ein altes, gewachsenes Viertel schließen ließen. Die Grundstücke in der Nachbarschaft waren alle sehr gepflegt und die Fassaden der Häuser machten einen noblen Eindruck. Hier lebten und arbeiteten Menschen, die einen gewissen Status zeigen wollten.
Vor dem Atelier empfingen zwei junge Frauen die Gäste und boten ihnen einen zur Begrüßung und Einstimmung Sekt an. Es war einiges los und die meisten Gäste trugen zu meiner Erleichterung ebenfalls ungezwungene Freizeitkleidung. Dezent auf die große Glasfront aufgetragene Werbung verriet, dass im Gebäude verschiedene Kunstwerke zum Verkauf angeboten wurden.
Für einen kurzen Augenblick überfiel mich die unbestimmte Angst, meine Freundin Andrea hier zu treffen. Aber dann beruhigte mich schnell selbst dahingehend, dass Gregor das sicherlich zu verhindern wusste. Ich nahm eines der angebotenen Sektgläser und trank es, sorgfältig die anderen Besucher musternd, etwas abseits im Schatten einer der Kastanien. Die Stimmung war gelöst und die meisten unterhielten sich angeregt. Ich kannte jedoch niemanden, was nicht besonders verwunderlich war. Auch Gregor war nicht unter den Gästen vor dem Atelier, in dem immer wieder Gäste verschwanden oder aus diesem heraus kamen.
Ich trank mein Glas aus und ging zum Eingang. Freundlich aber bestimmt verlangte dort der stämmige Mitarbeiter eines privaten Sicherheitsdienstes meine Einladung. Er akzeptierte diese durch Nicken und wies mir höflich den Weg ins Gebäude.
Im Empfangsbereich befand sich ein kleiner Tresen und direkt daneben eine gemütliche Sitzgruppe aus Ledersesseln, welche eine Reihe Grünpflanzen umgaben. Ansonsten war alles eher spartanisch gehalten und verriet ein feines und sehr ordentliches Unterstatement. Die leicht in ockerfarben gehaltenen Wände zierten unaufdringlich angebrachte Zeichnungen und Malereien. Kleine Schilder darunter verrieten Titel und Künstler und manchmal auch Erläuterungen.
Neben dem Tresen führte ein breiter Durchgang in die hinteren Räume. Ein kleines Schild mit einem Pfeil wies den Bereich dahinter als Ausstellungsräume aus. Ich schlenderte hindurch.
Dahinter gingen von einem zentralen Raum drei größere Säle weg. In der Mitte des zentralen Raumes stand eine Skulptur. Sie zeigte einen fein gearbeiteten Männerkörper, die auf dem Boden kniete und mit der rechten Hand über das reliefartig darin eingelassene Gesicht einer Frau strich. Es sah fast so aus, als würde er es vom Staub befreien. Es war eine eindrucksvolle Arbeit mit einer bemerkenswerten Ausdrucksstärke.
Eine Lichtschleuse aus Milchglas im Dach warf ein sehr weiches und natürliches Licht auf die Szenerie. Die Augen der Frau, von der ja nur das Gesicht zu sehen war, waren geschlossen. Es schien als würde sie schlafen, für alle Ewigkeit im Boden eingeschlossen und von diesem behütet. Ihre friedlichen und entspannt entwickelten Züge schienen das nahe zu legen. Der Mann hingegen sah nachdenklich auf die Frau hinunter. Seine Hand war dermaßen gut modelliert, dass man den Eindruck hatte, er wagte fast nicht das Gesicht der Frau zu berühren. Ich war tatsächlich ergriffen.
„Was halten sie von dieser Arbeit?“
Irritiert und überrascht von der unerwarteten Tatsache hier angesprochen zu werden, drehte ich mich um. Die Stimme klang mir vollkommen fremd. Hinter mir, vielleicht zwei Schritte entfernt, stand ein junger Mann. Er war ungefähr von meiner Größe und zeigte einen sportlichen und sehr schlanken Körperbau. Sein dichtes und geradezu pechschwarzes Haar war kurz geschnitten und betonte sein jungenhaftes Äußeres, auch wenn sein Alter sicherlich schon bei Mitte zwanzig zu liegen schien. Die sonnengebräunte Haut und seine sehr dunklen Augen gaben ihm einen exotischen Anschein. Ich vermutete, dass in seinen Adern südeuropäisches Blut floss.
Lächelnd, die Arme hinter seinem Rücken verschränkt, sah er mich an. Er trug modische Sportschuhe, eine weiße Hose und ein schwarzes Polohemd. Die Kleidung war sicherlich nicht billig, auch wenn die Label darauf mir nichts sagten.
„Die Skulptur ist faszinierend.“ gab ich zu. „Sehr ausdrucksstark und die Fantasie anregend.“
„Ich gab dieser Arbeit den Namen Vergänglichkeit.“ sagte mir der Unbekannte und nickte zustimmend.
„Vergänglichkeit?“ fragte ich interessiert.
„Ja.“ Er trat neben mich. „Wir alle sind vergänglich und zerfallen zwangsläufig wieder zu dem Staub, aus dem wir einst entstanden. Die Tragik dabei ist nicht die Tatsache der Vergänglichkeit als solches. Dafür gäbe es Trost. Das Schmerzhafte ist die Chronologie. Für Vergänglichkeit gibt es immer Zeugen. Letztere müssen den Schmerz ertragen und sie müssen sich lösen und loslassen. Dafür steht diese Arbeit.“ Mit intensiver Gestik und einer angenehmen Stimme erläuterte er mir den Hintergrund des Werkes. Seine Begeisterungsfähigkeit zur Thematik war nicht zu überhören. „Sehen sie das Gesicht der Frau? Noch ist gut zu erkennen. Doch bald werden die Finger des Mannes immer weniger Details ertasten können.“
Erstaunt sah ich den Mann an. Das war eine sehr schöne Erläuterung. „Sie haben diese Figur erschaffen?“
„Das habe ich.“ bestätigte der Mann. „Aber entschuldigen sie bitte. Ich vergaß mich vorzustellen. Ich bin Rafael Mendez, der Inhaber dieser Galerie. Ich bin ein wenig erstaunt. Die meisten meiner Kunden meinte ich zu kennen und es wäre unverzeihlich, wenn ich eine bezaubernde Person wie sie vergessen haben sollte. Aber ich kann sie beim besten Willen nicht einordnen.“
In diesem Augenblick fühlte ich mich wie ein Fremdkörper hier an diesem Ort. „Nun, ich bin hier auch zum ersten mal. Ein guter Bekannter lud mich hierher ein. Vielleicht kennen sie ihn. Sein Name ist Gregor Weißhaupt. Ich bin Sandra, Sandra Wegner“
Rafael zog die Augenbrauen hoch. „Gregor?“ fragte er erstaunt. „Interessant.“
Ich errötete bei seiner letzten Bemerkung. Ich war mir nicht sicher, ob er womöglich etwas über unserer Beziehung wusste.
Sofort half mir Rafael über den Moment der Unsicherheit hinweg. „Wollen wir uns gemeinsam nach Gregor umschauen? Das erlaubt mir einen Moment länger die sehr angenehme Erfahrung ihrer Gesellschaft und sie finden Gregor. Einverstanden?“
„Einverstanden.“ antwortete ich sofort. Ich musste zugeben, die Gesellschaft Rafaels empfand auch ich trotz der gerade überstandenen Verlegenheit als sehr wohltuend. Rafael stellte zum Glück keine weiteren Fragen zu meinem Hintergrund und schlenderte mit mir durch die Ausstellung.
Die größeren Säle hatten alle wenigstens eine Glasfront, welche ausreichend Tageslicht herein ließen. Ein künstliche Beleuchtung war kaum erforderlich. Dennoch tauchten geschickt angebrachte Spots
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