Herzblut
von Andre Le Bierre
Es war am letzten Tag des Jahres, in dem Jahr ein Samstag. Ich war gerade auf meiner letzten Tour als Kurierfahrer für das Jahr unterwegs. Ich war allerdings nicht der Einzige, der an Silvester arbeiten musste. Meine Tour endete gegen den frühen Nachmittag mit dem Ausladen der Ware in der Lagerstelle des Kunden. Die Wochenendtouren der anderen Fahrer eines weiteren Subunternehmens endeten an der gleichen Stelle. Ich hatte gerade meinen Sprinter in die Tiefgarage gefahren. Meine CD im Autoradio lief noch ziemlich laut und aus den Boxen brüllte es: „I am a Gigolo...“
Ich hatte die Fahrertür schon auf und den Motor abgestellt. Dann ging ich zum Heck des Lieferwagens und öffnete die Türen. Ich schloss die Lagerhalle auf und stellte den Rollwagen aus dem Auto in den Eingang. Als ich aus der Halle kam, fuhr ziemlich rasant ein weiterer Sprinter in die Tiefgarage und stoppte quer kurz hinter meinen geöffneten Türen. Der Fahrer stieg aus und öffnete ebenfalls seine Türen. Dann drehte er sich um und lächelte mich an. „Hi!“, sagte er und setzte dann seine Rampen an die Ladefläche, um seine Ware auszuladen. Ich hatte den Fahrer schon ein paar Male gesehen. Zuerst sah ich ihn ein paar Wochen zuvor, als er mir half einen meiner Rollwagen aus dem Sprinter zu holen. Wir wuchteten ihn zusammen aus dem Auto. Danach machte er Feierabend und fuhr nach Hause.
Da hatte er mich schon so nett angelächelt. Eine Woche später ließ er mich von seinem Kollegen grüßen. Ich war überrascht, freute mich aber. Nun stand er vor mir und ich packte seinen Wagen. Ich zog ihn die Rampe hinunter und stellte ihn neben meinen in den Eingang. Er holte den zweiten Wagen und stellte ihn ebenfalls dorthin. Dann schob er die Rampen in den Sprinter zurück. Ich setzte mich auf die Ladefläche meines Wagens und beobachtete ihn. Er sah nett aus. Er trug eine schwarze Freizeithose und ein helles Hemd. Seine schwarzen Haare waren hoch gestylt. Um das Handgelenk trug er ein Lederband. Seine Füße steckten in hellen, ziemlich neuen Turnschuhen.
„Wird Zeit, dass wir Schluss machen!“, sagte ich und holte meine Zigarettenschachtel aus der Innentasche meiner Weste. Sein Klamottenstil gefiel mir. Das war genau meine Kragenweite. Ich wippte etwas nervös mit meinen neuen grauen Schuhen mit Abrollsohle hin und her und bot ihm eine Zigarette an. Doch er sagte, ich solle sie wieder einstecken. Er holte eine Packung „Prince“ aus seiner Tasche und streckte mir die geöffnete Box vor die Nase. Er lächelte wieder, wie bei der Ankunft und stellte seinen hellen Turnschuh genau neben mir auf die Ladefläche. Dann beugte er sich zu mir hinunter und gab mir Feuer mit seinem Zippo. „Danke!“, sagte ich und grinste zurück. Sein Fuß blieb neben mir stehen und er pustete den ersten Qualm seiner Zigarette in Ringen in die Luft. „Und du willst Schluss machen? Schade, schon nach so kurzer Zeit ...“, lachte er. „Scherzkeks!“, konterte ich.
„Naja...“, sagte ich. „Ist ja schließlich Silvester!“, sagte ich und erinnerte mich daran, dass ich mit meiner Freundin Sandra am Abend zu einer Silvesterfete bei Freunden eingeladen war, und das nach dem heftigen Streit am Morgen. Ich hatte auch nicht wirklich Lust auf die Fete. „Oh! Du hast noch was vor?“, fragte er etwas traurig. Da sah ich auf und seufzte: „Ja, leider. Wir sind eingeladen zu einer Fete. Dabei habe ich überhaupt keinen Bock und überhaupt …“, fing ich an zu erzählen und sprach über den Streit und darüber, dass es schon seit Monaten bei uns kriselte.
Erst dachte ich, er hätte das „wir“ überhört. Es stellte sich heraus, dass er Pascal hieß. Ein wirklich süßer Typ. In seinem Gesicht schimmerten leicht die Bartstoppeln. Ich schätzte, dass er sich den Tag zuvor rasiert hatte. Er beugte sich zu mir herunter und nahm meinen Kettenanhänger, einen Engel, zwischen die Finger. „Hübsch!“, sagte er und ließ ihn wieder zurück in meinen Ausschnitt fallen. Ich hatte den Anhänger einfach auf ein Lederband gezogen. Dann sah ich, wie sein Blick zu meinem Ohrring wanderte. Pascal versprühte einen leicht süßlichen Duft. Er trug kein Parfum, das ich kannte. Vielleicht war es auch nur ein Deo, aber das war bestimmt nicht für Herren. Unsere Blicke trafen sich mehrere Male, bis ich meine Zigarette aufgeraucht hatte und diese zwischen meinen Beinen auf den Boden fallen ließ. Er hob den Fuß von der Ladefläche und trat zwischen meinen Beinen die Zigarette aus. Er kam mir wirklich nah. Ich wurde leicht nervös und zog den Schlüssel aus der Tasche.
Dann stand ich auf und sah ihn an. „Und du? Was machst du heute Abend?“ Pascal sah auf den Boden und seufzte: „Sekt trinken, Raketen in die Luft jagen und … ach ich weiß nicht!“ Er hatte also gar nichts vor. Eine Weile standen wir beide ziemlich verlegen nebeneinander. Als ich dann endlich meine Türen vom Sprinter schloss, spürte ich ihn hinter mir stehen. Seinen Atem spürte ich in meinen Nacken und ich fühlte seine Hände an meiner Hüfte. Dann flüsterte er: „Also wenn du süßen Sekt magst ...“
Dann entfernte er sich und stieg in sein Auto. Mir stockte der Atem. Ich musste mich beeilen. In Windeseile schwang ich mich ins Auto und folgte dem weißen Sprinter, in dem er saß. Eine ziemlich rasante Verfolgungsjagd durch unsere Kleinstadt endete in der Straße mit den Hochhäusern. Gegenüber in der kleinen Siedlung war ich aufgewachsen. Meine Eltern wohnten in einem kleinen Haus, waren aber vor Jahren schon weggezogen. Ich parkte mein Auto auf dem großen Parkplatz genau links neben seinem Sprinter. Ich stieg aus und ging um das Auto. Plötzlich packte mich Pascal und drückte mich gegen die Türen meines Lieferwagens, legte eine Hand in meinen Nacken und küsste mich ganz sanft. Seine Lippen waren total weich und schmeckten nach mehr. So dicht vor meinem Gesicht hauchte er ganz leise: „Und deine Party? Deine Freundin? Silvester?“ Es war mir egal. Ich schwieg und sah in seine dunkelbraunen Augen. Er lächelte und drehte sich um. Dann ging er zum Haus, ein Wohnblock.
„Warte!“, sagte ich und sah im hinterher. Er drehte sich zu mir um und reichte mir seine Hand. Ich griff zu und ließ mich hinter ihm herziehen. Er ging schnellen Schrittes quer über den Parkplatz zur Eingangstür des Wohnblocks. An seinem Handgelenk baumelte ein geknüpftes Freundschaftsbändchen. „Dann hast du dich wohl entschieden!“, lachte er leise und wühlte mit der anderen Hand den Schlüssel aus seiner rechten Hosentasche. Er schloss die Tür auf und drückte die Metalltür mit der schon gesprungenen Gitterscheibe auf. Die Tür ins Ungewisse … ?
Irgendwie kam es mir vor, wie im Traum. In dem viel zu dunklen Treppenhaus flackerte ein künstliches Neonlicht. Die Wände waren mit Graffiti beschmiert und dazwischen waren einfach nur Tags auf die Wand gesprüht. Der alte Fahrstuhl knirschte schon und brauchte eine Ewigkeit in die sechste Etage, wo wir dann ausstiegen. Das Haus versprach von außen, wie es innen aussah. Auf der linken Seite war die Wohnungstür von Pascal. Er schloss sie auf und bat mich hinein. Ich kam in eine helle Wohnung. Der Fußboden war mit hellem Laminat ausgelegt. Wie ich vermutete, waren dort zwei Zimmer, ein kleiner Balkon, Bad und Küche. Die ganze Wohnung wurde von den Farben Schwarz und Weiß dominiert. Zwischen drin gab es bunte Eyecatcher im 80er Jahre-Stil. An der Wand hingen alte Metallschilder von Coca-Cola, Guinness und Löwenbräu. An der Decke hing eine kleine Discokugel. Einen Meter daneben hing ein Spotlight.
An der Wand gegenüber des schwarz-weißen Wohnzimmerschranks war die Wand schwarz gemalt. Oben in der Ecke hing eine Schwarzlichtröhre. In dem ziemlich modernen Schrank stand eine Anlage aus silbernen Bauteilen der Marke JVC. Obendrauf stand ein silberner Plattenspieler mit beleuchtetem Plattenteller. So ein Teil hatte ich schon mal damals in unserem Jugendzentrum gesehen. Daneben standen ein CD-Rack und zwei Ständer mit Vinylplatten. Beim genaueren Hinsehen, erkannte ich, dass es eine Sammlung von alten Maxisingles war.
Die mussten einen enormen Wert haben, denn die Titel waren fast ausschließlich Discomusik der 80er Jahre. Ich sah ihn an. „Boah ist das fett! Du hast noch einen Plattenspieler?“ Pascal legte seinen Schlüssel weg und lachte. „Ja, und rate mal, woher der ist...“ Ich schüttelte den Kopf. „Nee, oder?“, sagte ich. Aber er nickte. „Ja, Andre. Das ist der letzte Plattenspieler aus der alten JUZ-Discoanlage. Und die Maxis kommen auch fast alle daher. Das war ein absoluter Traum. Das Musikangebot ging von Mike Mareen über Alphaville, Bronski Beat, Modern Talking, Hubert K., Soft Cell bis hin zu U2 und Fury in the Slaughterhouse. Dann sah ich einen alten Röhrenfernseher von Pioneer in Silber. Daneben standen Sat-Receiver, DVD-Player und eine andere Kiste. Beim zweiten Mal Hinsehen sah ich, dass es eine Spielkonsole war. „Sega Megadrive?“, fragte ich überrascht. Er nickte. „Ja, irgendwie bin ich in den 80ern hängen geblieben! Ich weiß, das ist schlimm. Aber ich schwöre, es ist nicht ansteckend!“
Ich sah mich weiter um und bemerkte das schwarze Ledersofa. „Altes Erbstück von meinem Vater!“, dokumentierte er. „Sieh dich ungeniert um!“, grinste er und führte mich durch die kleine Wohnung. Im Schlafzimmer war es ebenso schwarz-weiß. Der Kleiderschrank aus schwarz laminiertem Holz hatte Spiegeltüren. An der Decke hingen Spiegelkacheln verteilt und das Metallbett hatte eine schwarz bezogene Matratze von 160er Breite. Die Bettwäsche war mit schwarz-weißem Notenmuster bezogen. Schwarze Jalousien verdeckten die Fenster. Jetzt waren sie noch auf Lichteinfall gedreht.
Er schaltete das Licht ein. Am Deckenstrahler waren drei farbige Glühbirnen eingeschraubt. Eine weiße Sparlampe zeigte zum Kleiderschrank. Eine Blaue war zur Decke gedreht und die Rote zeigte genau aufs Bett. „Das sieht abends echt geil aus“, sagte Pascal und bot mir etwas zu trinken an. Wir gingen wieder in den Wohnraum. Ein leicht süßlicher Duft seines Parfums zog durch den Raum. „Aber du willst sicherlich den Megadrive versuchen?“, fragte er und gab mir ein Glas mit alkoholischem Getränk. Ich konnte mich einfach nur satt sehen an dem Style der Wohnung und bekam gar nicht mit, was er mir anbot. Ich roch an dem süßlichem Getränk und nippte. „Das ist ja ...“, wollte ich gerade raten, was im Glas war. „Southern Comfort mit Ginger Ale. Schmeckt´s dir?“, fragte er und stellte sich genau vor mir hin, sah mich an und legte seine Hand an meine Hüfte. Dann gab er mir einen Kuss auf die Wange.
Seine Nähe machte mir überhaupt nichts aus. Es fühlte sich an, als würde ich ihn schon ewig kennen. Zugegeben, ich dachte auch schon, dass ich ihn schon mal gesehen hatte. Ich wusste bloß nicht, wo. „Komm, setz dich!“, sagte er und schaltete Fernseher und Megadrive ein. Ich stellte mein Glas auf den Glastisch vor uns. Dann vertieften wir uns in die Spiele auf dem Megadrive.
Wir hatten gar nicht mit bekommen, wie spät es war. Die Zeit rannte und es wurde dunkel draußen. Wir mussten schon mindestens drei Stunden gespielt haben, aber es brachte ja auch Spaß. Ich wusste zu dem Zeitpunkt nicht, dass ich Silvester komplett vergessen würde. Es gab einfach zu viel zu sehen und Pascal war wahnsinnig nett und so normal zu mir, als wäre er wie ein Bruder. Wir schalteten die Lichtanlage ein. Das Spotlight war ein Power Flower mit bunten Lichtern, der über die Kugel Lichtpunkte in der ganzen Wohnung verteilte. An der schwarzen Wand waren Phosphor-Sterne, die vom Schwarzlicht angeleuchtet wurden. Die Atmosphäre war angenehm. Wir setzten uns auf den Balkon auf die Sommerliegen. Das wir bis dahin schon die vierte Mischung getrunken hatten, hieß, dass ich auf jeden Fall nicht mehr fahren konnte. Meine Zigaretten gingen mir langsam aus und plötzlich zog Pascal eine Schachtel Prince Denmark aus der Tasche. „Hä? Wo hast du die denn her? Das Design gibt es gar nicht mehr!“, sagte ich überrascht. Er grinste und gab mir Feuer. Die Schachtel musste er weit über fünfzehn Jahre aufbewahrt haben. Allerdings war der Tabak auch dementsprechend stark.
Doch der Geschmack war eindeutig. Ich nippte noch ein Mal an dem Glas und sagte: „Man Pascal, das habe ich das letzte Mal getrunken, als ich 16 oder 18 Jahre alt war. Pascal nickte und sagte: „16!“ Dann leerte er sein Glas. Das war eine seltsame Bemerkung, aber ich hakte nicht nach. Dann beugte er sich zu mir rüber und fragte: „Hörst du das?“ ich nickte. Es war das Bellen der Nachbarhunde. War ja auch kein Wunder, wenn die Jugendlichen hin und wieder laute D-Böller zündeten. Ich sah nach oben und bemerkte, dass wir einen glasklare Nacht hatten. Man konnte viele tausend Sterne sehen. Im Hintergrund lief die Musik der Maxisingles. Pascal war im Besitz eines Wechselaufsatzes sowohl für Singles als auch für Maxisingles, ein seltenes Zubehör für den Plattenspieler. Dann fing Pascal an, zu erzählen: „Hörst du das nicht? Das Gebell der Hunde … Es ist wie damals. Weißt du? Man kann das auch alles ignorieren und ein neues Leben anfangen. Aber irgendwann steht di
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Kommentare
(AutorIn)
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Andre Le Bierre
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Kieler7
Viel Spaß beim Schreiben«
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MarcLelky
Könnte auch das erste Kapitel einer längeren Geschichte sein, aber es macht sich auch als abgeschlossenes Werk sehr gut.«
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