Picknick
von Terginum
Sie hatte sich ins Badezimmer geschleppt und sah sich mit halbgeöffneten Augen im Spiegel an. Die letzten Tage waren nicht spurlos an ihr vorübergegangen und hatten dunkle Augenringe hinterlassen. Das kalte Neonlicht über dem Spiegel ließ ihre Haut aschfahl, beinahe durchscheinend, wirken.
Leicht schüttelte sie den Kopf und drehte den Wasserhahn auf. Kaltes Wasser sammelte sich zu einem kleinen Rinnsal in ihren Händen. Sie tauchte ihr Gesicht ein und merkte, wie das Wasser ihre Lebensgeister wieder weckte.
Als sie erneut in den Spiegel sah, war die Blässe in ihrem Gesicht ein wenig verschwunden und in ihre Augen kehrte das Leben zurück.
Sie drehte den Wasserhahn zu und verließ fluchtartig das Badezimmer. Hastig eilte sie durch die Diele in ihr Schlafzimmer, hielt in der Mitte des Raumes inne und strich sich eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht.
Sie musste sich anziehen; er würde bald da sein und wartete nicht gerne. Mit einem leichten Anflug von Panik öffnete sie den Kleiderschrank und sah hinein. Es war sehr warm, also entschied sie sich schnell für ein dünnes Sommerkleid und rannte zurück in das Badezimmer. Kaum war sie mit Duschen fertig und hatte sich das Kleid übergestreift, klingelte es an der Türe. Sie stieß einen kleinen Fluch aus und eilte zur Eingangstüre. Einmal tief Luft geholt, und sie öffnete die Türe.
Da war er und wieder rauschte es in ihren Ohren, wenn sie ihn ansah. Wie immer war er perfekt gekleidet, eine dunkle Stoffhose mit breitem schwarzen Gürtel und ein dünnes weißes Hemd, dessen oberste Knöpfe offen standen. Das Hemd zeigte einen schönen Kontrast zu seinem dunklen Teint, den er immer sofort hatte, wenn die Sonne nur kurz um die Ecke schaute. Er lehnte lässig am Türrahmen und hatte sein Sakko über die Schulter geworfen. Die braunen Haare waren vom Wind zerzaust und sein leichter Dreitagebart machte ihn unheimlich männlich. Seine braunen Augen schauten sie belustigt an.
„Lässt du mich herein, oder muss ich weiter draußen stehen, damit du mich anschauen kannst?“
Sie räusperte sich verlegen und ging einen Schritt zurück, damit er eintreten konnte. Im Vorbeigehen legte er seine freie Hand um ihre Hüfte und zog sie an sich. Sein langer Kuss raubte ihr den Atem und ihre Knie fühlten sich an wie Pudding. Als er sie wieder losließ, schaute er sie ernst an.
„Du siehst ziemlich kaputt aus, hast du dir wieder die ganze Nacht Gedanken gemacht?“
Verlegen schaute sie zu Boden und merkte, wie ihr Kopf rot anlief. Sie brachte keinen Ton heraus und konnte nur still nicken. Er drückte sie an sich, ihr Kopf lag auf seiner Brust und sie konnte sein Herz schlagen hören. Tief atmete sie seinen Geruch ein, sein After Shave kribbelte in ihrer Nase.
„Zieh dir Schuhe an, wir fahren etwas raus aufs Land.“
Sie löste die Umarmung und sah ihn überrascht an. Ihre Stimme klang sehr dünn, als die Frage aus ihr heraussprudelte.
„Wo fahren wir denn hin?“
Er lächelte geheimnisvoll.
„Das sage ich dir nicht, lass dich überraschen. Ich glaub einfach, dass dir ein wenig frische Luft gut tun würde und du auf andere Gedanken kommst. Also keine Widerworte, mach dich fertig.“
Sie wusste, dass es zwecklos war, nun weiter nachzubohren. Also ging sie und machte sich schnell fertig. Sie spürte, dass er sie dabei beobachtete. Es dauerte nur einige Minuten, dann hatte sie die Schuhe an und ihre Handtasche fertig. Gemeinsam verließen sie die Wohnung, und als sie aus der Haustüre kamen, empfing sie strahlender Sonnenschein und die dicke Luft der Stadt hüllte sie ein. Es war später Vormittag und ziemlich viel Betrieb auf der Straße. Er öffnete ihr die Türe seines Cabrios, ging dann um das Auto herum und stieg auf der Fahrerseite ein. Mit einem leisen Surren öffnete sich das Dach und verschwand im Kofferraum. Er startete den Motor und fädelte sich im Verkehr ein.
Sie lehnte sich zurück und ärgerte sich, dass sie ihre Sonnenbrille vergessen hatte. Wo hatte sie das verdammte Ding auch wieder hingelegt? In Gedanken fing sie an, ihre Wohnung zu durchsuchen, aber sie kam nur bis kurz hinter die Eingangstüre. Seine Stimme holte sie zurück ins Auto.
„Ich möchte dich gerne verstehen... Wieso schlägst du dir die Nächte um die Ohren und machst dir so viele Gedanken?“
Sie schluckte, er hatte es also noch nicht abgehakt.
„Ich hab einfach Angst, dass ich dich enttäuschen könnte. Ich möchte dich nicht verlieren.“
Er lächelte und legte seine Hand auf ihr Knie.
„Du wirst mich nicht verlieren. Seit wir zusammen sind, bin ich der glücklichste Mann in der Stadt. Warum setzt du dich nur so sehr unter Druck, vertrau’ mir doch einfach.“
„Ich vertrau’ dir ja... und das blind. Wir sind schon so lange befreundet, dass du mich besser kennst als jeder andere Mensch. Aber was ist, wenn es nicht passt mit uns, dann werde ich dich verlieren.“
„Das ist Blödsinn, du bist die perfekte Frau für mich und es wird sich nichts ändern. Du hast einfach nur Angst, wieder verletzt zu werden. Aber gerade du solltest wissen, dass ich nicht so bin und dich niemals verletzen könnte.“
Sie musste das Gesagte erstmal verdauen, die Worte hallten lange in ihrem Kopf nach. Sie wusste, dass er Recht hatte. Er kannte sie viel besser als sie sich selbst.
Er beschleunigte das Auto, die Stadt um sie herum war bald verschwunden. Sie fuhren nun auf einer Landstraße, die sich durch Weizen- und Maisfelder schlängelte. Sie legte den Kopf zurück auf die Kopfstütze und beobachtete ihn aus halb geöffneten Augen.
Seit fünf Jahren waren sie nun eng befreundet und an keinem Tag war sie auf den Gedanken gekommen, dass zwischen ihnen mehr als nur Freundschaft sein könnte. Dann hatte er sie vor zwei Wochen plötzlich geküsst. Ihren Gesichtsausdruck hätte sie gerne gesehen, er musste nicht schlecht gewesen sein, denn er lachte laut los. Das Ganze hatte sie so sehr verwirrt, dass sie erst einmal die Flucht ergriffen hatte. In diesem Moment hatte sie nicht mehr denken können. Der Kuss war Wahnsinn, er prickelte auf ihren Lippen wie das Brausepulver aus ihrer Jugend.
Innerlich musste sie lächeln über ihr Verhalten an diesem Tag. Zum Glück war er ihr nachgegangen, hielt sie fest und drückte sie an sich, bis sie aufhörte, sich zu wehren. Er war ein wundervoller Mann und ja, zugegeben, sie spürte, wie sehr sie ihn liebte und auch, dass sie ihm vertraute. Er hatte ihr in all den Jahren immer zur Seite gestanden, hatte sie durch jede Hölle begleitet, ihre Tränen getrocknet und sie aufgefangen, wenn sie im Begriff gewesen war, zu fallen. Sie dachte darüber nach, wann sie für ihn das letzte Mal da gewesen war. Aber sie konnte sich nicht erinnern. Er hingegen war immer für sie da. Nie hatte er von seinen Problemen erzählt, nie über Frauengeschichten geschimpft, noch nicht mal von einer Frau in seinem Leben erzählt. Über ihre eigenen Gedanken erstaunt, fiel ihr auf, wie wenig sie eigentlich über diesen Mann wusste.
Als ob er ihre Gedanken gelesen hätte, drehte er seinen Kopf leicht und lächelte sie an.
„Was brütest du wieder aus?“
Sie sah ihn direkt an.
„Ich denke darüber nach, wie viel ich eigentlich von dir weiß. Wir sind echt lange befreundet und das richtig eng. Du warst immer für mich da, aber ich hatte nie Gelegenheit, für dich da zu sein. Es kann doch nicht sein, dass du das Leben eines Mönches führst.“
Er lachte belustigt auf.
„Nein, das ganz sicher nicht. Nur waren sie nie wichtig genug, um dich damit zu belasten. Ich war sicher kein Mönch, aber eine feste Beziehung wollte ich einfach nicht. Das war der Unterschied zwischen uns.“
„Warum wolltest du keine Beziehung?“
„Du bist aber heute sehr neugierig. - Wir sind gleich da, ich hoffe, es gefällt dir da.“
„So versucht man abzulenken... Eigentlich sagt man das uns Frauen nach.“
An ihrem Grummeln in der Stimme hörte er genau, dass sie mit seiner Antwort nicht zufrieden war. Er grinste über das ganze Gesicht.
„Wir haben den ganzen Tag Zeit zum Reden und es wird uns auch niemand stören.“
Noch bevor sie etwas darauf antworten konnte, setzte er den Blinker und fuhr auf einen Waldweg. Der Weg war nicht wirklich gut befestigt und das Cabrio wurde kräftig durchgeschüttelt. Der Baumbewuchs wurde immer dichter und je tiefer sie in den Wald kamen, desto kühler wurde es auch. Erst nach einigen Kilometern kam eine Schranke, die den Weg versperrte. Er stoppte den Wagen, schloss das Verdeck und machte den Motor aus.
„Aussteigen, wir sind da. Den Rest des Weges müssen wir zu Fuß gehen.“
Während er ausstieg und direkt zum Kofferraum ging, folgte sie ihm langsam nach, streckte die Arme Richtung Himmel und reckte sich. Sie schloss die Augen und atmete tief ein. Die Luft roch ein wenig süßlich, nach vermodernden Blättern und Nadeln. Der Boden unter ihren Schuhen gab etwas nach und an einigen Stellen hatte sich Moos wie ein Teppich breitgemacht. Es war ruhig hier, bis auf die Vögel, die ihr Lied zwitscherten, und den Specht, der gegen einen Stamm klopfte.
Sie hörte wie er den Kofferraum schloss und hinter sie trat. Er legte seinen Arm um sie und drückte eine Decke gegen ihren Bauch. Sanft küsste er ihren Hals.
„Hier, damit ich nicht alles alleine tragen muss.“
Der belustigte Ton war eindeutig herauszuhören. Sie drehte sich lächelnd um und küsste ihn auf die Nasenspitze.
„Natürlich, du sollst dir doch keinen Bruch heben.“
Erst als sie den Satz schon ausgesprochen hatte, sah sie, dass er einen großen Picknickkorb in der anderen Hand trug.
„Oh, du hast das alles vorher schon geplant?“
„Klar, ich sehe das doch auch, dass du dich seit ein paar Tagen aufreibst und ich dachte, dass dich dieser Ort auf andere Gedanken bringen könnte.“
„Woher kennst du diesen Ort und warum hast du mir nie davon erzählt?“
„Lass uns erst mal den Weg weiter gehen, ich erzähle es dir dann.“
Sanft schob er sie an der Schranke vorbei, den immer enger werdenden Weg entlang. Der Weg wurde zu einem Pfad, aber dafür auch besser. Der Wald war nun dichter und die Sonnenstrahlen konnten nur noch vereinzelt zwischen den Ästen bis auf den Boden gelangen. Sie war begeistert von dem schönen Anblick, wie sich das Licht in den Baumkronen brach und dann in einzelnen Strahlen auf den Boden traf. Das Auto war schon nicht mehr zu sehen, als er zu erzählen begann.
„Ich bin als Kind sehr oft hier gewesen, mein Großvater hat mir diesen Ort gezeigt. Seitdem war ich sonst immer mehrmals im Jahr hier, entweder zum Zelten, zum Fischen oder für beides. Ich konnte hier immer sehr gut abschalten und eine Menge Erinnerungen hängen an diesem Ort. Ich hab dir nie von ihm erzählt, weil ich jetzt seit fast fünf Jahren nicht mehr hier war. Ich hielt es einfach nicht mehr für wichtig und ich wollte auch nicht mehr an diesen Ort denken.“
Sie traten an den Waldrand, ein großer See kam zum Vorschein. Ein Wiesenstück säumte das Ufer und ein paar vereinzelte Bäume standen im Wasser. Wie angewurzelt war sie stehen geblieben und saugte dieses Bild in sich auf. Die Sonne spiegelte sich in den kleinen Wellen, die zum Ufer rollten, die Augen blendeten und ein leises Gemurmel hören ließen. Ein Holzsteg führte einige Meter in den See. Das Ufer des Sees war ringsherum dicht bewachsen mit Schilf. Nur dort, wo sie standen, führte ein Stück Wiese direkt in den See hinein.
Er hatte ihr schon längst die Decke aus den Händen genommen und sie im Schatten eines Baumes auf dem Boden ausgebreitet. Sie sollte sich ruhig satt sehen, ihm war es damals ja nicht anders ergangen. Er setzte sich auf die Decke und wartete geduldig. Plötzlich drehte sie sich um, ihre Augen strahlten. Ausgelassen machte sie einen großen Schritt auf ihn zu und ließ sich dann zu ihm auf die Decke nieder.
„Es ist toll hier. Ich sollte böse auf dich sein, dass du mir diesen Ort erst jetzt zeigst. Aber ich bin viel zu froh darüber, dass ich ihn jetzt sehen darf. Wieso warst du so lange denn nicht mehr hier? Der Platz ist ideal, um ein Mädchen zu verführen, oder um sich verführen zu lassen.“
Sie lächelte ihn offen an, doch er erwiderte das Lächeln diesmal nicht. Wieder fragte sie sich, wie gut sie diesen Mann wirklich kannte.
„Ich hab hier nur ein Mädchen verführt, und das wollte ich sogar heiraten. Ich habe sie sehr geliebt, und als sie schwanger wurde, dachte ich endlich, angekommen zu sein. Aber wie es im Leben oft so ist, musste ich meine Träume aufgeben. Ich bin damals mit ihr hierher gefahren, um an diesem Ort um ihre Hand anzuhalten. Schon als ich hier in den Weg einbog, merkte ich, wie sie sich veränderte. Ich dachte, dass sie vielleicht nur nervös war. Doch als ich dann hier am Ufer vor ihr auf die Knie ging und sie um ihre Hand bat, da lachte sie nur. Sie konnte gar nicht aufhören zu lachen. Sie hatte schon längst eine Affäre mit einem meiner Freunde und das Kind hatte sie abgetrieben, ohne es mir zu sagen. Das war das erste Mal, dass ich einen Mensch hätte umbringen können. Sie rief sich ein Taxi und ich blieb hier alleine zurück. Ich war hier bis tief in die Nacht und habe meine Wut heraus geschrieen, habe so lange geweint, bis ich keine Tränen mehr hatte. Seitdem hatte dieser Platz etwas Negatives für mich und darum bin ich nur noch sehr selten hier gewesen.“
„Das tut mir sehr leid, aber warum bist du dann heute mit mir hergefahren?“
„Um dir zu zeigen, wie viel du mir bedeutest. Um dir zu sagen, dass ich keine andere Frau geliebt habe, seit wir uns kennen.“
Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen, unruhig strichen ihre Hände über ihr Kleid.
„Wie... du hast keine Frau geliebt, seit wir uns kennen?“
Er ergriff ihre Hand und sein Daumen streichelte über ihren Handrücken.
„Ich habe dich gesehen und geliebt, vom ersten Augenblick an. Ich hatte die eine oder andere Affäre über Nacht, aber immer mit klaren Absprachen. Immer, wenn ich eine andere berührte, war es, als ob ich dich berührte. Also hörte auch das mit der Zeit auf und ich gab mich nur mit deiner Nähe zufrieden.“
Sie musste hart schlucken, der Kloß in ihrem Hals wollte einfach nicht verschwinden. Sie merkte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten.
„Warum hast du mir nie etwas gesagt?“
„Immer, wenn ich es vorhatte, warst du schon mit jemand
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Kommentare
Kommentare: 14
Wo läuft einem bloß so ein "alter Freund" über den Weg ?
Wann kommt die Fortsetzung ?«
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andreashava
ich habe lange suchen müssen, die Geschichte von dir hier zu finden, der hoffentlich noch weitere folgen werden. Gibt man bei der Autorinnensuche nur "ED" ein, dann kommen hunderte Geschichten, wo ed im Autorennamen vorkommt, also zum Beispiel edge oder pedro. Du hättest deinen alten Autorinnennamen beibehalten sollen. Der würde auch viel besser zu dem Genre passen.
Naja, dass die beschriebenen "Praktiken" nicht gerade die meinen sind, das weißt du ja. Trotzdem besticht eben die Zartheit der Sprache und die Behutsamkeit. Man merkt eben gleich, dass dies eine Frau mit viel Einfühlungsvermögen geschrieben hat. Wäre schön, bald noch mehr von dir hier zu lesen.
LG Andrea«
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Liebe Sylterin, halte die Augen offen, es gibt diese Fabelwesen, gib nicht auf!!«
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Kommentare: 92
klasse geschrieben. Einfühlsam und in einer ansprechenden Form. Ich hätte gerne mehr davon.
Uschi«
Kommentare: 32
Steppenwolf
Kommentare: 16
Bitte mehr davon«
Kommentare: 8