Spuren spüren - verweht
von Hassels
Spuren spüren - verweht
oder:
Ohne Liebe...
>>Achtjähriger erliegt nach Sturz aus dem zweiten Stock seinen Verletzungen. Die Polizei konnte zum Hergang noch keine Details mitteilen. <<
Die lapidare Erklärung unter >> Unglück << in der Spalte der Lokalnachrichten auf Seite drei, hätte man sich auch sparen können. Unwirsch schloss die junge Rettungsärztin die Tageszeitung.
Dass sie alles versucht hatte, als sie aus dem Menschenauflauf den Ruf nach einem Arzt hörte, wusste nur sie. Ohne Hilfsmittel hatte sie sich bis zu dem Jungen vorgekämpft und die Schaulustigen zur Seite geschoben. Aber alle Reanimationsversuche, Herzmassage und Mund-zu-Mund-Beatmung, waren erfolglos geblieben.
Drei Stunden später, nach Dienstschluss, fuhr sie, noch in Dienstkleidung, zur Pathologie der Uni Klinik. Man würde ihr sicher keinen Behandlungsfehler vorwerfen können, da sie ja nur erste Hilfe hatte leisten können – ohne Notfallkoffer. Eigentlich wollte sie sich nur die Bestätigung holen, nichts falsch gemacht zu haben, als sie an der Kellerpforte klingelte.
„Frau Kollegin, das ist aber ungewöhnlich, dass sich ein Notarzt nach dem verstorbenen Patienten des Vortags erkundigt. Kommen Sie rein.“ Mit einer einladenden Handbewegung bat der ältere Pathologe sie herein.
Ohne lange Umschweife gab er ihr den Befund: Schädelhirntrauma.
Die Überlebenschance bei der Schwere der Verletzung gleich Null.
Als ob er ihre Selbstzweifel erkannt hätte, war er direkt auf den Punkt gekommen.
Sie wollte sich schon bedanken und wieder gehen, aber seine Augen hielten sie fest. Sie fühlte sich wie das Kaninchen vor der Schlange.
„Mir fehlen noch ein paar Bausteine, um den Befund abzuschließen, Frau Kollegin. Sie sind doch sicher daran interessiert, wen sie trotz Ihrer Bemühungen nicht retten konnten?“ Diese Frage machte sie natürlich neugierig. „Wenn Sie es mir plastischer darstellen, als der Professor damals, wäre ich sehr interessiert.“
„Kommen Sie mit.“ Ein Knopfdruck und schon wurde vom Beamer die Akte „Andreas“ an die Wand geworfen. Klick für Klick wurden die schweren Verletzungen aufgezeigt. Die zerstörte Schädeldecke, das gebrochene Bein und der gebrochene Arm waren die äußerlich sichtbaren Verletzungen.
Aber die Striemen auf dem Rücken bis hin zum Gesäß, konnten nicht vom Sturz herrühren. Noch aufmerksamer verfolgte sie die Bilder. Und auch wenn sie sich nicht genau mit den Unterschieden der Vernarbungen auskannte, dass es ältere Verletzungen waren, war ihr sofort bewusst.
Und die Röntgenbilder zeigten es ihr noch deutlicher: Es gab da ältere Brüche an Armen und Beinen, die nur schlecht oder schief verheilt waren. Insgesamt zählte sie siebenundzwanzig ältere Brüche. Sie zählte laut, was der Pathologe zum Anlass nahm zu erklären.
„Auf die Zahl bin ich auch gekommen, und ich habe mit dem ermittelnden Beamten gesprochen. Er hat mich unmittelbar vor Ihrem Erscheinen über die Zustände in dem christlichen Kinderheim informiert. Andreas war wohl der „besondere Liebling“ der Oberin. Er wurde ständig geschlagen. Ein Mädchen hat sich wohl trotz schrecklicher Angst vor der Oberin getraut, der Polizeipsychologin die Wahrheit anzuvertrauen. Polizei und Jugendamt sind jetzt vor Ort, die Kinder werden ohne Aufschub in städtische Kinderheime gebracht.“
Die Summe all dieser Fakten trieben der jungen Notärztin die Tränen in die Augen. „Der arme Andreas, der arme Andreas!“, stammelte sie mehrfach. Fast schon mit der Güte eines Großvaters zog der Pathologe sie an seine Schulter.
„Sie haben dem armen Jungen genau das gegeben, wonach er sich wohl in der ganzen Zeit in dem Heim sehnte.“ Er drehte die Leiche um, Andreas Gesicht wurde sichtbar.
„Solch ein Lächeln im Tod, … das ist innere Zufriedenheit. Das haben Sie wohl mit ihrer Mund-zu-Mund-Beatmung erzeugt. Seine geschundene Seele hat Ihre Liebe gespürt, und die hat man ihm in dem vermaledeiten Kinderheim verwehrt.“
Kommentare
Kommentare: 64
Kommentare: 21
Kommentare: 1
Ich war selbst einmal Opfer in der katholischen Kirche. Ich kenne das.«
Kommentare: 3
Kommentare: 142