The Road To The Championship -4-
von HG1
Am nächsten Tag stand wieder Training auf dem Programm. Nach einem kurzen Einspielen rief uns die Trainerin zusammen.
„Vorgestern haben sich die Trainer zu einer Sitzung getroffen, mein Mann und ich waren auch dabei. Normalerweise braucht es viel Zeit bis eine Entscheidung getroffen wird, ausnahmsweise haben wir uns gestern aber schnell geeinigt. Das Thema war Nationalmannschaft.“
Ich sog scharf die Luft ein. Nationalmannschaft! Bis jetzt hatte ich davon stets nur geträumt, immer gedacht, sie würde in vielen Jahren einmal zum Thema werden, nicht schon in nächster Zeit.
„Im November des übernächsten Jahres findet die Europameisterschaft in Belgien statt. Bis dahin sollte die Mannschaft nicht nur stehen, sondern auch schon zueinander gefunden haben. Daher werden wir Trainer bis und mit der nächsten Schweizermeisterschaft entscheiden, wer dafür in Frage kommt.“
Mein Herz schlug schneller. In die Nationalmannschaft zu gelangen wäre das Höchste für mich, wie auch für die meisten anderen im Team.
„Im Klartext heisst das: Ein Jahr lang alles geben, dann schafft ihr es, das Nationaltrikot überzustreifen. Bei euch habe ich allerdings keine Angst, dass ihr nicht immer hundert Prozent gebt.“
Ich schaute zu Jeanne, die mit dem Kopf gesenkt mir gegenüber sass. Als sie nicht reagierte, schweifte mein Blick hinüber zu Sylvain. Er schaute zurück und hob die Augenbrauen. Ich nickte. Wir hatten uns verstanden.
„Was ist denn mit dir los?“, fragte ich Jeanne, als wir uns auf dem Weg in die Ecke befanden. Sie schien mir sonderbarerweise traurig.
„Ich weiss nicht, was ich von der Nationalmannschaftsgeschichte halten soll. Ich wäre ja schon gerne dabei. Aber ich bin noch ganz neu, nicht nur bei euch sondern allgemein im Sport und da getraue ich mich kaum einzumischen.“
„Schon verständlich, aber das ist kein Grund zu verzweifeln. Warte jetzt die beiden nächsten Turniere ab, dann kennen dich die meisten, auch national. Gerade du kommst bestimmt in die Nati.“
Jeanne lächelte. Während dem Trainingsspiel blieb sie draussen. Die Frage über die Nationalmannschaft schien sie nicht loszulassen.
Das Spiel verloren wir mit 3:1. Auch ein Grund für das aus unserer Sicht schlechte Ergebnis war mein Rücken, der nicht mitmachte. Bereits nach einigen Minuten hatte ich kaum mehr Kraft gehabt um aufrecht zu sitzen. Als Captain fühlte ich mich jedoch auf eine gewisse Weise verpflichtet durchzuspielen, speziell, da Jeanne keine Anstalten machte, eingewechselt werden zu wollen.
Nach dem Match büsste ich für meinen Durchhaltewillen. Ich beugte mich nach vorn um den Rücken so gut wie möglich zu strecken. Knapp sah ich Jeanne neben mich ran fahren.
„Geht’s bei dir?“
„Nicht so gut.“
Ich spürte ihre Hand auf dem Kreuz. „Ich massiere dich so gut es geht. Von Rollstuhl zu Rollstuhl ist es eben nicht gerade einfach.“
Ein wenig half es, ich konnte wenigstens aufrecht sitzen. Zu Hause war ich froh, in die Badewanne liegen zu können. Das Beste war aber: Angelina kam mich baden. Als ich in die Wohnung kam, war sie noch nicht da. Markus kam aus dem Büro, half mir aus der Jacke. Von der Nationalmannschaft erzählte ich nichts, da ich keine Lust zu reden hatte.
Nach wenigen Minuten läutete es. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht betrat sie die Wohnung.
„Soll ich den Schurz anziehen?“
„Wenn es nicht nötig ist nicht, nein.“
„Nein, da es kein offizieller Einsatz ist, finde ich es nicht zwingend. Ohne ist persönlicher.“
Grosszügig überliess ich Angelina den Vortritt ins Wohnzimmer, mit der Absicht, einen Blick auf den Hintern werfen zu können. Er war nicht ganz schlank, aber dennoch sehr wohlgeformt, richtig zum Anbeissen. Ich fand ihn sogar hübscher als jener von Jeanne, der fast zu flach, zu wenig rund war. Unter den weissen Stoffhosen war deutlich ein Slip zu sehen.
Nachdem ich den am Mittwochabend üblichen Fast-Food gegessen hatte, ging’s ins Bad. Im warmen Wasser konnte ich den Rücken entlasten. Eine Wohltat.
„Hast du Schmerzen, Philip?“
„Ja, kommt vom Hockey. Von Zeit zu Zeit habe ich das. Ermüdung halt.“
„Weißt du was? Wenn du fertig geduscht hast, massiere ich dich, bis die Schmerzen weg sind. Ist das ein Angebot?
„Das würdest du tun? Ich meine, es ist deine Freizeit, die du hier verbringst.“
„Macht doch nichts, bei mir würde ich nichts Schlaues mehr tun. Da brauche ich die Zeit lieber um dich von den Schmerzen zu befreien.
Nach dem Bad zog ich Boxershorts an und legte ich mich bäuchlings aufs Bett. Geschickt verstrich Angelina das verklebte Gewebe, was mich vor Schmerzen einige Male aufkeuchen liess aber dem Rücken gut tat. Bereits nach wenigen Minuten wurden die massierten Stellen heiss. Angelina machte es nicht das erste Mal.
Ich versank in Gedanken, in sehr schönen Gedanken. Angelina schien überall zu sein, an was ich auch dachte, ihr Gesicht, die reine Haut und ihre smaragdgrünen Augen mit den sauber gezupften B rauen wollte mich nicht loslassen.
Eine Kälte überkam mich, als sich die Hände von meinem Rücken lösten und Angelina fragte, ob ich zufrieden sei. Zu gerne hätte ich gesagt, es sei noch nicht ganz in Ordnung, was aber nicht der Wahrheit entsprach. Die Schmerzen waren weg, ich konnte wieder aufrecht sitzen. Es wäre nicht fair gewesen, Angelina anzulügen weil ich ihre Hände noch länger spüren wollte.
Wir verabschiedeten uns. Bereits morgen würde die hübsche Frau aber wieder vorbeikommen.
Eine weitere Woche verging, schon war wieder Mittwoch
„Wie geht’s heute mit deinem Rücken? Du hattest doch Training, nicht wahr?“, fragte Angelina, als sie mir die Jacke auszog.
„Hatte ich, ja. Heute war aber kein Problem, der Rücken schmerzte kein Bisschen.“
„Fast etwas schade, ich hätte dich gern massiert.“
„Du hast es letzten Mittwoch sehr gut gemacht. Darfst ein anderes Mal bestimmt wieder.“ In diesem Moment hatte ich einen Geistesblitz. „Sag mal, was machst du überübernächstes Wochenende?“
„Überübernächstes. Hm. Lass mich überlegen. Soweit ich weiss nichts. Warum fragst du?“
„Wir haben uns für das internationale Turnier bei den Silver Tigers, einer anderen E-Hockeymannschaft, qualifiziert und Helfer sind immer noch herzlich willkommen. Bei fünfzehn Elektrorollstuhlfahrern, wovon viele Hilfe benötigen, verständlich. Da wollte ich dich fragen, ob du als meine Betreuerin mitkommen möchtest.“
Während das Wasser laut rauschend in die Badewanne lief, sprachen wir nicht, da wir uns hätten anschreien müssen. Angelina zog mich aus, dann drehte sie den Wasserhahn zu.
„Während du im Wasser bist, schaue ich in den Monatsplan, aber ich mag mich nicht erinnern, an jenem Wochenende arbeiten zu müssen. Ich käme sehr gerne mit.“
Meine Vorfreude wurde noch grösser. Eine solch hübsche Frau dabei zu haben, war etwas Spezielles. Vor allem, wenn diese nicht behindert war. Sie liess mich für einige Minuten alleine. Nachdem ich gerufen hatte, kam sie wieder ins Badezimmer.
„Es ist wirklich so: Jenes Wochenende habe ich nichts vor. Ich komme also mit.“
„Hey, super!“, jubelte ich.
„Etwas musst du mir aber versprechen, Philip. Sag niemandem etwas davon. Das muss niemand wissen.“
„So wenig wird jemand etwas davon erfahren, wie jemand etwas von deinen Abendeinsätzen weiss.“
„Gut, danke, versprichst du mir das. Was ich hier tue, ist laut Spitex-Ordnung absolut unprofessionell. Abgrenzung heisst das Zauberwort, aber das kann ich nicht durchziehen, schon gar nicht bei euch. Ich meine, ihr seid in etwa so alt wie ich, da ist es doch klar, dass man sich etwas verbundener fühlt als mit den älteren Leuten, zu denen ich meistens gehe.“
„Und mit Leuten in unserem Alter unternimmst du auch lieber etwas.“
„Klar. Aber eben: Laut Spitex-Ordnung ist das verboten.“
„Was ist, wenn … sich eine Spitexmitarbeiterin und ein Klient verlieben?“
Angelina hielt in der Bewegung inne. „Wir müssen darauf achten, dies möglichst zu vermeiden, darum auch die ganze Abgrenzungsgeschichte.“
„Aber das ist ja dämlich, wenn man sich verliebt, verliebt man sich. Ihr seid keine Maschinen.“
„Genau meine Meinung. Gefühle machen nicht immer, was man möchte. Aber zurück zum Ursprung deiner Frage: Sollte bei zweien Gefühle aufkommen, müsste dies gemeldet werden, damit die Person von der Spitex bei ihrem Partner nicht mehr eingeplant wird. Professionalität hat Vorrang.“
„Ich verstehe. Im Heim, wo ich meine Ausbildung absolviert habe, ging’s ähnlich zu. Selber erfahren habe ich es allerdings nie, bis jetzt habe ich noch nie junge Betreuerinnen gehabt.“
„Und wir haben noch nie so junge Leute wie euch gehabt. Mir macht es mehr Spass zu euch zu gehen als zu einer alten Dame.“
Während Angelia am Lavabo den Lappen auswusch, beobachtete ich sie sekundenlang. Der körperliche Unterschied zu Jeanne war augenfällig. Während die Blonde zerbrechlich und fast zu wenig Rundungen aufwies, waren diese bei Angelina ausgeprägt. Allerdings stellte sie ihren Körper nicht tussihaft zur Schau.
„Ich habe mir auch schon überlegt, wie es wäre mit einem Klienten der Spitex zusammen zu sein.“ Sie machte eine Pause bevor sie weiter redete. „Es wäre sicher eine Herausforderung, eine neue Erfahrung.“
„Du weißt aber, dass zum Beispiel jemand im Rollstuhl in vielen Bereichen nicht an jemanden, der nicht behindert ist, heranreicht. Gerade sexuell.“
„Das ist klar. Aber auch deswegen fände ich es spannend.“
Angelina erstaunte mich erneut. Machte sie sich so wenig aus Sex, dass auch ein Behinderter ihre Wünsche erfüllen konnte? Eine solch hübsche Frau fand jederzeit einen anderen, der körperlich besser gestellt war.
Innerlich lächelte ich. Natürlich strotzte die Welt nicht vor sexhungrigen Girls und besonders Angelina machte gar nicht den Eindruck, als gehöre sie zu jener Spezies.
Als sie mich auf dem Bett trocknete, rumpelte mein Natel auf dem Nachttischchen. Als sich Angelina verabschiedet hatte, nahm ich es zur Hand.
*Hey mein Captain, Lust mich morgen in der Stadt zu treffen? Küsschen, Jeanne.*
„Hat dir Jeanne geschrieben? Du solltest die Chance packen.“
„Ich weiss nicht …“
„Philip, du bist wirklich der einzige, der sich eine solche Möglichkeit durch die Lappen gehen lässt.“
„Es hat seinen Grund“, antwortete ich geheimnisvoll.
Markus hob die Augenbrauen. „Und der wäre? Weiss ich da etwas noch nichts?“
„Es ist wegen Angelina. Sie hat mir vorhin im Bad erzählt, dass eine Beziehung mit einem Behinderten sie reizen würde.“
Markus’ Brauen verabschiedeten sich endgültig in Richtung Zimmerdecke. „Das verändert die Situation natürlich gewaltig. Und du meinst …?“
„Gut möglich. Ich stehe ein wenig auf der Kippe.“
Markus lachte. „So schnell kann sich alles ändern. Während des letzten Jahres im Heim hattest du gar keine Aussicht auf eine Frau und jetzt buhlen gleich zwei um deine Gunst. Die Männer im Heim werden neidisch auf dich sein. Jeder hätte Jeanne doch gerne für sich, wetten?“
„Hehe, die Chancen, dass du Recht hast, stehen bei hundert Prozent. Seit Elena mit mir Schluss gemacht hat, habe ich auch keine Frau mehr gewollt. Die Zeit ist jetzt aber wieder gekommen.“
Wir gingen auf den Balkon. Markus holte sich eine Cola und mir ein Bier. „Meinst du, Angelina meint es wirklich ernst? Und bist du sicher, dass sie dich gemeint hat? Ich meine, die Spitex hat viele Klienten.“
„Ich bin überzeugt, dass es ernst gemeint hat. So, wie ich sie einschätze, bringt sie es kaum über sich zu lügen. Und warum sollte sie in diesem Fall? Sie hätte auch einfach schweigen können. Was deinen anderen Punkt betrifft: Sie hat schon das zweite Mal betont, wir seien die jüngsten Klienten. Warum sollte sie lügen?“
Mein Wohnpartner nippte bedächtig an der Cola. „Scheint ein richtiges Juwel zu sein, diese Angelina. Keine aufgeblasene H&M-Tussi. Ich würde es dir auf jeden Fall gönnen, wenn sich da etwas ergäbe. Weißt du, ich hatte schon etwas Angst um dich. Zeig mir eine Frau, die mit zwanzig daran denkt, eine feste Beziehung einzugehen. Mit fest meine ich nicht eine vielleicht längere Beziehung, die hauptsächlich aus Ausgang und Sex besteht. Nein, mit feste Beziehung meine ich, jemand, der sich um den anderen kümmert, immer für ihn da ist, ihm zur Seite steht.“
„Es gibt Ausnahmen.“
Markus klatschte laut in die Hände. „Klar gibt es sie, Angelina ist das beste Beispiel. Aber die meisten oder zumindest viele wollen doch Party, Party, Party und nachher einen knallen gehen. Mit jemandem im Rollstuhl zusammen sein bedeutet, nicht in jeden Club reinzukommen, sei es wegen Treppen oder sonst etwas. Da ist Organisation gefragt, was nicht unbedingt förderlich für die Party ist. Und was ist nach der Party? Einen Elektrorolli bringt man in kein normales Auto, wenn deine Kollegen am nächsten Morgen noch einen heilen Rücken haben wollen. Also stellt sich die Frage, wie du mitten in der Nacht nach Hause kommst.“
„Ich weiss, was du meinst. Bis vor kurzer Zeit ist mir das egal gewesen und jetzt scheint sich die Frage erledigt zu haben.“
„Ist natürlich genial, hat Angelina bereits Erfahrung mit pflegebedürftigen Personen. Ich habe halt schon noch das Gefühl, wenn es ans Eingemachte geht, kommt bei manch einem die Unsicherheit zu Tage, weil nur wenige wissen, wie mit Behinderten umzugehen oder nicht wissen, was alles auf sie zukommt. Die fragen sich: Kann sich der den Arsch selber abwischen? Oder so.“
Ich lachte, aber im Grunde stimmte die Aussage. „Ich bin sicher, Angelina hat ihre Aussagen vorher gut überlegt.“
Ich schrieb Jeanne. *OK, ich komme. Zeit und Ort wie üblich.*
Kurz darauf schrieb ich meiner Exfreundin. Ich wollte mich mit ihr treffen um zu reden.
Mit jeder Station, welche das Tram meinem Ziel näher kam, wurde ich nervöser. Was würde ich tun, wenn Jeanne mich küssen und nicht mehr loslassen wollte. Würde ich mitmachen? Gefiele es mir? Oder blockte ich ab? Angelina wollte mir nicht aus dem Kopf.
Jeanne gab die Antwort. Sie machte keine Anstalten mich zu küssen.
„Danke, hast du noch Zeit gefunden für mich. Mich beschäftigt etwas. A-Aber es ist mir unangenehm, darüber zu reden.“
Sie sprach leise, fast so, als wollte sie nicht, dass ich ihre Worte hörte. Meine Anspannung wuchs.
„Es geht um … um … die Nationalmannschaft. Ein wenig dämlich, nicht? Sorry, aber das Thema lässt mich nicht mehr los.“
Damit hatte ich nicht gedacht. Nein, ich hatte mit einer Liebeserklärung gerechnet, aber nicht mit E-Hockey.
„Ich habe dir ja erzählt, dass ich zuvor nie etwas mit Behinderten zu tun gehabt habe. Und jetzt weiss ich nicht, wie ich damit umgehen soll, dass ich körperlich mehr kann als viele andere im Hockey. Stimmt es, dass einige in den nächsten Jahren sterben?“
Ich nickte. Eine Weile fuhren wir nebeneinander her ohne ein Wort zu sagen. Jeanne brach das Schweigen.
„Ich habe ein schlechtes Gewissen, wenn ich jemandem den Platz wegnehme.“
„Verständlich. Aber du entscheidest ja nicht, wer in die Nati kommt.“
„Ich könnte sagen, dass ich nicht zu Verfügung stehe.“
„Das wäre eine Möglichkeit, aber sieh es mal so: In den Clubs kommen nach wie vor alle zum Einsatz, niemand darf wegen dir weniger spielen. Das ist der erste Punkt, den du beachten solltest. Der zweite besteht darin, dass ich in unserem Club niemanden kenne, der dir deswegen Vorwürfe macht. Alle möchten eine so starke Nationalmannschaft wie möglich.“
„Dennoch, mein schlechtes Gewissen lässt mich nicht los.“
„Warte einfach mal ab, das legt sich sicher, wenn du die Leute etwas besser kennst.“
Wieder sprachen wir einige Minuten nicht. Jeanne schien über meine Worte nachzudenken. Plötzlich fuhr sie auf. Ein Lächeln schlich sich in ihre Züge und sie blickte mich an.
„Bastian hat uns letzthin gesehen. Laut seiner Aussage haben wir uns geküsst, er sei dann schnell weitergefahren. Ich glaube, er ist eifersüchtig auf dich.“
„Hoffentlich hat er es nicht weiter erzählt.“
„Doch, das hat er. Das halbe Heim weiss es bereits, ich werde von allen möglichen darauf angesprochen. Als ich heute Mittag die Betreuung informierte, dass ich später zum Abendessen käme, kicherten einige.“
„So ist das eben, wenn vierzig Menschen auf kleinem Raum leben. Am besten hörst du nicht hin.“
„Doch, das tu ich, ich mag es zu hören, was die anderen über mich denken. Einige haben mich als Tussi bezeichnet. Bin ich das?“
Fast lachte ich laut los. „Du magst vieles sein, aber bestimmt keine Tussi. Du schaust einfach auf dein Äusseres, aber ne Tussi ist mehr als das. Die hat nen Knacks im Hirn, was bei dir nicht der Fall ist.“
„Find ich eben auch. Weißt du was? Dank dir fühle ich mich gleich besser. Ich werde jetzt mal schauen, wie es im Hockey weitergeht. Vielen Dank, bist du für mich da gewesen.“
Wir verabschiedeten uns mit einem Wangenkuss. Während ich auf das Tram wartete, schaute ich Jeanne nach. Sie war so süss.
Am Freitagabend traf ich mich mit Elena bei ihr zu Hause. Wir hatten unsere Lehre gleichzeitig abgeschlossen und wie ich lebte sie in einer Wohngemeinschaft. Mit ihrer Wohnpartnerin war ich früher mehr, inzwischen aber weniger befreundet. Sie war eine Zicke geworden.
Ganz anders Elena. Sie war eine der liebenswürdigsten Personen, die ich kannte. Deswegen hatte ich sie auch derart geliebt und brauchte über ein Jahr, um über die Trennung hinwegzukommen. Jetzt kamen wir wieder hervorragend miteinander aus.
„Was möchtest du mit mir besprechen? Dein SMS machte den Eindruck, als sei es etwas Dringendes. Möchtest du übrigens etwas trinken?“
„Gerne einen Eistee. Warum ich mit dir reden möchte, ist mir beinahe unangenehm.“ Während Elena in der Küche herumfuhrwerkte, machte ich eine Pause. Erst als meine Ex eingeschenkt hatte, fuhr ich fort. „Seit ich aus dem Zosswies ausgetreten bin, habe ich zwei Frauen kennengelernt. Da du noch dort arbeitest, kennst du eine davon. Jeanne.“
„Jeanne? Diese Jeanne? Na klar kenne ich die. Ist die einzig Normale unter den Neuen.“
„Die andere Frau ist jemand von der Spitex, etwa drei Jahre älter als ich. Angelina heisst sie.“
„Schön. Aber was ist mit ihnen?“
Ich holte tief Luft. „Ich werde das Gefühl nicht los, dass beide etwas von mir wollen. Jeanne ist sehr anhänglich.“
„Und Angelina?“
„Wie sie zu mir steht, weiss ich nicht genau. Sie ist sehr herzlich, aber auf eine gewisse Weise doch distanziert.“
„Du bist mir vielleicht einer. Andere kämpfen für eine, du musst dich für eine entscheiden.“
Ich lachte gepresst. „Das hat mir Markus auch schon gesagt. Paradox, nicht wahr?“
„Und du möchtest also einen Tipp von mir? Ich kenne nur Jeanne, Angelina habe ich noch nie gesehen. Aber Jeanne … scheint mir eine Gute zu sein, jedenfalls besser als die anderen. Warum nimmst du nicht sie?“
„Klar, sie ist hübsch, nett, alles eigentlich, was man möchte.“
„Das kannst du sagen.“
„Wir sind uns ja auch schon näher gekommen?“
Elena grinste spitzbübisch. „Was heisst näher?“
„Näher. Viel näher. Nicht gerade ganz nah, aber schon ziemlich.“
„Ich gratuliere, das hast du gut gemacht. Wenn ich ein Mann wäre, würde ich wohl auch mit ihr rummachen.“ Ich nahm einen Schluck Eistee. Elena blickte mich an. „Du fühlst dich dennoch eher zu Angelina hingezogen, nicht wahr?“
„Ich kann’s nicht ändern. Ich möchte Jeanne aber nicht wehtun. So, wie ich sie kennengelernt habe, wäre sie sehr verletzt. Das möchte ich nicht.“
„Was ist denn an Angelina so speziell? Sie muss doch mehr zu bieten haben als Jeanne.“
„Ich finde beide gleich hübsch, wenn du das meinst. Bei Angelina zieht mich das Unbekannte, Verbotene an. Eine Pflegerin als Freundin zu haben, das wäre etwas Neues.“
„Jeanne ist dir zu normal, willst du sagen?“
„Wenn du es so nennen willst, ja. Ist aber nicht der einzige Grund. Angelina ist nicht behindert. Ich weiss, das hört sich echt saublöd an. Aber im Zosswies sind stets die Bewohner unter sich zusammengekommen, also Behinderte mit Behinderten. Ich möchte etwas anderes, als dieses Spiel weiter mitmachen. Jemanden an der Seite zu haben, der gehen kann, hat Signalwirkung für die Personen im Heim. Die sagen sich „der hat’s geschafft“.
„Du möchtest zeigen, dass du den anderen überlegen bist. Angelina wäre so etwas wie ein Statusobjekt.“
„Du nimmst mir die Worte aus dem Mund. Besser hätte ich es nicht ausdrücken können. Aber vergiss nicht, dass ich Angelina auch sehr mag, sie opfert einiges an Freizeit für mich. Mir würde nie in den Sinn kommen, sie nur als das zu sehen.“
„Dann steht deinem Glück ja nichts mehr im Weg.“
„Soll ich Angelina wirklich fragen.“
„Na klar. Ist ein Risiko, aber das haben Liebeserklärungen so an sich.“ Elena umarmte mich von ihrem Rollstuhl aus. „Ich freue mich für dich. Ich finde es wirklich toll, hast du die Möglichkeit, mit jemandem zusammenzukommen, den du nicht vom Heim her kennst. Du kannst also auch schnell Kontakte zu anderen knüpfen.“ Wir hielten uns mehrere Minuten lang. „Aber gib Acht auf Jeanne, sie scheint es ziemlich erwischt zu haben.“
„Werde ich auf jeden Fall. Ich sollte wohl mal nach Hause gehen, hilfst du mir die Jacke anzuziehen?“
Es war halb zwei Uhr in der Nacht, Busse oder Strassenbahnen fuhren keine mehr, ich musste also nach Hause fahren. Mit Musik vom MP3-Player in den Ohren kein Problem. Während ich durch die entvölkerte Strassen fuhr, hatte ich Zeit über Jeanne und Angelina nachzudenken. Die Blonde aus dem Heim tat mir Leid, sie schien sich tatsächlich Hoffnungen zu machen. Aber es war mein Leben, ich musste nicht immer Rücksicht nehmen.
Am Samstag, dem ersten im September, war ich von einer inneren Unruhe getrieben. Eigentlich wollte ich lesen, aber die Zeilen verschwammen immer wieder vor meinen Augen. Im Hintergrund dudelte eine der neuen CDs, die ich letzthin gekauft habe. Am Abend würde Angelina wieder vorbeikommen. In meinen Ohren hörte ich bereits ihre Stimme.
Markus gab mir ein Eis aus dem Tiefkühler, das mir nach wenigen Minuten an der Sonne bereits davon lief. Draussen war es eindeutig zu heiss um länger zu verweilen. Das Internet gab nicht viel her, dafür aber das DVD-Regal. Ich schaute mir ein Konzert von Metallica an.
Mein Herz machte einen Sprung, als es endlich an der Tür klingelte. Mit einem Lachen im Gesicht betrat Angelina die Wohnung. Ich konnte kaum den Blick von ihr lösen. Sie trug die obligatorischen weissen Hosen und ein graues Oberteil. Sie bückte sich um den Schurz aus dem Rucksack zu kramen, ihre hübsche Kehrseite wandte sie mir zu als rechnete die Pflegerin nicht damit, ich schaue ihr dorthin. Sie trug einen Slip.
Markus versuchte ein oder zwei Mal ein Gespräch während dem Essen zu beginnen, aber meine Gedanken waren an einem anderen Ort. Da die Sonne nicht mehr auf den Balkon schien, war es jetzt angenehm draussen. Markus und ich genossen den Abend.
„Ich habe mich entschieden, Markus. Für Angelina, gegen Jeanne. In den nächsten Wochen werde ich’s ihr sagen. Bin gespannt, wie sie reagiert.“
„Ich denke nicht negativ. Ihr Blick während du auf dem WC warst, hat Bände gesprochen. Ich denke, du hast eine Chance. Wenn sie nicht allzu korrekt ist und nichts von dir haben möchte, weil es die Spitex nicht gerne sieht. Ist dir aufgefallen, dass sie öfter als die anderen ihren Schurz anzieht?“
„Das ist wahrscheinlich ein automatischer Schutzmechanismus. Ich kann mir denken, dass sie ohne ihn bei jedem zweiten Klienten lüsterne Blicke müsste über sich ergehen lassen.“
Als es draussen kühler wurde, die letzten Sonnenstrahlen in die Fenster der Häuser der Nachbargemeinde fiel, läutete es zum zweiten Mal. Markus setzte die Kopfhörer auf, ich empfing Angelina.
„Möchtest du heute duschen, Philip?“
„Eigentlich habe ich gestern schon und es ist Samstagabend, du …“ Ich redete nicht weiter, da Angelina mich mit einem strafenden Blick bewarf. „Warum auch nicht, ja.“
Ohne die Haare zu waschen benötigten wir nur knapp mehr als dreissig Minuten. Während ich au dem Bett lag und sie mich trocknete und ankleidete, fragt sie plötzlich:
„Kommst du anschliessend nach draussen, es ist so ein schöner Abend, der zu einem Spaziergang geradezu einlädt.“
Mir war, als springe das Herz aus der Brust. Schwarze Flecken tanzten vor meinen Augen, das Zimmer drehte sich im Kreis.
„Gerne, weil du’s bist“, antwortete ich augenzwinkernd. „Zieh mir aber in diesem Fall noch Trainerhosen an.
Mein Herz pochte so stark, dass ich sicher war, Angelina müsste es einfach hören.
Richtig unangenehm wurde es im Lift. Wir wussten beide nicht was sagen, oder wollten nichts sagen, dabei wollte ich nichts lieber, als das Schweigen brechen.
„Das Wetter ist wirklich schön“, sagte ich. Nicht gerade einfallsreich, aber besser als nichts.
„Ich liebe den Sommer, meinte Angelina, „ solange es nicht zu heiss beim Arbeiten ist. Vor allem jemanden duschen kann sehr unangenehm sein.“
„Ich habe ja gesagt …“ Den Rest konnte ich nicht aussprechen, weil Angelina die Hand auf meinen Mund hielt.
Wir gingen über einen Feldweg, weg vom Quartier, weg von der Stadt. Als die Hochhäuser weit hinter uns lag, setzte sich Angelina auf eine Bank am Wegrand. Am Himmel blitzten die ersten Sterne auf.
Ich schaute nach oben, spürte aber Angelinas Blick auf meinem Gesicht. Sie liess nicht ab. Eine Weile versuchte ich, dem Blick zu entgehen, jetzt hatte ich Angst vor dem, was kommen würde.
Letztendlich gab ich auf. Ich sah Angelinas gütig dreinblickende Augen, versank beinahe darin.
„Du weißt, was ich sagen möchte“, flüsterte sie. Ich musste keine Antwort geben.
Wie in Zeitlupe näherten sich unsere Münder, mit jedem Augenblick wurde meine Gänsehaut stärker. Ich zitterte. Wenn das ein Traum war, wollte ich nie wieder aufwachen.
Unsere Lippen berührten sich, ein Funke entsprang und entfachte ein loderndes Feuer. Ich wollte nicht, aber ich musste fragen.
„Bist du sicher, dass du das möchtest? Du bist Spitex-Angestellte, pflegst mich.“
„Ich habe mir das lange überlegt. Und ja: Ich möchte es, allen Regeln zum Trotz. Tief in meinem Innern wollte ich es, seit ich da erste Mal bei dir war. Und mit jedem Mal wurde es mir bewusster.
Wir lächelten. Unsere Hände fanden sich, Angelina verschränkte unsere Finger. Wir küssten uns. Der Wind pfiff sein Liebeslied dazu.
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