Unter der Sonne der Toskana
von Tilmann Ströbele
Lenka war selig. Vor einem halben Jahr hatte sie ihr Abitur bestanden, mehr schlecht als recht zwar, aber Abschluss war Abschluss und im nachhinein betrachtet war die Note mehr als gerechtfertigt.
Weil sie ein sprachwissenschaftliches Studium anstrebte, hatte sie seitdem viel in einem Reisebüro gearbeitet und dabei neben dem Aufschnappen diversen Sprachfetzen beliebter Verkehrsprachen richtig Fernweh bekommen. Und da seit der Schule Italienisch konnte und das italienische Savoir-vivre seit den zahlreichen Urlauben mit ihren Eltern immer geschätzt hatte, plante sie schon lange einen eigenen ruhigen Sommerurlaub in der Toskana – am besten noch vor dem kräftezehrenden Studium!
Durch die guten Beziehungen ihres Arbeitgebers bekam sie sogar Prozente, so dass es ihr möglich wurde, ein wirklich erstklassiges Hotel im angesagten Badeort Castiglione della Pescaia am Tyrrhenischen Meer zu beziehen – und das zu einem mehr als moderaten Preis!
Die erste Woche der anberaumten vierzehn Tage war herrlich. Die goldene Sonne strahlte unentwegt vom stahlblauen Himmelsbaldachin und über die feinsandigen Strände wehte vom eher ruhigen Meer her ein angenehmer, nicht zu kühler Wind.
Mit ihrer blasszarten Haut und den langen blonden Haaren hatte Lenka natürlich keinerlei Probleme bei den zahllosen braun gebrannten Italienern Anschluss zu finden. Ihr Italienisch reichte locker, um sich zu verständigen und auch mal verbal für Abstand zu sorgen, wenn einer der Jungs über die Stränge schlug und allzu zutraulich wurde; doch meist hatte man ausschließlich kurzweiligen Spaß zwischen den zahlreichen Strandbars, Buden und Volleyballnetzen.
Nur abends war es etwas langweilig, oft saß sie einsam im Restaurant und streifte mit müden Augen durch die unendlichen Reihen des Büffets. In diesen langen Momenten wünschte sie sich dann doch eine männliche Begleitung. Aber woher nehmen und nicht stehlen? Seit sie ihren Ex-Freund zwei Wochen vor den Prüfungen in die Wüste geschickt hatte, hatte sich nichts mehr ergeben. Kein Wunder, denn zum Kennenlernen gehörten nun einmal Partys oder andere Veranstaltungen mit Publikumsverkehr, und solchen beizuwohnen, dazu hatte ihr, bedingt durch Prüfungen und anschließende Arbeit, einfach die Zeit gefehlt.
Es war der Montag der zweiten Woche, der schlechteste Tag des ganzen Urlaubs bis zu diesem Zeitpunkt. Ein grauer Dunst hatte sich über den Himmel gelegt und auch der Wind verstärkte
sich zu einer kräftigen Brise. Lenka beschloss dem Strand ausnahmsweise einmal den Rücken zu zukehren und in der malerischen Altstadt durch die engen Gässchen schlendern.
Dort war nicht viel los, nur vereinzelt tingelten Touristengrüppchen die Ladenzeilen entlang und auch die Stühlereihen der Straßencafés waren mehr als licht besetzt.
Lenka kam bald zu einer kleinen Boutique, die ausschließlich Bademoden und Unterwäsche im Sortiment hatte. Sie hielt inne, stöberte ein wenig in der Auslage, bis sie plötzlich von einem knappen String-Bikini aus schwarzen Satin in den Bann gezogen wurde. Es war einer dieser Bikinis, die für den normalen Badebetrieb viel zu extravagant, fast schon anstößig waren, eben Bikinis, die allenfalls gutgebaute Topmodels auf Luxusjachten den Paparazzi in das Teleobjektiv hielten. In einem Anfall von Übermut und angetrieben vom billigen Preis nahm Lenka kurzerhand den Zweiteiler und trippelte damit in das Geschäft, um ihn anzuprobieren.
Verdutzt betrachtete sie sich kurz drauf im Spiegel der engen Umkleidekabine. Er passte fast wie angegossen, nur das Oberteil spannte ein bisschen, was aber wiederum zur Folge hatte, dass ihr Dekolleté so praller wirkte und dem Betrachter weit mehr ins Auge sprang als gewöhnlich. Selten war Lenka stolzer auf ihren Körper gewesen, der durch seine leichte Sonnenbräune sehnig und langgliedrig wirkte. Sie beschloss den Bikini zu kaufen und vorerst als Unterwäsche zu tragen, denn irgendwie fühlte sie sich doch zu unsicher, ihre Errungenschaft dem voll besetzten Strand zu präsentieren.
Am Abend desselben Tages fand unten am Hafen ein kleines Sommerfest statt. Die Balustraden waren mit transparentem Stoff verhangen und an der Pinienallee baumelten helle Lampions in den drei Landesfarben in der lauwarmen Dämmerung. Besonders an den Ständen der örtlichen Weingenossenschaft tummelten sich die fröhlichen Besucher, da dort der süffige Rotwein der umliegenden Bauern zur Verköstigung ausgeschenkt wurde. Auch Lenka machte von diesem Angebot gebrauch und war alsbald etwas beschwipst. Jetzt bekam sie Hunger. Im Hotel hatte sie zuvor nur einen kleinen Römersalat gegessen. Mehr und mehr verzweifelnd suchte sie nach einem Stand mit Canapés oder Antipasto, bis den schwer beladenen Tisch einer nahen Rosticceria erspähte. Atemlos durch die eilige Suche stellte sie sich artig an das Ende der Schlange.
In diesem Moment schlug ihr jemand jäh von hinten auf die Schulter. Erstaunt drehte sie sich um und wollte dem Unbekannten schon ein patziges "Lasciami stare!" entgegenschleudern, da erkannte sie ihn. Es war Florio, ein ehemaliger Klassenkamerad aus dem Gymnasium.
"Was machst du denn hier?", fragte sie ihn überrascht!
"Das Gleiche könnte ich dich fragen!", lachte er. "Wenn du es wirklich wissen willst, mein Vater kommt hier aus der Gegend, deshalb bin ich hier jeden Sommer, seit ich denken kann. Und du?"
"Ich mache hier Urlaub, aber hätte ich gewusst, dass man hier die gleichen alten Nasen wie zu Hause trifft, hätte ich mir das auch sparen können!", antwortete sie verschmitzt.
Sie musterte ihn, in der Schule war er ihr weder positiv noch negativ aufgefallen, aber eigentlich sah er mit seinen braunen Locken, den hellen Augen und seinem eher schlaksigen Körperbau nicht wirklich schlecht aus.
Ihr Gespräch plätscherte nun nur so dahin, drehte sich über Dies und Das, alte Zeiten und fast schon vergessene Mitschüler, als Florio zufällig auf Lenkas Armbanduhr blickte und postwendend stutzte.
"Was, schon so spät? Ich habe meinem Vater versprochen um neun Uhr zum Essen zurück zu sein!", haspelte er und begann unruhig hin und her zu tänzeln. Lenka war schon im Begriff sich zu verabschieden und wieder in der Masse aus unablässig vorbeiziehenden Leuten einzutauchen, da schaute ihr Florio mit einem Mal tief in die Augen und sie erwiderte diesen Blick. In den grüngrauen Tiefen glaubte sie ein stilles Verlangen brennen zu sehen! Er begann zu stottern: "W-w-wusstest du, da-da-dass es in Italien Brauch ist, e-e-ei...eine schöne Frau, der man zu-zu-zufällig begegnet, zum E-e-essen einzuladen, ei-ei-einfach so ohne wei-wei-weitere Umstände?"
War es der Alkohol, oder warum kam ihr sonst ohne weiteres Nachdenken die kecke Gegenfrage "Echt? Was steht denn auf dem Menuplan?" über die Lippen.
"Äh, Scaloppine in Weißweinsoße, glaube ich!", entgegnete Florio etwas verdattert.
"Klingt gut!"
"Meine Nonna kocht auch sehr gut!"
"Na, dann ...
"Also, ...?"
"Ja!"
Es war Wahnsinn, sie kannte Florio eigentlich überhaupt nicht! Offensichtlich interessierte er sich für sie, und das auf eine sehr schüchterne aber auch süße Weise, doch das konnte ja auch nur ein Trick sein, um sie in die Kiste zu bekommen.
"Ähm, mein Fiat steht da hinten auf dem Parkplatz!", sagte Florio jetzt etwas sicherer und geleitete eine sichtlich aufgeregte Lenka zu seinem Automobil.
Sie fuhren auf der Landstraße Richtung Grosseto. Die Fahrbahn führte kurz nach dem Ortsausgang in einen dichten Pinienwald, durch den auf einer Länge von mehreren Kilometern immer wieder kleine Sandwege ins Nichts zu führen schienen.
"Wo geht es denn da hin?", fragte Lenka Florio gut gelaunt.
"Ach, jenseits des Waldes liegt ein riesiger Naturstrand. Ist aber nie viel los, normalerweise stapfen da nur ein paar Angler die Dünen entlang. Um diese Uhrzeit ist man sogar völlig alleine!"
"Oh, darüber habe ich im Hotel was gelesen. Schade nur, dass ich da wahrscheinlich nie hinkommen werde. Ein junges, schutzloses Mädel so ganz einsam zwischen Pinien und den Weiten des Meeres ...!" Lenka kicherte und sah ein wenig sehnsüchtig auf die vorbeiziehende Baumlandschaft.
"Also, wenn – wenn du willst, kann ich ja die Tage mit dir runter gehen!", schlug Florio etwas zögerlich vor.
"Ich will aber jetzt!", flachste Lenka. "Bestimmt geht genau in diesem Moment die Sonne unter!"
Florio lächelte. "Naja, zehn Minuten könnten wir entbehren!", sagte er dann nachdenklich.
Sie schauten sich an. Lenka begann zu grinsen und auch Florios Mundwinkel umspielte ein Lächeln. Wenig später hielten sie an einem der provisorischen Parkplatze am Straßenrand, die nicht aus mehr als einem schmalen Streifen aus Wurzeln und Staub bestanden.
Unter den Pinien herrschte eine angenehme Stimme. Der Abendwind fuhr leise seufzend durch das dichte Geäst. Sie gingen den schmalen Weg entlang und kamen bald an alten Steinmauern vorbei. Florio erklärte ihr, dass an dieser Stelle früher ein Restaurant und mehrere Hotels gestanden hätte, seit Anfang der 90'er Jahre aber geschlossen waren und mehr und mehr zerfielen. Etwas weiter in Richtung Strand zerriss das dunkelgrüne Dach aus Nadeln und Zweigen plötzlich und man sah den fahlen Himmel. In der Ferne rauschten kaum hörbar die Wellen. Den Sonnenuntergang hatte sie verpasst!
Die beiden ließen sich auf einer kleinen Erhöhung zwischen den staudenbewachsenen Dünen nieder und blickten auf die gekräuselte Wasseroberfläche unter ihnen. In der Dunkelheit der aufkommenden Nacht lag im Norden die ganze Bucht gesprenkelt mit den blinkenden Lichtern der Uferpromenade von Castiglione vor ihren Augen. Im Süden schimmerte schwach und dunstig die Beleuchtung von Marina di Grosseto durch die Hügel. Und ganz am Horizont, nicht mehr als ein mattschwarzer Strich in endlosen Gewässern, sah man die Insel Giglio.
Lenka blickte zu Florio, dieser seufzte und flüsterte: "Ist doch trotzdem schön hier, oder?" Gleichzeitig bewegte er langsam seinen Arm hinter sie und berührte ganz sachte ihre Schulter.
"Jaja!", sagte Lenka tonlos und abgelenkt durch die Stimmung im Sand um sie herum. Florios Hand intensivierte den Griff um ihre Schulter und begann allmählich ein wenig nach unten zu wandern. Lenka ließ ihn gewähren. Sie war ganz und gefangen in der Magie dieses Ortes, wo sich das Rauschen des Windes, das Branden der Wellen und das unablässige Zirpkonzert der Zikaden im Wald hinter ihnen zu einem zärtlichen Grummeln verbündeten und diesen einen Moment zu so etwas Einzigartigem machten,
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Kommentare
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bolle
aber gut zu lesen.«