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Kommentare: 27 | Lesungen: 7609 | Bewertung: 9.59 | Kategorie: Sonstiges | veröffentlicht: 07.03.2016

Victorias Körper, Teil II

von

Zweiter von drei Teilen

* * *

Donnerstag

Die Nacht endet um exakt fünf Uhr und zwanzig Minuten mit dem aufdringlichen Geklingel meines Weckers. Zum Kotzen, dieses Geräusch. Aber immerhin: Ich hatte sechs Stunden Schlaf und bin zur Abwechslung mal nicht verkatert.


In völliger Stille liege ich auf meinem Bett und starre in die Dunkelheit, weil mich ein Gefühl irritiert, das unangenehm dumpf in meinem Bauch nachhallt. Ich habe es aus meinen Träumen mit an die Oberfläche gebracht. Träume voller Sex. Sex mit Victoria und Sex mit Alice. Irgendwie waren sie ein und dieselbe Person gewesen.


Dass ich für die Sachen, die ich gestern zu Alice gesagt habe, keinen Orden für galantes Verhalten bekomme, muss mir niemand erklären. Aber warum habe ich jetzt auch noch ein schlechtes Gewissen wegen Victoria? Ich habe ihre Sexbilder angeschaut und mir dabei einen runtergeholt. Wo soll da das Problem sein? Ich habe die Fotos weder gemacht noch gestohlen.


Ich denke an Camilla und ihre Vorwürfe. Bin ich wirklich so schlimm zu Frauen, wie sie behauptet hat? Männer, Frauen, Moral, Recht und Unrecht, Verantwortung, Gefühle, Sex – wer soll bei dieser ganzen Scheiße schon durchblicken? Ich stehe auf und mache mich fertig fürs Training.

* * *

Die Fahrradtour mit Richard durch das Winterwunderland, in das sich Oxford nach zwei Tagen Dauerschneefall verwandelt hat, gerät zur Rutschpartie. Als wir endlich am Bootshaus eintreffen, sind wir die letzten. Das Boot liegt schon im Wasser, die anderen stecken mitten in den Vorbereitungen auf das Training. Einziges Gesprächsthema: Victoria.


Tobias ist ganz aus dem Häuschen. Begeistert erklärt er, die Bilder seien das absolut schärfste Material, das er je gesehen habe. Seb, Jorge und Michael streiten, ob Victoria die Bilder selbst verbreitet hat oder ob sie gestohlen wurden. Seb tippt auf Diebstahl aus Rache oder simpler Boshaftigkeit, Jorge und Michael hingegen können sich durchaus vorstellen, dass Victoria selbst dahintersteckt. „Gibt ja genug Leute, denen so was einen Kick gibt“, behauptet Michael.


Lewis möchte wissen, was Richard von den Bildern hält, woraufhin dieser knapp erwidert, er habe die Fotos nicht angesehen und könne deshalb nichts zu ihnen sagen. Das glaubt ihm natürlich keiner und sofort reden alle lautstark und gleichzeitig auf ihn ein. Es wird viel gelacht, die Stimmung ist ausgelassen. Lewis will wissen, warum Richard die Bilder nicht angesehen hat. Dazu sagt Richard nur: „So was hat wirklich keinen Stil.“


Keine Frage, er meint das völlig ernst. Die anderen glauben ihm zwar kein Wort, aber ich bin sicher, dass Richard die Fotos tatsächlich nicht angeschaut hat. So ist er eben. Er hält Pornos, Stripclubs, Nutten und so weiter für Schummelei.


James verkündet, seiner Meinung nach sei Victoria selbst schuld an ihrer Lage. „Wer blöd genug ist, sich mit dem Finger in der Muschi fotografieren zu lassen, kann sich auch nicht beschweren, wenn am Ende so was dabei rauskommt.“ Dafür erntet er viel zustimmendes Gemurmel.


Aber nicht von Petr. Der hat die Diskussion bislang schweigend und zunehmend irritiert verfolgt. James' letzter Satz bringt ihn dann endgültig zur Explosion. Er schmeißt seine Sporttasche auf den Boden und brüllt: „Seid ihr eigentlich über Nacht alle verblödet, oder was?“ Petrs Ausbruch endet in allgemeinem verblüfften Schweigen, alle starren ihn an. Es ist schwer genug, Petr zu irgendeinem Statement mit mehr als drei Worten zu bewegen. Emotionen, die nichts mit Rudern zu tun haben, kennen wir überhaupt nicht von ihm. Aber jetzt steht er da in seinem Trainingsoutfit und funkelt uns an, unverkennbar wütend.


Petr ist deutlich älter als der Rest von uns, schon Ende zwanzig, außerdem verheiratet, Tscheche, praktizierender Rechtsanwalt in Prag, in Oxford Doktorand am rechtswissenschaftlichen Institut, ein Bär von einem Mann und eine absolute Maschine im Boot. Seit einem halben Jahr ist er außerdem Vater von Zwillingen, zwei zuckersüßen Mädchen mit riesigen, unschuldigen Augen.


„Von wegen selbst schuld“, empört er sich jetzt. „Dieses Mädchen ist hier das Opfer, ihr Pfeifen.“ Mitten in seinem Holzfällerbart hat er die Lippen zu einem wütenden Strich zusammengepresst. „Selbst wenn sie diese Fotos freiwillig und bei klarem Verstand gemacht hat, und das kann man wirklich bezweifeln, selbst dann hat niemand das Recht die Bilder ohne ihre Zustimmung zu veröffentlichen.“


Es ist jetzt schon die längste zusammenhängende Äußerung, die ich je von Petr gehört habe. Und er ist noch nicht fertig: „Persönlichkeitsrechte. Unverletzlichkeit des Körpers. Schon mal gehört? Ihr Körper ist ihre Privatsache und kein Ausstellungsstück für jeden notgeilen Wichser im College. Nicht das Mädchen ist schuld an dieser Sache, sondern das Arschloch, das die Bilder rumgeschickt hat.“


Er zeigt mit dem Finger auf jeden von uns, nacheinander. „Und wenn ihr diese Bilder weitergebt oder auch nur anseht, dann seid ihr mitschuldig an dem Unrecht, das ihr angetan wurde. Nicht juristisch vielleicht, aber moralisch. Auch junge Mädchen mit tollen Titten dürfen selbst entscheiden, wer sie nackt sieht. Das ist wirklich nicht besonders schwer zu verstehen, ihr müsst bloß mal mit dem Gehirn darüber nachdenken statt mit dem Schwanz.“ Ohne ein weiteres Wort dreht er sich um und trägt sein Zeug zum Wasser.


„Wie ich schon sagte“, bemerkt Richard gut gelaunt in die Stille hinein. „Es hat einfach keinen Stil.“

* * *

Keine drei Stunden später liege ich auf dem weichen Teppich in Richards Zimmer und starre gedankenverloren an die Decke. Richard liegt auf dem Bett und tut dasselbe. Nach dem Training haben wir uns Frühstück geholt und zu zweit bei ihm gegessen. Irgendwie konnten wir uns danach nicht dazu aufraffen mit der Arbeit anzufangen und so liegen wir jetzt hier und tun – im Wesentlichen – gar nichts.


Richard ist immer noch ungewöhnlich ernst und verschlossen. Irgendwas ist passiert auf der Clarendon Party am Dienstag, aber ich habe keine Ahnung, was es sein könnte. Ich habe ihn gefragt, während des Frühstücks. Er legte sein Sandwich zur Seite und grübelte eine Weile. Am Ende sagte er nur: „Können wir einfach sagen, es ist etwas passiert, über das ich nachdenken muss?“


„Auf der Clarendon Party?“, wollte ich wissen.


„Ich will wirklich nicht darüber reden.“


Und damit war das Thema durch.

„Irgendwie war ich mir sicher, du magst sie“, sagt Richard plötzlich nach einer minutenlangen Stille.


„Wen?“


„Alice.“


Ich denke eine Weile darüber nach. „Ich mag sie nicht nicht“, sage ich schließlich.


„Oh, ok“, erwidert Richard mit gewohntem Sarkasmus. „So sprichst du also mit den Mädchen, die du nicht nicht magst. Gott, ich hoffe, ich bin nicht dabei, wenn dir eine mal so richtig unsympathisch ist.“


Ich seufze. „Ich weiß auch nicht…“ Pause. „Irgendwie macht sie mich ganz verrückt mit ihrer Art. Diese naive Kleinmädchengefühlsscheiße, damit komme ich nicht klar. Wie kann es sein, dass sie nach drei Tagen Funkstille nicht verstanden hat, dass ich nicht interessiert bin? Ist sie dumm, oder was ist da los?“


Ich muss einmal durchatmen, um mich zu beruhigen. Dann, gefasster: „Ich wollte ihr nicht weh tun, deshalb habe ich mich ja die ganze Zeit vor dem Gespräch gedrückt. Mit der Nummer in der Bar hat sie mir einfach keine Wahl gelassen. Du weißt, dass das stimmt.“


Richard denkt nach. „Ich glaube, so dumm oder naiv, wie du denkst, ist sie nicht. Vielleicht hat sie für das alles einen guten Grund, den du halt nicht kennst. Und dich in der Bar so zu konfrontieren, vor den Jungs, das war zwar echt dämlich, aber auch ganz schön mutig. Ehrlich? Wenn du diese Sachen zu mir gesagt hättest, wäre ich wahrscheinlich auch heulend weggelaufen.“


Ich lache, aber innen drinnen fühle ich mich ziemlich elend.


„Ich verstehe nicht“, macht er weiter, „warum du nicht versucht hast eine halbwegs friedliche Lösung mit ihr hinzubekommen. Das hat doch nur Vorteile. Schau, ich habe bis jetzt mit zwei Frauen geschlafen, seitdem ich wieder in der Stadt bin, und heute Abend gehe ich mit beiden essen. Zusammen. Wer weiß, vielleicht geht eine von ihnen ja nochmal mit mir ins Bett?“


Ich lache. Typisch: Während ich mit den Konsequenzen meines One-Night-Stands kämpfe, schließt Richard mit seinen Bettgeschichten Freundschaft. Keine Ahnung, wie er das immer macht.


„Warum kommst du nicht einfach mit?“, schlägt er vor. „Du kannst die weniger Hübsche vögeln.“


„Ich kann nicht. Heute Abend ist Welcome Dinner, bin mit meiner College-Nichte da.“


„College-Nichte, echt? Ganz schön viel Aufwand für einmal Sex.“


Pause.


„Glaubst du, die Sache in der Bar hat es mir mit den Clarendon-Jungs verdorben?“


„Verdorben?“ Er lacht. „Im Gegenteil. Damit bist du zum ersten Mal auf dem Radar von Rufus aufgetaucht. Er fand die Szene mit Alice irre komisch. Und Tom hält sowieso ziemlich viel von dir seit eurer kleinen Blowjob-Geschichte.“


Pause.


„Was denkst du? Was wollen die von mir?“


„Schwer zu sagen.“ Er grübelt. „Vielleicht überlegen sie, ob sie dir ein Angebot machen sollen?“


„Angebot?“


„Clarendon Club. Mitglied sein im Clarendon Club.“


„Ernsthaft? Ich? Nicht englisch, nicht adelig, nicht reich?“


„Wieso nicht? Alles schon da gewesen. Und was sollte es sonst sein?“


Lange Pause.


„Richard, bist du im Clarendon Club?“


Ein Schnauben, irgendwo zwischen amüsiert und irritiert. „Was für eine Frage! Egal ob ich ja oder nein sage, du würdest mir eh nicht glauben können.“


„Das ist keine Antwort auf meine Frage.“


„Oh, danke für diesen Hinweis.“


Stille.


„Ich frage nur, weil du so viel mit Henry, Rufus und Tom zu tun hast. Ich weiß, du kennst sie von der Schule, aber trotzdem...“


„Nur Henry und Tom waren mit mir in Eton. Rufus war in Harrow und da so etwas wie der dunkle Lord der Schule. Es gibt Geschichten über ihn, die selbst für die großen, alten Internate übel sind, und das sind wirklich keine Streichelzoos.“


„Zum Beispiel?“


Pause.


„Erzähle ich dir mal, wenn wir weit weg sind von St. Paul's. Das ist hier kein gutes Thema.“

* * *

Auf dem Weg zur Bibliothek sehe ich, dass irgendjemand in wütenden Kreidestrichen „Solidarität mit Victoria“ auf die große Tafel im Durchgang zwischen Old Quad und New Quad geschrieben hat. Natürlich hat dann jemand anderes „Solidarität“ durchgestrichen und „Geschlechtsverkehr“ daruntergekritzelt. So was ist unvermeidlich.

Nur wenig später habe ich eine E-Mail von Dr. Kendal, dem Dekan, auf meinem Bildschirm, die an alle Mitglieder des Colleges adressiert ist. Er bringt seinen Schock darüber zum Ausdruck, dass intime Fotos einer Studentin im Umlauf sind, die möglicherweise gegen den Willen der Betroffenen verbreitet wurden. Er teilt mit, dass das College mit Hochdruck daran arbeite, die Hintergründe zu klären, und kündigt drastische Strafen an, falls College-Mitglieder in die Sache verwickelt seien.

Als ich die Bod ein paar Stunden später verlasse und durch den großen Innenhof in Richtung Radcliffe Square gehe, löst sich aus einer Gruppe Studenten Tom und kommt grinsend auf mich zu.


„Ah, hallo“, sagt er und schüttelt mir enthusiastisch die Hand. „Wir haben grade von dir gesprochen.“ Er zeigt mit dem Daumen über die Schulter zu den Leuten, mit denen er eben noch zusammenstand. Ich folge seiner Geste mit den Augen und sehe Henry und ein paar unbekannte Jungs. Henry nickt mir freundlich zu.


„Nur Gutes hoffentlich“, sage ich, weil mir nichts Besseres einfällt.


„Vorschlag“, setzt Tom an. „Am Wochenende fahre ich mit Henry und ein paar Leuten zu Henrys Eltern raus nach Woodstock. Ich kann einen Gast mitbringen. Hast du Lust?“


Wer? Ich? „Äh...“, mache ich, sprachlos nach diesem völlig unerwarteten Angebot.


„Ich habe immer gedacht, meine Eltern hätten ein riesiges Anwesen, aber Henrys Familie wohnt im Blenheim Palace. Mal dagewesen? Ist halb so groß wie Oxford, der alte Kasten“, plappert er einfach weiter. „Komm schon, diese Wochenenden sind immer ein Spaß. Irgendwelche interessanten Leute sind garantiert da und das Essen ist fantastisch. Was sagst du?“


Ich habe keine Ahnung, was ich sagen soll. Vielleicht hat Richard recht. Kann es wirklich sein? Wollen die mich in ihrem Club haben?


Ich entscheide, es gibt nur einen Weg es herauszufinden: „Klingt spitze. Ich bin dabei.“

* * *

Am Abend findet in der Great Hall, dem großen Speisesaal des Colleges, die einzige offizielle Veranstaltung für die neuen Studenten in St. Paul's statt: das Welcome Dinner, ein ziemlich protziges Sieben-Gänge-Menü, mit dem man wohl bei den Neuen gleich mal ordentlich Eindruck schinden will. Soll mir recht sein, dieses Dinner ist immer großartig.


Ich bin eingeladen, weil ich mich freiwillig als Pate für einen der Freshers gemeldet habe. Mein einziger Job als „College-Onkel“ ist es einen der Neuen beim Start in Oxford mit Rat und Tat zu unterstützen. Mit großherziger Hilfsbereitschaft hat das natürlich nichts zu tun. Mein Motiv ist – wie soll es anders sein? – Sex. Der Job als College-Onkel ist eine großartige Möglichkeit Frauen kennenzulernen. Und weil ich mit Milo, dem Studenten, der für die Zuteilung der Paten verantwortlich ist, einen guten Deal habe, konnte ich mir dieses Jahr vorab aussuchen, welches Mädchen ich „betreuen“ wollte.


Meine Wahl fiel auf eine Amerikanerin mit dem schönen Namen Fiona. Sie ist erst am Morgen überhaupt in England eingetroffen und noch völlig planlos. Sie kompensiert das mit einer überschäumenden Begeisterung für Oxford, die mich ziemlich irritiert. Als sie mir auf dem Empfang vor dem Dinner vorgestellt wird, ist sie zuerst begeistert von der Tatsache, dass es einen Empfang gibt, und dann begeistert von den alten holzvertäfelten Wänden und dem frühneuzeitlichen Charme des Adam-Smith-Room. Sie ist begeistert vom Sherry, den ich für uns beide vom Tablett eines vorbeieilenden Kellners angle, und begeistert von ihrem brandneuen schwarzen Talar, den sie wie alle anderen auch zu diesem formellen Anlass angezogen hat.


„Genau wie bei Harry Potter“, ist buchstäblich der dritte oder vierte Satz, den sie überhaupt zu mir sagt, begeistert natürlich. Diese Scheiße kann ich immer nur mit Mühe ertragen. Ich hasse Harry Potter.


Fiona sieht ganz ok aus. Mit ihren halblangen dunklen Haaren und den etwas zu üppigen Kurven ist sie nicht unbedingt mein Typ, aber das wusste ich schon von dem Foto auf ihrem Steckbrief, bevor ich mich für sie entschied. Ich habe sie nicht wegen ihrer Schönheit ausgesucht. Sie schien mir eine gute Wahl zu sein, weil sie, erstens, ein Jahr in Heidelberg studiert hat und, zweitens, in St. Paul's rudern will. Viele schöne Anknüpfungsmöglichkeiten für Gespräche. Außerdem will ich sie ja nicht heiraten, nur ficken.


Der Start ist jedenfalls vielversprechend. Sie freut sich ausgelassen über die Möglichkeit ihr ziemlich gutes Deutsch zu verwenden und ist, natürlich, begeistert, dass ich ihr alles über den St. Paul's Boat Club erzählen kann.


„Was für ein toller Zufall, dass wir beide rudern“, ruft sie.


„Wirklich unglaublich“, stimme ich ihr fröhlich zu. Die Zeit bis zum Dinner vergeht wie im Flug.

Als dann irgendwann der große Gong ertönt, hake ich mich bei ihr ein und führe sie im dichten Strom der anderen Gäste die breite steinerne Treppe zur Great Hall hinauf. Als wir durch die großen Flügeltüren in den Saal eintreten, beobachte ich neugierig Fionas erste Reaktion. Ich werde nicht enttäuscht: Sie bleibt einen Moment lang stehen und bewundert staunend das im Glanz von tausend Kerzen erstrahlende Prunkstück des St. Paul's College. Die Great Hall hat ihren Namen wirklich zu recht. Fünfzig Meter lang, zehn Meter hoch, ein Meisterwerk des sechzehnten Jahrhunderts. Weiß verputzte Wände tragen eine kunstvolle, filigrane Balkendecke, schlanke, endlos hohe und mit Glasmalereien verzierte Fenster, gewaltige Kronleuchter, darunter drei lange Tischreihen, die jetzt vor Kerzen, Besteck und Gedecken nur so glänzen. An den Wänden hängen Portraits längst verstorbener Geistesgrößen, die vor uns als St. Paul's-Studenten in diesem Saal gegessen haben: Erasmus von Rotterdam, John Locke, Adam Smith, William Gladstone, T.S. Eliot, J.R.R. Tolkien, Oscar Wilde und so weiter und so fort. Irgendwann werden noch Portraits von Bill Clinton und Stephen Hawking dazukommen.


Nach zwei Jahren in St. Paul's nehme ich das alles gar nicht mehr wahr. Für mich ist die Great Hall mittlerweile einfach nur eine große, laute, zugige Mensa, in der ich drei- oder viermal die Woche essen gehe. Aber für diesen einen Augenblick finde ich in Fionas leuchtenden Augen Fragmente meiner anfänglichen Faszination für diese völlig verrückte, uralte Universität wieder. Es gibt keinen anderen Ort wie diesen in der ganzen weiten Welt. Na ja, ok: einen vielleicht, aber über den spricht man hier nicht.


Ein Blick auf die Sitzordnung, dann führe ich Fiona zielsicher zu unseren Stühlen. Wir haben gute Plätze im hinteren Drittel des Saals, sie sitzt zu meiner Rechten. Hinter meinem Stuhl bleibe ich stehen und erkläre ihr, dass man sich erst hinsetzt, wenn auch die Professoren da sind. Stehend und staunend saugt sie die Atmosphäre in sich auf: überall Studenten in dunklen Anzügen und Talaren, die an ihren Plätzen stehen, lachen und sich unterhalten, auf dem Tisch glänzt schwer und edel im Kerzenlicht das gute Silberbesteck mit eingraviertem College-Wappen. Methodisch aufgereiht und ausgelegt für sieben Gänge wirkt es wie ein Waffenarsenal.

Direkt gegenüber von Fiona, auf der anderen Seite der schmalen Tafel, tritt ein grobschlächtiger, breitschultriger Typ mit wilden roten Haaren an seinen Platz und bleibt stehen. Angus. Er ist wie ich im dritten Jahr und scheinbar auch als College-Onkel hier. Von seinem Neffen fehlt aber jede Spur. Angus und ich haben wenig miteinander zu tun. Ich weiß, dass er Schotte ist und Rugby für St. Paul's spielt, sonst beinahe nichts. Er ist schon ok, irgendwie.


Freundlich nicke ich ihm zu. „Angus, darf ich vorstellen: Das ist meine Nichte Fiona. Sie kommt aus den USA. Nebraska, um genau zu sein. Sie studiert Biologie. Fiona, das ist Angus. Er kommt aus Schottland, aber sie lassen ihn trotzdem hier studieren … er macht irgendwas mit Maschinenbau oder so.“


Angus lacht. „Weiß ehrlich gesagt selbst nicht so genau, was es ist.“ Er beugt sich über den Tisch und gibt Fiona die Hand. Während wir uns unterhalten, füllt sich um uns herum der Saal.

Ein paar Plätze weiter unterhalten sich zwei Jungs, die ich nicht kenne, aufgeregt über Victorias Bilder. Das führt mich zu einer interessanten Frage: Ob Victoria wohl hier ist? Als Studienanfängerin ist sie natürlich zum Welcome Dinner eingeladen. Allerdings hoffe ich für sie, dass sie genug Grips hat heute Abend einen großen Bogen um diese Veranstaltung zu machen. Gott, ich will mir gar nicht vorstellen, was sie sich alles anhören müsste, wenn sie doch käme. Man muss nicht nett, verständnisvoll und sozial kompetent sein, um hier zu studieren, nur clever. Je weniger Victoria von den hässlichen Sachen mitbekommt, die zurzeit im College über sie herumgehen, desto besser. Auf der Jungstoilette in der College-Bar hat jemand ihre Handynummer an die Wand geschrieben, versehen mit der freundlichen Aufforderung sich doch bei Interesse an Sex jederzeit gerne zu melden. Ich habe mein Handy genommen und nachgeschaut: Es ist tatsächlich ihre richtige Nummer. Unschöne Sache. Ich werde nicht anrufen, versteht sich, aber andere werden es tun. An ihrer Stelle würde ich meine SIM-Karte ins Klo werfen und die Stadt für ein paar Wochen verlassen. Hat sie vielleicht, spekuliere ich, während ich mich im Saal nach ihr umsehe. Hier ist sie jedenfalls nicht.

Auch Fiona hat die Konversation der beiden Jungs offenbar gehört. „Unglaublich, diese Geschichte mit den Nacktbildern“, kommentiert sie mitfühlend. „Alle reden davon. Für das arme Mädchen muss das ja die Hölle sein! Ich hoffe, sie ist ok.“


Angus runzelt die Stirn. „Das ist sicher nicht nett gewesen, aber ich sag mal so: Warum macht sie auch so bescheuerte Sachen? Wenn sie sich nicht für diese Fotos ausgezogen hätte, wäre das alles niemals passiert. Da muss man halt vorsichtiger sein.“


Fiona verzieht das Gesicht und öffnet den Mund zu einer Erwiderung, aber ich bin schneller: „Also entschuldige mal, Angus, aber verwechselst du hier nicht Täter und Opfer?“ Wie hatte Petr das doch gleich wieder formuliert? „Persönlichkeitsrechte, Angus, Unverletzlichkeit des Körpers. Victoria kann machen, was sie will, auch solche Fotos. Das ist ihre Privatsache und geht keinen was an. Schuld ist hier nur einer: der Typ, der die Bilder gestohlen und rumgeschickt hat.“


Angus starrt mich ungläubig an, aber Fiona strahlt. „Genau! Perfekt auf den Punkt gebracht“, sagt sie anerkennend und wirft mir einen Blick zu, der mir Hoffnung macht, dass der Abend in meinem Bett enden könnte. Mit einem Seitenblick in Angus' Richtung fügt sie hinzu: „Toll, dass nicht alle Männer hier mit einem Frauenbild aus dem Mittelalter rumrennen.“


Angus schaut mich an, als hätte ich ihn an den Feind verraten. Sorry, Kumpel, denke ich, aber du weißt, wie es läuft. Du hättest es doch genauso gemacht, um sie ins Bett zu bekommen.

„Wo ist denn dein College-Neffe, Angus?“, fragt Fiona dann höflich – ein offensichtlicher aber freundlicher Versuch das Gespräch wieder in sicheres Fahrwasser zu lenken.


„Gute Frage“, brummt Angus, noch immer beleidigt, und wirft einen Blick zum Eingang. Es kommen jetzt nur noch wenige Nachzügler herein, der Saal ist beinahe voll. „Sie wollte eigentlich nur noch schnell auf die Toilette.“


„Hast du sie auch heute erst kennengelernt?“, erkundigt sich Fiona.


„Nein, nein, sie ist schon ein paar Tage hier. Kommt aus Reading, das ist hier ganz in der Nähe.“


„Und wie ist sie so?“, will ich wissen.


„Na ja ... ziemlich posh“, beschwert sich Angus, der alles ist, aber sicher nicht posh. Eher das Gegenteil von fein und vornehm: Mit seiner wilden roten Mähne und dem dichten Bart sieht er aus wie ein Holzfäller. Die meiste Zeit benimmt er sich auch so. „Sie war in Wycombe“, ergänzt er und verzieht das Gesicht.


„Was ist Wycombe?“, fragt Fiona verwirrt.


„Ein sehr, sehr nobles und sehr, sehr teures Mädcheninternat“, kläre ich sie auf.


„Da schicken reiche Leute ihr Frau Töchterlein hin, damit eine feine Dame aus ihr wird“, behauptet Angus, wobei er „Dame“ ziemlich abfällig sagt. Dann deutet er einen sarkastischen kleinen Knicks an.


„Aha“, macht Fiona und presst ihre Lippen zusammen. Es ist ziemlich klar, dass sie Angus für einen Neandertaler hält.


Angus merkt davon nichts. Er schaut sich noch immer um. Dann streckt er plötzlich einen Arm in die Luft und winkt in Richtung Eingang. „Und da kommt sie dann auch endlich...“


Fiona und ich folgen seinem Blick, aber von unserer Seite des Tisches aus ist nicht viel mehr zu erkennen als der Umriss einer Person im schwarzen Talar, die sich hinter den Rücken der uns gegenüberstehenden Gäste auf Angus zubewegt.


Es spielt keine Rolle. Ich weiß längst, wer mir gleich gegenüberstehen wird.


Und da ist sie auch schon. Sie tritt hinter den freien Stuhl auf der anderen Seite der schmalen Tafel, lächelt Angus kurz zu und wischt sich geistesabwesend eine Strähne ihres nussbraunen Haars aus dem Gesicht. Dann wirft sie einen langen, neugierigen Blick auf den vollgepackten Tisch. Das dauert gefühlt eine Minute, eine Ewigkeit für mich, in der ich einen wilden Ritt über die gesamte Klaviatur der menschlichen Emotionen vollführe. Von rauschhaften Hochgefühlen bis hinab zu einem mörderischen Grauen in meinen Eingeweiden ist alles dabei. Irgendwie ist es dann auch eine Erleichterung, als sie endlich den Kopf hebt und mir ins Gesicht schaut. Einen ganz kurzen Moment leuchtet ihr Gesicht noch voller Restfreude, dann erkennt sie mich und ihr Lächeln stirbt einen plötzlichen Tod. Es ist Alice.


Die Situation ist unmöglich, untragbar. Ich kann hier nicht sitzen, einen Meter von Alice entfernt, und einen lockeren, ungezwungenen Abend verbringen, von einer Charmeoffensive in Richtung Fiona ganz zu schweigen. Aber was kann ich tun? Einfach gehen? Irgendwo andere Plätze für Fiona und mich organisieren? Der Butler nimmt mir die Entscheidung ab. Er schlägt zweimal gegen den großen Gong und sofort senkt sich eine aufgeregte Stille über den Saal. Ich bin gefangen.


Alle Köpfe drehen sich zur Stirnseite der Great Hall, wo leicht erhöht ein riesiger Tisch quer zu den übrigen Tischreihen steht. Schweigend beobachten alle Anwesenden, wie durch eine kleine Seitentür die Professoren des St. Paul's College einer nach dem anderen den Saal betreten, allen voran Master Stuart, der hier quasi der Rektor ist.


Alle Köpfe bis auf zwei. Alice und ich stehen uns gegenüber und blicken uns in die Augen – ich mit einer nervösen, ziemlich perversen Freude, sie eisern, erbarmungslos, brodelnd vor Zorn.


„Oculi omnium spectant in te, Deus! Tu das illis escas tempore opportuno...”, schwebt in feierlichem Singsang die Stimme von Master Stuart über unsere Köpfe hinweg, als er den traditionellen College-Segen intoniert.


Mir gegenüber folgt Alice jeder meiner Bewegungen mit funkelnden Augen. Ich schwöre, ich kann ihre Wut wie Gluthitze auf meinem Gesicht spüren. Sie steht da wie ein Boxer, während der Ringsprecher die Regeln erklärt, mit kaum zu zügelnder Aggression, als warte sie auf den Moment, wenn endlich der Ring frei wird und sie anfangen kann mit ihren Fäusten auf mich einzudreschen.


Nicht zum ersten Mal bemerke ich: Sie sieht großartig aus, ernst und feierlich in ihrem schwarzen Kleid und dem schwarzen Talar. Aber ihre Wut macht mich irgendwie traurig. Wie konnte es nur so weit kommen mit mir und ihr? Wie habe ich es hinbekommen dieses stille, schüchterne Mädchen so zornig zu machen? Ihre Wut macht mich aber auch wütend. Gleich wird sie mir wieder vor allen Leuten eine Szene machen, die dumme Nuss. Wenn ich doch nur wüsste, was sie eigentlich von mir will. Ich habe nicht die leiseste Ahnung.


„... Deus, Rex aeternae gloriae“, beendet der Master den Segen und zweihundertfünfzig Studenten nehmen lärmend ihre Plätze ein.


Wir sitzen kaum, da beginnt Angus auch schon mit der obligatorischen Vorstellungsrunde. „Leute, das ist Alice. Sie macht Jura. Und das ist ...“, sagt er, lässig in meine Richtung deutend. Weiter kommt er nicht.


„Wir kennen uns“, faucht Alice gereizt.


Fiona zuckt überrascht zurück und sogar Angus mit seinen ziemlich kurzen sozialen Antennen hat die Aggression in ihren Worten registriert. „Oh“, macht er und sucht dann nach etwas, das er sagen kann. Aus Gründen, die niemand je erfahren wird, entscheidet er sich für: „Ihr seid bestimmt schon…. länger … befreundet?“


„Nein, nein“, antwortet Alice. Sie flötet es geradezu, langsam und zuckersüß, aber irgendwie gelingt es ihr ein geradezu schockierendes Maß an Sarkasmus und Schärfe direkt hinter die freundliche Fassade ihres Plaudertons zu schieben. „Ich bin nur irgendeine Tussi, die er mal gefickt hat.“


Der Typ, der rechts von Alice sitzt, reißt scharf den Kopf herum und starrt sie schwer irritiert an.


Oh weh, stöhnt mein Kopf. Das wird nicht schön.


Einige Sekunden lang spricht niemand.


„Äh...“, sagt Angus. Und dann, als er einsieht, dass ihm nichts Intelligentes mehr einfallen wird: „Was?“


Alice strahlt ihn an. „Ich will sagen, Angus, dass wir uns eigentlich gar nicht richtig kennen. Er hat das ganz schön formuliert: Alles, was ihn an mir interessiert, hat er schon zwischen meinen Beinen gefunden.“


„Was?“, ruft Fiona entgeistert und glotzt mich an. „Das hast du gesagt? Wow, du bist ja mal ein richtiges Arschloch.“


Na super. So viel zum Projekt Ficken mit Fiona.


Jetzt reicht es mir echt. Was will die eigentlich von mir? Was, zum Teufel? Was? Ich entscheide mich für die direkte Lösung und frage einfach: „Und was hat dich an mir interessiert, als du mit mir ins Bett gegangen bist, Alice?“ Ich versuche ruhig zu bleiben. Den Triumph meiner Wut gönne ich ihr nicht. „Du wolltest auch keinen Spaziergang im Mondschein machen, du wolltest keine tiefsinnigen persönlichen Gespräche mit mir führen. Nein, du wolltest, dass ich mich ausziehe, und genau das hast du dann auch bekommen.“


„Ich konnte nicht mehr klar denken“, faucht sie sofort zurück, jetzt offen wütend. „Du hast mich high gemacht.“ So wie sie das sagt, schwingt da eine ziemlich heftige Anschuldigung mit.


Mittlerweile sind alle Gespräche in Hörweite verstummt. Alles verfolgt gebannt unsere Auseinandersetzung. Zum ersten Mal überhaupt bin ich dankbar über den Lärm und die miese Akustik in diesem Saal. Nicht viele Leute verstehen, was wir sagen. Aber ich bin kein Idiot: Ich weiß, dass dieses Gespräch morgen im Wortlaut im ganzen College bekannt sein wird. Irgendwie streiten wir halt gerne öffentlich, Alice und ich.


„Was?“, ruft Fiona schon wieder. Von ihrer anfänglichen Begeisterung für das Dinner ist nicht mehr viel übrig. „Du hast ihr was in den Drink getan, du Schwein?“


„Du hast mich nach dem Koks gefragt, Alice“, erinnere ich sie und kann nicht verhindern, dass es wütend klingt. „Du bist doch erwachsen, oder etwa nicht? Es ist nicht mein Job dir zu sagen, was du dir einwerfen darfst und was nicht.“


„Alice, du musst zur Polizei gehen“, ruft Fiona in schriller Hysterie.


„Fiona: Fresse halten! Jetzt sofort!“, zische ich ihr ins Gesicht und sie hält sie tatsächlich, schockiert.


„Der Punkt ist“, schnappt Alice mit kalter Wut, „du hast mich ohne jede Rücksicht benutzt und dann weggeworfen wie Abfall! Es ging dir nie um mich! Du hast einfach nur irgendeine gesucht, die die Beine für dich breit macht!“


„Na und?“, rufe ich zurück. „Ich hab dir nichts versprochen, ich hab dich nicht belogen. Ich wollte mit dir ins Bett, mehr nicht. Ein verdammter One-Night-Stand. Schon mal gehört? Was ist dein beschissenes Problem, Alice? Du hast jede Sekunde Sex mit mir in vollen Zügen genossen!“


Es ist wahr, ich sehe es in ihren Augen. Aber sie kann ihre Emotionen nicht bändigen, ist zu wütend für Konzessionen jeder Art. Wahrscheinlich hat sie selbst keine Ahnung, was sie eigentlich von mir will.


„Hah! Von wegen!“, ruft sie, als wäre das eine völlig absurde Vorstellung. „Das war der schlechteste Sex, den ich je hatte. Von deinem Minipimmel hab ich die meiste Zeit gar nichts mitbekommen.“


Dafür erntet sie ein paar Lacher aus der Umgebung.


Einen Augenblick lang bin ich sprachlos. Das ist eine so dreiste Lüge, was soll man zu so was noch sagen? Die Antwort, die ich schließlich gebe, ist nicht überlegt und kalkuliert, sondern rein impulsiv und emotional. Ich bin unfassbar wütend und kann dem dunklen Verlangen nicht widerstehen es ihr auf demselben armseligen Niveau heimzuzahlen. „Wie willst du prüde Schnepfe denn guten von schlechtem Sex unterscheiden? So verklemmt, wie du bist, war das doch garantiert das erste richtige Teil in deiner Fotze, seit du dir mit zwölf aus Neugier mal einen Bürstenstil unten reingesteckt hast.“


Ich habe absolut keine Ahnung, warum ich das gesagt habe. Es ergibt noch nicht einmal besonders viel Sinn. Aber ein paar Leute lachen und das ist alles, was zählt. Geschieht dir recht, du blöde Kuh. Was auch zählt, ist, dass ich sie damit verletzt habe. Mehr als verletzt, wie ich dann merke. Die Wirkung meiner Worte auf Alice ist absolut verheerend: Irgendwo tief in ihr geht etwas kaputt, man kann förmlich dabei zusehen. Ihr Gesicht verliert jede Farbe, ihre Mimik entgleist, Tränen schießen ihr in die Augen. Dann drückt sie sich hektisch und unkoordiniert aus ihrem Stuhl hoch und flüchtet halb gehend, halb rennend zum Ausgang, eine Hand über ihren Mund gelegt, als wäre es die einzige Möglichkeit, um nicht schreien zu müssen.


Ohne nachzudenken springe ich auf und folge ihr im Laufschritt aus dem Saal. Nie, nie, nie würde ich einem Mädchen in der Öffentlichkeit nachlaufen, wenn ich bei klarem Verstand wäre, aber bei Alice gehen irgendwie immer die Pferde mit mir durch. Dass sie jetzt schon wieder vor mir wegrennt, macht mich ab-so-lut rasend! Ich weiß nicht, wieso.


Als ich aus dem Saal eile und am oberen Absatz der großen Treppe ankomme, sehe ich noch, wie sie mit flatterndem Talar im Durchgang zum Old Quad verschwindet. „Alice! Alice!“, schreie ich, dann stürme ich fluchend die Treppe hinunter, ihr hinterher.


Wieso sage ich bloß immer so schreckliche Sachen zu ihr? Ich wünschte, ich hätte eine Antwort. Irgendwas an ihr treibt mich einfach in den Wahnsinn.

Aus den großen Fenstern der Great Hall dringt ein warmer Schein in den nächtlich stillen Hof, als ich aus dem Durchgang gerannt komme. Alice ist da, läuft keine zwanzig Meter vor mir am Rasen des Old Quad entlang Richtung Ausgang. Aber sie ist nicht besonders groß und nicht besonders sportlich und hat keine Chance mir zu entkommen. Bevor sie die halbe Strecke durch den Hof geschafft hat, bin ich bei ihr.


„Alice!“, rufe ich wieder und packe ihren Arm. Unsanft stoppe ich sie, wirbele sie herum und fange mir dafür wie aus dem Nichts eine heftige Ohrfeige ein, dass es nur so in meinen Ohren klingelt. Ganz kurz bin ich orientierungslos und lasse los.


Sofort beginnt sie mit ihren kleinen Fäustchen auf meine Brust und meinen Kopf einzudreschen. „Du Arschloch! Du Arschloch! Du Arschloch!“, heult sie mit tränenerstickter Stimme.


Irgendwann gelingt es mir ihre wild um sich schlagenden Hände zu greifen und festzuhalten, allerdings hat sie mir vorher noch zwei Wirkungstreffer auf Nase und Lippen verpasst.


„Alice, Alice. Hör doch zu. Alice!“, rede ich eindringlich auf sie ein.


Ich will, dass sie aufhört mich zu schlagen.


Ich will sie festhalten, bis sie ruhig ist und mir zuhört.


Ich will mit ihr reden, ihr alles erklären.


Ich will sie küssen.


Ich will sie jetzt sofort küssen.


Ich küsse sie.


Ich küsse sie und sie küsst mich, plötzlich, unerklärlich, leidenschaftlich, eindringlich, unauflöslich.


Endlich.


Ihre Lippen schmecken nach Salz. In der winterlichen Nachtluft spüre ich die Hitze ihrer Zunge in meinem Mund. Ihr zarter kleiner Körper an meiner Brust, ihre Arme um meinen Hals, Finger, die sich besitzergreifend in mein Haar krallen. Wir küssen uns gierig, mit der unendlichen Erlösung von Ertrinkenden, die es im letzten Moment doch noch zurück ans rettende Ufer geschafft haben.

* * *

Wir landen dann ziemlich fix in meinem Bett. Davor auf dem Boden, von der Tür zum Bett, eine Spur unserer Erregung: achtlos von Füßen gekickte Schuhe, zwei Talare in einem großen Knäuel schwarzer Seide, mein Jackett, ihr schickes schwarzes Kleid, eine Anzughose, eine blau-rote St. Paul's-Krawatte, eine Haarspange, mein Hemd, ihr BH.


Wir knien dicht voreinander, halten uns, küssen uns, ihre Augen sind geschlossen, darunter getrocknete, schwarz lasierte Bahnen aus Wimperntusche und Salz. Ihre Haare kitzeln mich im Gesicht, ich spüre ihre nackten Brüste an meinem Körper.


Ich bin so, so, so verwirrt. Was passiert hier bloß? Da ist ein unbeschreibliches Glücksgefühl in mir, das mich völlig fertig macht, und gleichzeitig tiefe Scham und Wut und Verzweiflung und Konfusion und Erregung und, glaube ich, alle anderen Gefühle, die es gibt, auch noch. Das zu sortieren wird definitiv eine Weile dauern.


Sie schiebt ihre Hand in meine Boxershorts und schließt ihre kleine Faust um meinen Schwanz. Während wir uns küssen, erregt sie mich. Dann fährt sie runter zu meinen Eiern und umgreift sie sanft. Ich bin unfassbar scharf auf sie. Die ganze Wut, die ganze Anspannung muss jetzt irgendwie raus aus meinem Körper. Ihre Hände machen mich wahnsinnig an.


Nach einer Weile drückt mich Alice mit dem Rücken aufs Bett und lupft die Shorts über meinen Ständer. Sekunden später liege ich nackt vor ihr. Sie schiebt meine Knie auseinander und setzt sich direkt vor meinen Schwanz. Dann beginnt sie mich mit beiden Händen zu bearbeiten, die linke wichst, die rechte spielt mit meinen Eiern, umschließt meinen Schaft, erkundet meinen Hintern.


In ihren Händen wächst mein Ding zu seiner vollen Größe an. Die totale Erregung macht sich bemerkbar: So hart ist er echt selten.


Alices Gedanken drehen sich scheinbar um ähnliche Themen, denn plötzlich lächelt sie versonnen und flüstert: „Überhaupt nicht mini.“


Ich schließe die Augen und genieße ihre Behandlung. Ob sie das wohl so weitermacht, bis ich komme?

„Ich weiß, was du letztes Mal von mir haben wolltest“, behauptet sie nach einer Weile, ganz leise. „Darf ich jetzt?“


Keine Ahnung, was sie meint. Aber wenn ich es letztes Mal wollte, will ich es jetzt vermutlich auch, also nicke ich einfach mal.


Sie beugt sich vor und küsst meine Schwanzspitze sachte. Jetzt weiß ich, um was es geht. Und sie hat recht: Ich wollte am Sonntag unbedingt, dass sie mein Ding in ihren Mund steckt. Und jetzt will ich es auch.


Sie leckt mit ihrer Zunge einmal über meinen Schwanz, von den Eiern bis hoch über die freiliegende Eichel. Mit Lippen und Zunge entdeckt sie mich dort unten, küsst jeden Zentimeter, züngelt und leckt. Sie zieht meine Vorhaut so weit hinunter, wie es geht, woraufhin meine Eichel stolz anschwillt und sich ihr nackt und begierig entgegenstreckt. Das ist fast ein bisschen schmerzhaft, aber auch unglaublich geil. Langsam schiebt Alice ihre Lippen darüber, erst zögerlich, als müsse sie den Geschmack meines Penis testen. Dann wird sie bestimmter und beginnt mich zu blasen. Ich lasse mich fallen und gebe mich den süßen Reizen zwischen meinen Beinen hin.

Leider ist es ein ziemlich mieser Blowjob. Ich habe mich so sehr auf ihren Mund gefreut, und dann so ein Scheiß! Sie verhaspelt sich, trifft nicht die richtigen Stellen, macht erst zu wenig und dann wieder zu viel Druck. Ab und an schaben ihre Zähne über meine Eichel – und das ist echt kein Vergnügen. Einmal tut es so weh, dass ich richtig zusammenzucke. Das bemerkt dann auch Alice. Sie taucht zwischen meinen Beinen auf und schaut mich beschämt und zutiefst unglücklich an. Schon sammeln sich frische Tränen in ihren Augen.


„Hey, hey, hey“, sage ich schnell, bevor die Heulerei richtig losgeht, und ziehe sie zu mir, nehme sie in den Arm. „Du hast nicht so viel Erfahrung damit, oder?“


„Nein“, sagt sie gequält, als müsse sie etwas Schreckliches gestehen.


Ich streichle ihr schönes Haar. „Soll ich dir zeigen, wie ich es mag?“, frage ich vorsichtig und nach einem Moment nickt sie.


Also zeige ich es ihr. Sie versucht es, ich erkläre die Feinheiten, sie übt. Talent hat sie, ist nur ein bisschen zu unsicher und vorsichtig. Aber in puncto Lernwille und Leidenschaft bekommt sie eine Eins mit Sternchen.


„Deine erste Unterrichtseinheit in Oxford: Einzelsupervision zum Thema Blowjobs. Hättest du letzte Woche so auch nicht gedacht, oder?“


Sie lacht. „Nein, wirklich nicht.“ Es tut so gut sie lachen zu hören.


Dann steckt sie sich meinen Schwanz wieder in den Mund, so tief sie kann. Mit ihren Lippen schiebt sie meine Vorhaut druckvoll über die Eichel und wieder zurück. Dann reibt sie mit den Händen ein paarmal über meine von ihrem Speichel gut geschmierte Eichel. Der Kontrast zu ihrer warmen, weichen Mundhöhle ist ziemlich geil. Sie leckt über mein Vorhautbändchen, lutscht ein bisschen an der Eichel und versenkt mein Ding dann wieder tief in ihrem Mund. Jetzt bläst sie rhythmisch, ziemlich kräftig und mit mehr Temperament. Sie hat ziemlich schnell kapiert, was mich anmacht. Respekt, kleines Rehkitz.


„Willst du eine Vorwarnung?“, frage ich, als ich merke, das ich mich dem Finale nähere.


„Ja“, nuschelt sie ohne meinen Schwanz aus dem Mund zu nehmen.


Und dann ist es auch schon so weit. Sehr schön ist das, intensiv und lang. Ich stöhne laut, passiert auch nicht immer. Als ich meinen ersten Strahl in ihren Mund spritze, habe ich für einen Augenblick Angst, dass sie aufhören könnte. Aber sie nimmt es hin und bläst mehr oder weniger ungerührt weiter, während ich ihren kleinen Mund mit meinem Sperma überschwemme.


„Jetzt langsamer, nicht mehr so fest“, dirigiere ich sie, als mein Höhepunkt langsam ausklingt. Ein paar Augenblicke genieße ich ihre Zärtlichkeiten. Irgendwann schiebt sie sich vom Bett und geht nackt bis auf das kleine Höschen zum Waschbecken, um mein Sperma hineinzuspucken und sich den Mund auszuwaschen.


Dann klettert sie wieder neben mich und fragt, nicht ohne Stolz: „Soll ich noch ein bisschen weitermachen?“


Ich schüttele den Kopf. „Das war wunderbar“, sage ich und ziehe sie zu mir. Später will ich sie noch ficken, aber jetzt verspüre ich das Bedürfnis ihr eine ebenso schöne Behandlung zurückzugeben. Ich fahre mit der Hand hinten in ihren Slip und knete ihren schönen Arsch. Dann gleite ich durch die Poritze vor zu ihrer kleinen Muschi und fahre langsam mit einem Finger durch die nasse Spalte.


„Und was möchtest du?“, flüstere ich Alice ins Ohr. Ganz ehrlich? Ich kann mich nicht erinnern, wann ich ein Mädchen beim Sex zuletzt gefragt habe, worauf sie Lust hat. Aber ich freue mich über meine eigene Frage, und gleichzeitig beunruhigt sie mich. Was ist das denn jetzt hier eigentlich?


Alice hat die Augen geschlossen und schmiegt sich an mich. Ihr leicht geöffneter Mund und die sachte Körperspannung verraten, wie sehr sie meinen Finger an ihrem Kitzler genießt. Aber dann sagt sie irgendwann: „Nur einfach hier mit dir liegen. Ist das ok?“


Wie jetzt? Das war's schon? Nicht ficken?


Enttäuschung.


„Na klar“, sage ich mit so viel Selbstverständlichkeit wie möglich. Dann ziehe ich meine Hand aus ihrem Slip und beginne ihren Rücken sanft zu streicheln. Zu meiner Überraschung merke ich, als ich in mich hineinhöre, dass es tatsächlich irgendwie ok ist. Ich entdecke lauter neue Seiten an mir heute Abend.

Irgendwann machen wir das Licht aus und liegen nebeneinander in der Dunkelheit. Sie schläft schon, glaube ich, aber ich bin noch zu aufgewühlt. Das ist kein One-Night-Stand, keine bedeutungslose Sache. Aber was es ist, weiß ich auch nicht. In meinem Kopf rattern die Gedanken.


Irgendwann verändert sich ihr Atem. Irgendwie komisch klingt das. Dann kapiere ich es plötzlich: Alice weint, beinahe lautlos und ganz heimlich, zur Wand gedreht. Ich überlege, ob ich versuchen soll sie zu trösten. Aber will ich das überhaupt? Nachher heult sie mir noch zwei Stunden lang die Ohren voll. Und selbst wenn ich wollte, könnte ich sie überhaupt trösten? Sie weint doch wegen mir, oder nicht? Ich werde nicht schlau aus diesem Mädchen. Was passiert da nur in ihrem schönen kleinen Kopf?


Am Ende entscheide ich mich dafür gar nichts zu machen. Irgendwann hat sie sich dann in den Schlaf geweint und atmet still und friedlich vor sich hin. Ich kann immer noch nicht schlafen, aber es ist mir völlig egal. Alles riecht nach Alice, nach ihrem Parfüm, nach ihrem Körper. Und dieser Duft macht mich glücklich. Flieder, Honig und Geborgenheit.

Freitag

Ich wache auf und bin alleine. Es ist noch fast Nacht, die Dämmerung eine ferne Zukunft. Sie muss sich rausgeschlichen haben. Irgendwie bin ich erleichtert darüber, weil es mir eine potenziell ziemlich schräge Konversation erspart. Ob Sie deshalb einfach so gegangen ist?, fragt mein Kopf. Weil sie sich das auch ersparen wollte? Schon die Möglichkeit, dass es so gewesen sein könnte, kränkt mich.


Ich mache Licht und finde auf dem Nachttisch neben meinem Handy ein kleines liniertes Karteikärtchen. Darauf, in Alices Schrift: „Heute Abend in der Bar? Alice“


Darunter eine Handynummer. Und darunter: ein Herzchen.


Ich muss lachen, dann liege ich grinsend einfach nur so da und schaue eine Weile auf ihre kleine Botschaft. Irgendwann nehme ich mein Handy und speichere ihre Nummer. Dann schreibe ich ihr eine Nachricht: „Sieben Uhr. Versprochen!“

Aufstehen, Sportklamotten an, ausnahmsweise mit Mütze und Handschuhen. Dann gehe ich eine lange Runde laufen, über die Magdalen Bridge und anschließend immer entlang am Fluss durch den frischen Schnee. Die Dämmerung hat kaum begonnen und die Straßen sind noch leer. Es ist verdammt kalt, aber die Bewegung tut richtig gut.

* * *

Nach einem Frühstück in der College-Bar starte ich mit den besten Vorsätzen für einen produktiven Tag meinen Laptop. In meiner Inbox finde ich vier neue Nachrichten.


James aus dem Ruderteam lädt mich zu einer neuen Facebook-Gruppe ein, die sich Victoria's Body Appreciation Society nennt – Fanclub für Victorias Körper. Ich kann es kaum glauben, aber die Gruppe hat tatsächlich mehr als einhundertzwanzig Mitglieder. Es wird rege kommentiert, geliked und geteilt. Kopfschüttelnd klicke ich die E-Mail weg. Was für eine Zeitverschwendung!

Die drei anderen Nachrichten sind von verschiedenen Absendern, haben aber alle mehr oder weniger denselben Inhalt: einen Link zur Webseite eines großen und bekannten englischen Schmierblattes. Ich klicke und Sekunden später leuchtet mir in großen roten Buchstaben eine Headline entgegen: „Sexskandal an prestigeträchtigem Oxford-College. Gestohlene Sexfotos von schöner Studienanfängerin veröffentlicht. College dementiert Verantwortung. Exklusiv: alle Details, alle Stimmen, alle Bilder.“


Mein erster Gedanke: Das kann nicht gut sein. Ich beginne zu lesen und mit jeder Zeile kann ich ein klein bisschen weniger glauben, was da steht. Ich muss sofort mit Richard sprechen.

* * *

Ich muss eine ganze Weile und ziemlich energisch an Richards Tür hämmern, bevor sie aufgeht. Dann steht da allerdings nicht Richard, sondern eine große, ungeschminkte Rothaarige mit schmalem Gesicht und intensiven grünen Augen. Sie sieht ziemlich fertig aus mit ihrer Vogelscheuchenfrisur und den Überresten ihres Make-ups von letzter Nacht. Wortlos drückt sie sich an mir vorbei, Mantel und Tasche in der Hand, und verschwindet.


Etwas irritiert trete ich ein und laufe gegen eine Wand aus Dunkelheit und muffiger, süßlich-verbrauchter Luft. Es riecht nach Alkohol, Körpern und Sex. Irgendwo in der Dunkelheit regt sich Richard in seinem großen Doppelbett, ich höre die Bewegung der Laken. Mit zwei Schritten bin ich am Fenster. Vorhang zurück, Fenster auf. Grelles Morgenlicht, kalter Wind und ein paar Schneeflocken stürzen sich ins Zimmer.


Ich drehe mich um und will Richard zurufen, er soll seinen Arsch aus dem Bett bewegen, aber der Arsch, den ich auf dem Bett sehe, gehört nicht Richard, sondern einem zweiten Mädchen, das nackt daliegt und gerade langsam und träge erwacht. Sie hat kakaobraune Haut, einen großartigen Hintern, schöne Titten und wilde schwarze Locken. Als sie mich bemerkt, zieht sie sich schnell die Decke über den Körper. „Verdammt nochmal, wer bist du denn?“, flucht sie.


„Ein Freund von mir“, höre ich Richards Stimme. „Ich habe ihm erzählt, wie schön du bist, da wollte er unbedingt gleich vorbeikommen.“ Er steht in der Tür zum Badezimmer, nackt und nass bis auf ein großes Badetuch um seine Hüften. Er grinst.


„Fick dich, Richard“, sagt das Mädchen und angelt nach ihren Kleidern, die auf dem Boden vor dem Bett verstreut liegen. Dann versucht sie sich anzuziehen ohne mir die interessanteren Stellen ihres Körpers zu zeigen, wobei sie erfreulicherweise nur mäßig erfolgreich ist. Als sie fertig ist, küsst sie Richard kurz, aber heftig und rauscht dann zu Tür. „Ruf mich an, ja?“, ruft sie noch, dann ist sie weg.


Während Richard sich anzieht, betrachte ich etwas ungläubig die Spuren der vergangenen Nacht. Auf dem Tisch Koksreste, etwas Gras, drei leere Weinflaschen, auf dem Boden am Bett verschiedene aufgerissene Kondompackungen, eine Rolle Klopapier umgeben von zahlreichen benutzten Papierknäueln, ein verwegen schmaler roter Tanga. Auf dem Nachttisch steht eine Tube Gleitgel. Ich schaue mit gehobenen Augenbrauen fragend rüber zu Richard, aber der lächelt mich nur unschuldig an.


„Und ich dachte, ich hätte eine gute Nacht gehabt“, sage ich kopfschüttelnd.

Eine Viertelstunde später sitzen wir nebeneinander auf seinem Sofa.


„… Fotos der attraktiven College-Schönheit wurden ohne ihre Erlaubnis verbreitet. Victoria Bell, 19, aus Canterbury hatte erst wenige Tage zuvor ihr Studium der englischen Literatur am renommierten St. Paul's College in Oxford auf ...“


„Victoria Bell?“, unterbricht mich Richard erstaunt. „Die haben ihren vollen Namen abgedruckt? Wie rücksichtsvoll.“


„Nicht nur das“, sage ich und scrolle auf Richards iPad durch den Artikel, bis ich finde, wonach ich suche. Die Redaktion hat es sich nicht nehmen lassen, der interessierten Öffentlichkeit auch zwei von Victorias Fotos zu präsentieren. Victoria mit nackten Titten auf dem Bett und Victoria mit nacktem Arsch beim Ausziehen ihres Slips, wobei der heiße Schlitz zwischen ihren Schenkeln eher symbolisch verpixelt ist. Man sieht trotzdem alles.


Richard starrt schweigend auf die Bilder und kratzt sich am Kopf. Nach einer Pause sagt er: „Sie hat anscheinend keine Erinnerung daran, wie die Bilder entstanden sind.“


„Wer?“, frage ich verwirrt. „Victoria?“


„Ja“, bestätigt er und fährt dann fort: „Die vom College haben sie gleich am Mittwoch früh ins Krankenhaus gebracht und untersuchen lassen. Irgendwer vom Personal hat sie völlig unterkühlt und verwirrt am Eingang zur Hall entdeckt. In ihrem Blut haben sie dann jede Menge Alkohol und Koks gefunden, und außerdem eine größere Menge Gamma-Hydroxybuttersäure.“


„Gamma-Hydro...was?“


„Liquid Ecstasy.“ Und als ich immer noch fragend schaue: „KO-Tropfen.“


„Was? Was?“ Ich bin total schockiert. „Jemand hat ihr das untergejubelt?“ Dann verstehe ich, was das bedeuten könnte. „Hat jemand sie….? Wurde sie….?“ Ziemlich hilflos wedele ich mit den Armen.


„Nein“, sagt Richard knapp. „Zum Glück nicht. Aber sie vermuten, dass Victoria auf dem Zeug war, als die Fotos entstanden sind.“


„Wow!“, mache ich. Das muss ich erst mal sacken lassen. „Heftig. Würde immerhin erklären, warum sie auf den Bildern so high aussieht.“


„Sie ist ganz schön fertig mit der Welt. Hat sich seit Mittwoch in ihrem Zimmer eingeschlossen und will mit niemandem sprechen. Sie stellen ihr Essen vor die Tür.“


„Was? Sie ist hier?“ Unglaublich, denke ich. Warum tut sie sich das an?


Richard nickt schweigend.


„Richard, woher zum Teufel weißt du das alles?“


„Von Henry.“


Pause.


„Und woher weiß Henry das alles?“


Das bringt ihn zum Lachen. „Du verstehst immer noch nicht so richtig, um wen es hier geht, oder? Der Clarendon Club ist das beste, exklusivste, einflussreichste Old-Boys-Netzwerk auf dieser Insel. Der Premierminister, der Außenminister, der Schatzkanzler, ein halbes Dutzend Abgeordnete in Westminster und nochmal so viele Lords, der Bürgermeister von London und der Direktor der BBC waren als Studenten alle im Clarendon Club. Und das sind nur die, von denen man es sicher weiß. Diese Leute kennen sich alle. Verstehst du? Henry kann sein Telefon rausholen und den verdammten Premierminister anrufen, wenn er will. Du kannst deinen deutschen Arsch darauf verwetten, dass er absolut alles über diese Sache weiß.“


Pause.


„Oh“, ist alles, was mir dazu einfällt.


„Und direkt hier am College gibt es den ein oder anderen Professor, der früher im Clarendon Club war und der Henry mit Vergnügen alles erzählt, was hier intern passiert.“


„Wer zum Beispiel?“, frage ich neugierig.


„Der Senior Tutor zum Beispiel: Forsythe“, sagt Richard.


Das erinnert mich wieder an den Artikel. „Clarendon kommt auch im Text vor. Deshalb wollte ich ihn dir eigentlich zeigen“, sage ich und suche. Dann lese ich vor: „Die Ereignisse am St. Paul's College stehen mutmaßlich in Verbindung mit einer Veranstaltung des berüchtigten Clarendon Clubs, eines exklusiven, nur von männlichen Studenten besuchten Dinner Clubs, der seit dem achtzehnten Jahrhundert in Oxford besteht. Der Redaktion liegt eine interne E-Mail aus der Clubführung vor, die den Schluss nahelegt, dass Drogenkonsum und Sex mit weiblichen Gästen von den Veranstaltern von vorneherein geplant waren. So wurde der Abend von den Organisatoren intern als 'Free Pussy Party' beworben, Gäste wurden ermuntert ihren weiblichen Begleitungen 'eine Substanz eurer Wahl' in die Getränke zu mischen.“


Ich stoppe und suche in Richards Gesicht nach einer Reaktion. Es kommt keine. Er schaut ruhig und gelassen zurück. So habe ich mir das nicht vorgestellt, und deshalb muss ich einfach fragen: „Kannst du dir vorstellen, dass es eine solche E-Mail gibt?“


Richard reibt sich nachdenklich das Kinn. Dann sagt er: „Ich weiß sogar mit Sicherheit, dass es sie gibt.“


Ich kann es nicht fassen. „Das sagst du mir einfach so? Glaubst du, ich wäre auf diese scheiß Party gegangen, wenn ich das gewusst hätte?“ Ich bin ziemlich aufgebracht.


Er zuckt mit den Schultern. „Rufus hat die Mail an ein paar Leute im Umfeld des Clubs geschickt. Da stand noch viel mehr so dummes Zeug drin. Das hat doch keiner ernst genommen! Im Nachhinein vielleicht ein Fehler, zugegeben. Aber was ich persönlich wissen will, ist: Wer hat die Mail an die Zeitung weitergeleitet?“


„Na, dann hör mal, wie es weiter geht“, sage ich und lese wieder vor: „Nach Angaben von Dr. Julie Browne, Professorin am St. Paul's College und Gleichstellungsbeauftragte der Universität Oxford, wird jede dritte Studentin in Oxford während ihrer Studienzeit Opfer frauenfeindlichen Verhaltens, sexueller Übergriffe oder sogar Gewalt. 'Oxford ist immer noch eine von Sexismus und Frauenfeindlichkeit dominierte Welt, in der die Körper junger Mädchen regelmäßig zum bloßen Objekt männlicher Allmachtsfantasien degradiert werden. Jetzt ist wieder das Leben einer unschuldigen Frau zerstört worden', erklärte Dr. Browne im Gespräch mit unseren Reportern.“


„Ach ja...“, seufzt Richard schwer. „Warum nur bin ich nicht überrascht?“


„Warte, es kommt noch härter“, sage ich und lese weiter: „Dr. Browne wies der Führung des St. Paul's College eine schwere Mitschuld an den Ereignissen zu. 'Ich habe die College-Führung mehrfach vor den Veranstaltungen des Clarendon Clubs gewarnt. Es ist und war allseits bekannt, dass sich dort immer wieder unter dem Deckmantel der vornehmen Gesellschaft Übergriffe der übelsten Sorte ereignen. Aber mir wurde gesagt, dass das College stolz ist Veranstaltungen des Clarendon Clubs auszurichten', so Dr. Browne. 'Meiner Meinung nach ist ein Verbot des Clubs unausweichlich. Er steht exemplarisch für die systematische Erniedrigung von jungen Frauen und eine Kultur sexueller Ausbeutung in unserer Gesellschaft und gehört endlich auf den Müllhaufen der Geschichte verbannt.'“


Zum ersten Mal zeigt Richard eine echte emotionale Reaktion. „Wow!“, sagt er ungläubig.


„Was denkst du?“, will ich wissen, neugierig.


Er grübelt kurz, die Stirn tief in Falten gelegt. Dann nimmt er mir das iPad aus der Hand, greift meine Arme und schaut mir tief in die Augen: „Hör jetzt gut zu, das ist wichtig! Bisher hat das College alles getan, um die Sache unter dem Deckel zu halten und intern zu klären, aber das kannst du jetzt vergessen. Browne hat dem College und dem Clarendon Club den Krieg erklärt. Jetzt kommen überall die Messer aus den Taschen. Ich werde ab sofort einen ganz, ganz großen Bogen um alles machen, was mit dieser Sache zu tun hat. Und du solltest dasselbe tun.“


„Ich?“, frage ich verblüfft. „Was habe ich damit zu tun?“


„Du wärst überrascht, wie viele Leute glauben, dass du im Clarendon Club bist“, erklärt Richard und lächelt schon wieder.


„Wie bitte? Warum denn das?“


„Weil ich mit dem Club in Verbindung gebracht werde und wir befreundet sind. Weil du in letzter Zeit viel mit Tom, Henry und Rufus zu tun hattest. Weil jeder weiß, dass du auf der Party warst. Und weil du diese Sachen zu Alice gesagt hast. Arschloch genug für Clarendon, so oder so ähnlich dürfte da die Logik lauten.“ Er zögert, grinst dann. „Wo wir gerade darüber sprechen. Ich habe mehrere sehr schillernde Versionen davon gehört, was du gestern Abend beim Welcome Dinner zu Alice gesagt hast, bevor ihr so öffentlichkeitswirksam aus dem Saal gestürmt seid. Ich bin neugierig: Hast du wirklich gesagt, dass sie sich mit zwölf einen Besenstiel in die Fotze gesteckt hat?“


Ich lache. „Bürstenstil, nicht Besenstiel. Ich bin doch nicht vulgär!“


Richard gluckst vor Vergnügen. „Ich hoffe, dir ist klar, dass die Leute diese Geschichte noch in zehn Jahren bei jedem Dinner in der Hall erzählen werden.“


„Ich kann's nicht ändern“, sage ich achselzuckend. Das stimmt zwar, aber ein bisschen ärgere ich mich auch darüber.


„Und was ist passiert, nachdem ihr rausgerannt seid?“, forscht Richard neugierig nach.


„Mal sehen...“, sage ich zögerlich, als müsse ich in meiner Erinnerung kramen. Dann, grinsend: „Erst hat sie mich geschlagen, dann hat sie mich geküsst und dann hat sie mir einen geblasen.“


„Hah!“, ruft Richard und lacht. „Ich wusste, du magst sie.“

* * *

Und Richard hat noch in einem weiteren Punkt recht: Die Messer kommen wirklich aus den Taschen. Keine zwei Stunden, nachdem ich Richards Zimmer verlassen habe, schickt Dr. Kendal eine E-Mail an alle College-Mitglieder, in der er ein Ultimatum von vierundzwanzig Stunden setzt. Nur in diesem Zeitraum werden, sagt er jedenfalls, Informationen über die Ereignisse und Hintergründe vom Dienstagabend strafmildernd berücksichtigt. Danach, droht er, gebe es kein Pardon mehr. Er schließt mit dem vielsagenden Satz: „St. Paul's ist eine ehrenwerte Institution, die seit mehr als siebenhundert Jahren nach den höchsten intellektuellen und moralischen Standards strebt. Die College-Führung um Master Stuart wird alles in ihrer Macht stehende unternehmen, um den guten Ruf des Colleges sowie die Gesundheit und Würde seiner Studenten zu schützen.“

* * *

Um kurz vor sieben Uhr abends bin ich auf dem Weg von der Bod zum College, als mich eine Nachricht von Frida erreicht. Seitdem wir uns am Montagabend auf der Freshers' Party im Balliol College heftig angeflirtet haben, reizt und neckt sie mich ständig mit kleinen Schweinereien. Sie hält mir die süßen Früchte vor die Nase, aber kosten lässt sie mich nicht. Wie ein Profi.


Aber diese Nachricht ist anders: „Hey Süßer, warum kommst du nicht rüber nach Balliol heute Abend? Wir zwei könnten doch ein bisschen feiern...“


Oha! Das klingt dann doch ziemlich vielversprechend und sehr, sehr verlockend. Es gibt da nur ein kleines Problem, das vermutlich schon in der St. Paul's College-Bar sitzt und auf mich wartet: Alice.


Ist das jetzt ein Date mit ihr heute Abend? Oder eine Aussprache? Ein ernstes Mann-Frau-Gespräch? Ganz ehrlich, ich habe absolut keine Ahnung. Ich habe keine Ahnung, wo ich mit ihr stehe, und ich habe keine Ahnung, wo ich eigentlich mit ihr hin will. Sie macht mich wahnsinnig und sie macht mich glücklich.


Seufzend schreibe ich Frida zurück: „Klingt verlockend! Lass mich kurz was klären, dann melde ich mich nochmal.“ Ich schiebe das Telefon in die Tasche und gehe die Treppe zur Bar hinunter.

Alice ist schon da. Sie steht auf, als ich an den kleinen Zweiertisch in der Ecke trete, den sie ausgesucht hat. Alles an diesen ersten Momenten ist seltsam und irgendwie unnatürlich. Soll ich sie küssen? Und wenn ja, auf den Mund? Oder freundschaftlich links, rechts auf die Wange? Alice steht genauso tollpatschig und verlegen da wie ich. Schließlich setzen wir uns wortlos und ohne irgendwelche Berührungen. Oh Mann, ich habe absolut keine Ahnung, wie das geht, diese ganze Beziehungsscheiße. Vor meinem geistigen Auge sehe ich, wie Richard sich verzweifelt die Hand vor die Stirn schlägt.


Es ist voll in der Bar. Die Leute sind zum Vortrinken gekommen, bevor es später in einen nahegelegenen Nachtclub geht. Noch so eine große Freshers' Week-Party. Normalerweise würdest du da auch hingehen, beschwert sich mein Kopf. Mache ich vielleicht ja auch noch, behaupte ich trotzig. Mit Frida feiern, mit Frida ficken. Mal sehen.


Die Leute werfen seltsame Blicke zu uns herüber und ich sehe sie tuscheln. Gestern noch Drama beim Welcome Dinner, jetzt sitze ich hier friedlich, wenn auch ein wenig steif mit Alice. Die Leute sind verwirrt. Das kann ich ihnen kaum vorwerfen, ich bin schließlich auch verwirrt.


Jules kommt hinter seiner Bar hervor und bringt uns ungefragt zwei Gin & Tonic. Seine Nase ist rot und geschwollen und er hat einen heftigen Bluterguss unter dem Auge, wo Rufus' Fäuste ihn getroffen haben. Aber er sieht ganz zufrieden aus, wie er mich so anlächelt. Die Gin & Tonic gehen ausnahmsweise aufs Haus.


Langsam kommt so etwas wie eine Konversation zwischen Alice und mir in Gang. Um alles, was mit Sex, Gefühlen und Beziehungen zu tun hat, machen wir aber erst mal einen weiten Bogen. Sogar die Sache mit Victoria ist da im Vergleich noch sicherer Gesprächsboden. Auch Alice hat den Artikel natürlich gelesen.


„Ich verstehe nicht, warum sie Victorias vollen Namen abgedruckt haben“, rätsele ich. „Das ist so sinnlos und grausam. Außerdem dachte ich, das dürfen die gar nicht.“


„Dürfen sie auch nicht“, antwortet Alice in einem sachlichen, kompetent klingenden Ton, den ich nicht von ihr kenne. „Nur wenn es um eine Person von öffentlichem Interesse geht oder wenn der Name des Opfers der Öffentlichkeit ohnehin bekannt ist.“


„Aber das trifft ja hier beides nicht zu.“


„Doch, leider. Victorias voller Name steht in einer Pressemitteilung von PAGE von gestern Abend. Presserechtlich zählt der Name damit schon als veröffentlicht.“


„PAGE?“, frage ich erstaunt. Die St. Paul's Association for Gender Equality, Jezzy und ihre Hardcore-Feministen. „Die haben ihren vollen Namen veröffentlicht?“ Das klingt absurd.


„Ja. Vorname und Nachname. Ein schrecklicher Fehler.“ Sie sieht ein bisschen betreten aus dabei.


Ich muss sie dann wohl seltsam angeschaut haben, denn plötzlich muss sie lachen. Sie hat meine Gedanken erraten und sagt: „Ich bin Juristin, schon vergessen?“


„Du meinst: Du fängst übermorgen dein Jura-Studium an...“


Sie zuckt mit den Schultern und grinst. „Um das Auswahlgespräch in St. Paul's zu schaffen, muss man quasi schon studiert haben.“


Ich bin ernsthaft beeindruckt von diesem zierlichen Mädchen. Außerdem sieht sie schon wieder verdammt gut aus heute Abend. Ich glaube, sie hat sich extra für mich besonders schick gemacht. Ob sie wohl einen Plan hat, wo das alles hinführen soll?


„Hast du gesehen?“, frage ich. „Sie haben sogar die Bilder von Victoria abgedruckt.“


„Ja, unfassbar. Zum Glück nur die ersten beiden.“


„Oh, in den Kommentaren unter dem Artikel gibt es ungefähr zwanzig Links, unter denen man auch die übrigen Bilder findet.“


Alice wirkt schockiert. „Was für eine schreckliche Welt.“

Nach und nach leert sich die Bar, die Leute ziehen in den Nachtclub weiter. Unter normalen Umständen würde ich jetzt auch aufbrechen. Aber was ist schon normal in dieser Woche? Trotzdem: Ich muss Frida noch irgendwas sagen.


„Willst du in den Club gehen?“, fragt Alice, die meinen Blicken gefolgt ist. Es klingt ein bisschen enttäuscht.


„Keine Ahnung“, sage ich, weil ich tatsächlich keine Ahnung habe. „Was möchtest du machen?“


Daraufhin beugt sie sich vor und sagt leise in mein Ohr: „Ich würde dich gerne mit auf mein Zimmer nehmen und mit dir schlafen.“

* * *

Alice hat ein freundliches Zimmer im ersten Stock der neuen Studentenunterkunft am westlichen Ende des Vicar's Garden. Während sie auf der Toilette ist, schreibe ich schnell an Frida: „Sorry, kann heute leider nicht. Das dauert hier noch länger.“


Dann stehe ich etwas verloren in dem fremden Zimmer und schaue dem Schneegestöber vor dem Fenster zu. Schließlich lasse ich meinen Blick über ihre Sachen schweifen, immer auf der Suche nach irgendetwas, das dieses undurchschaubare Mädchen für mich enträtseln könnte. Es ist aufgeräumt hier drin, ein bisschen nüchtern für meinen Geschmack, aber doch irgendwie stilvoll. Auf ihrem kleinen Schreibtisch steht ein sündhaft teuer Laptop, daneben liegen Jura-Lehrbücher mit unzähligen kleinen gelben Klebestreifenmarkierungen, handschriftliche Notizen in ihrer präzisen, engen Handschrift. Ein Foto, vermutlich von ihren Eltern, ein weiteres von ihr selbst in jungen Jahren mit einer Katze auf dem Arm. An der Wand hängt ein großes Poster von Tom Waits. Alice kommt zurück ins Zimmer, als ich gerade davorstehe.


„Du magst Tom Waits?“, frage ich.


„Ja“, lächelt sie. „Wusstest du, dass er ein Lied über mich geschrieben hat?“


Ich schaue sie fragend an.


„Warte“, sagt sie und klickt auf dem Laptop herum, bis Musik erklingt. Jazzig, etwas disharmonisch, dazu die raue, brüchige Stimme von Tom Waits. Sie singt mit, in ihrer schönen Singstimme: „Your hair is like meadow grass on the tide, and the raindrops on my window, and the ice in my drink. Baby, all I can think of is Alice.“


Dann lacht sie vergnügt und schlingt ihre Arme um mich. Küsst mich.


Ich mag den Song nicht besonders. Aber ich mag, wie sehr sie ihn mag. Und ich mag sie. Und ihre Küsse mag ich auch.

Zum dritten Mal erforsche ich ihren Körper und sie meinen. Es ist eine prickelnde Routine dabei: Küsse, Hände unter Textilien, auf nackter Haut, geöffnete Knöpfe und Gürtel, ihre Lippen auf meinem Hals. Ich küsse ihre tollen Brüste, ihren nackten Bauch, ziehe ihr die Hose aus und streichle sie durchs Höschen zwischen den Beinen. Es ist schwarz und schick und sexy. Ich wette, sie hat es sorgfältig ausgewählt. Unter dem hauchdünnen Stoff spüre ich ihren heißen, feuchten Schlitz, der sich meiner Hand willig entgegendrückt.


„Und was möchtest du?“, wiederhole ich meine Frage vom vergangenen Abend.


Sie knabbert an meinem Ohrläppchen. „Würdest du ….“, beginnt sie und zögert. Es kommt ihr nicht so leicht über die Lippen, aber schließlich sagt sie es doch: „Würdest du mich mit der Zunge berühren? Also … da unten, meine ich.“


„Ich bestehe sogar darauf“, antworte ich und schiebe meine Hand in ihren Slip. Sie seufzt zufrieden.


Aber als ich ihr das Höschen über die Knie ziehe, legt sie sofort reflexhaft eine Hand auf ihre nackte Scheide, als müsse sie sie vor mir schützen oder jedenfalls verbergen. Sie ist nervös, es steht ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. Jetzt sieht sie wieder aus wie das scheue Bambi vom ersten Tag. Dabei haben wir das doch alles schon gemacht! Wer soll das verstehen?


Ich tauche zwischen ihre Knie und beginne sie zu küssen, langsam, zärtlich, vorsichtig wandern meine Lippen ihre Oberschenkel hoch. Dann küsse ich die Hand, die über ihrer Muschi liegt. Genüsslich lutsche ich an ihrem Mittelfinger, was sie genießt. Dann lässt sie zu, dass ich ihre Hand wegschiebe.


Ich habe vergessen, wie zierlich ihre Muschi ist. Die schmalen Schamlippen sind nur leicht geöffnet, aber dazwischen glänzt es feucht. Ich küsse sie dort, erkunde jeden Quadratzentimeter sanft und genüsslich. Langsam entspannt sie sich und irgendwann darf ich dann ihre Schenkel mit den Händen etwas spreizen. Jetzt ist sie soweit. Mitten in ihren Schlitz drücke ich meine Zunge und lecke mit der ganzen Breite einmal hoch, teile ihre Schamlippen und arbeite mich vor, bis ich mit der Zungenspitze um ihren Kitzler kreise. Das macht sie tierisch an und sie beginnt immer wieder leise zu stöhnen.


Ich lecke sie. Nicht zu intensiv, nicht zu schnell, eher experimentierfreudig. Ich will herausfinden, auf was sie steht. Besonders heftig reagiert sie, als ich ihren Kitzler zwischen meine Lippen nehme und daran sauge.


„Uhh“, stöhnt sie.


„Gut?“, frage ich ohne den Kopf aus dem Tal zwischen ihren Schenkeln zu heben.


„Seeehr gut“, gurrt sie zufrieden.


Also sauge ich weiter an ihrem Kitzler, erst langsam, dann schneller, rhythmisch, kräftig, schließlich hart. Ihre Erregung wächst und wächst, bis sie ihren Körper irgendwann nicht mehr ruhig halten kann. Sie windet sich und in kurzer Folge kommt jetzt lautes Stöhnen aus ihrem Mund.


„Stop, stop“, keucht sie plötzlich und ich spüre ihre Hände auf meinem Kopf. „Ich will dich doch in mir spüren.“


Sie rollt mich auf den Rücken und zieht mich aus. Als sie meine Boxershorts herunterzieht, wippt ihr mein harter Schwanz schon voller Vorfreude entgegen. Lächelnd packt sie ihn, zieht die Vorhaut herunter und stülpt ihre Lippen darüber, wie ich es ihr gezeigt habe. Einen Moment lang lutscht und saugt sie zufrieden an meinem Penis und als sie ihn aus ihrem Mund entlässt, glänzt er von der Wurzel bis zur Spitze von ihrem Speichel.


Dann legt sie sich aufs Bett und zieht mich über sie. Als ich meinen Penis zwischen ihre Beine dirigiere, flüstert sie mir von unten zu, genau wie schon beim ersten Mal: „Bitte sei sanft mit mir.“


Der Unterschied ist nur: Dieses Mal werde ich auf sie hören.


Mein Schwanz ist nass, ihre Muschi ist auch nass. Trotzdem leistet ihr Körper den erregendsten Widerstand gegen meinen Penis, als er sie erobert. Sie ist eng da unten und ich spüre jeden Zentimeter, als ich mich in sie drücke. Sie genießt es mit geschlossenen Augen.


Ich mache es ihr langsam und vorsichtig, bis ich irgendwann das Gefühl habe, dass sie für den zweiten Gang bereit ist. Mit beiden Händen greife ich an ihren Arsch und beginne sie ein wenig kraftvoller zu ficken. Jedes Mal, wenn mein Körper gegen ihr Becken stößt, seufzt sie zufrieden. Dann schlingt sie ihre Beine um mich und beginnt mich gierig zu küssen.


„Oh Gott, das fühlt sich so gut an“, stöhnt sie einmal in mein Ohr. „Hör nicht auf“, und dann immer wieder: „Hör nicht auf.“


So geht das noch ein paar Minuten lang, dann atmet sie plötzlich hektischer und flacher. Sie stöhnt jetzt bei jedem Atemzug. Ich gebe noch ein bisschen mehr Gas, was sie noch geiler macht. Dann presst sie nur noch ein langgezogenes „Oh jaaaaa“ hervor, verkrampft sich, krallt ihre Finger in meinen Rücken und kommt geräuschvoll.


Ich spüre ihre Scheidenmuskeln, die sich kräftig zusammenziehen, wieder und wieder und so meinen Schwanz in ihrem Unterleib massieren. Das gibt mir den Rest. Während sie heftig atmend ihren abklingenden Orgasmus genießt, rauscht auch endlich mein Höhepunkt heran. Ich komme gewaltig mit geschlossenen Augen und mit ein paar letzten harten Stößen pumpe ich ihr alles in den Unterleib, was ich habe.

Hinterher kuschelt sie sich eng an mich, nackt wie sie ist, und zieht die Decke über uns. Darunter schiebt sie ihr Bein auf meinen Körper, ihr Schamhaar kitzelt mich an der Seite. Die Augen hat sie fest geschlossen, ihren Kopf auf meine Brust gelegt.


„Alice, schläfst du?“, frage ich leise nach langen Minuten des Schweigens.


Daraufhin öffnet sie träge ein Auge und lächelt mich versonnen an. „Nein. Ich genieße.“


Ich räuspere mich, sammle, was ich mir an Satzbruchstücken zusammengekratzt habe und sage dann: „Alice, ich muss dir was sagen.“


Wieder öffnet sie langsam ein Auge und schaut zu mir hinauf.


„Ich...“, beginne ich.


Pause. Sie schaut einfach nur.


„Ich muss mich bei dir entschuldigen, Alice. Ich war total scheiße zu dir. Dass ich nicht auf deine Nachricht geantwortet habe. Was ich in der Bar zu dir gesagt habe. Das Dinner. Es tut mir so, so leid.“


Jetzt öffnet sich auch ihr zweites Auge. Alice setzt sich auf, neben mich, und streicht sich ein paar Strähnchen aus dem Gesicht. Ernst sieht sie aus.


„Ich habe alles falsch gemacht“, rede ich weiter und nehme ihre Hände. „Kannst du mir verzeihen?“


Sie sagt nichts, schaut mich nur gequält an. Dann füllen sich ihre Augen mit Tränen. Als die ersten Tropfen ihre Wangen hinabkullern, nehme ich sie in den Arm.


Ein Teil meines Kopfes denkt: Hört die denn nie auf zu heulen?


„Es tut mir auch leid“, schluchzt sie an meiner nackten Brust und ich spüre ihre Tränen und ihren Atem auf meiner Haut. Und dann wieder: „Es tut mir so leid, so leid. Bitte verzeih mir.“


Ich bin ziemlich verwirrt von dieser Reaktion. Konfusion ist jetzt soweit für mich nichts Neues, wenn es um Alice geht, aber routinierte Verwirrung ist kein bisschen hilfreicher als die andere Sorte. Was meint sie denn jetzt bloß? Na klar, sie hat auch nicht alles richtig gemacht – mich in der Bar vor allen Leuten so in die Enge zu drängen, zum Beispiel, das war nicht ok –, aber insgesamt liegt die Schuld doch recht klar bei mir.


„Aber...“, beginne ich meine Erwiderung, aber sie würgt mich ab.


„Doch, doch!“, ruft sie. „Es tut mir so leid!“ Dann drückt sie sich plötzlich von mir weg und schaut mich beinahe panisch an aus ihren riesigen, wimperntuscheverschmierten Augen: „Kannst du mir verzeihen?“


Würde ich ja gerne, sofort und ohne zu zögern. Aber was denn nur, verdammt nochmal?


„Alice, natürlich verzeihe ich dir“, versuche ich es, spekulativ. Irgendwie rutscht mir dann noch ungewollt der Nachsatz „Egal was“ heraus.


Sie nimmt es mir nicht ab. Ist vermutlich kein Wunder: Es ist ziemlich schwer eine Position überzeugend rüberzubringen, wenn man keine Ahnung hat, um was es geht. „Das meinst du gar nicht ernst“, schnieft sie enttäuscht.


Mein erster Instinkt besteht darin, „doch, doch“ oder so was zu rufen, aber mittlerweile weiß ich es besser. Es würde bei ihr nicht funktionieren. Also versuche ich es mit Offenheit: „Dann erklär es mir bitte, Alice. Du wolltest nach unserer ersten Nacht irgendwas von mir, aber ich kapiere ums Verrecken nicht, was eigentlich. Ich verstehe nicht, warum das alles so eskaliert ist.“


Sie schaut einfach nur, irgendwie berührt, betreten, verheult, unergründlich, und macht eine dieser endlos langen Pausen, die ich schon öfters von ihr gesehen habe. Und weil ich das bestimmte Gefühl habe, dass sie eigentlich schon etwas sagen will, halte ich einfach die Klappe und warte, bis sie bereit ist.


„Kannst du vielleicht wirklich nicht verstehen“, räumt sie schließlich ein. Es klingt irgendwie leer und tonlos. „Jedenfalls nicht ohne ein bisschen mehr von mir zu wissen.“


Sie holt ein paarmal tief Luft. Ich gebe ihr von dem Klopapier, das wir eben noch für ganz andere Zwecke gebraucht haben, und sie wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Einige Wimperntuschetränenspuren haben es bis hinunter auf ihre nackten Brüste geschafft. Sie setzt sich mit angezogenen Knien an die Wand und zieht sich die Decke bis hoch unters Kinn. So gepanzert ist sie bereit für die Geschichte.


„Du erinnerst dich, dass ich in Wycombe aufs Internat gegangen bin?“


Ich nicke.


„Das ist eine total vornehme Mädchenschule, das weißt du ja. Da sollte ich nach der Grundschule hin. Hat mein Papa entschieden. Er will, dass ich Karriere mache, also musste ich hin. Da war ich elf.“


Aufmerksam höre ich zu. Ich habe da so eine Ahnung, dass es keine besonders schöne Geschichte werden wird.


„Die meisten Leute denken bei Wycombe an lauter reiche kleine Damen, ein schickes Anwesen, völlig verrückte Schulgebühren und nur total gute Lehrer. Klingt alles ganz toll, ich weiß. Aber die Wahrheit ist, dass es für viele einfach nur die Hölle ist. Pubertierende Mädchen können so grausam zueinander sein!“


Sie schnieft und wischt sich ein neue Träne aus dem Auge.


„Die ersten Jahre waren eigentlich ganz ok. Aber dann...“


Wieder schweigt sie lange.


„… aber dann war da irgendwann dieses Mädchen, das immer total penetrant hinter mir und meiner Freundin Kate her war. Sie war älter als wir und so, so viel weiter. Erst war sie einfach nur doof und gemein. Dann fing sie an uns Geld wegzunehmen. Die Lehrer haben nichts dagegen gemacht und mein Vater hat nur gesagt, ich soll mich eben wehren. Hab ich versucht, aber sie hat uns geschlagen und gedroht. Wir mussten dann ständig irgendwas für sie erledigen, ihr Gefallen tun. Solche Sachen. Nach einem Jahr waren Kate und ich total am Ende und sie konnte praktisch mit uns machen, was sie wollte.“


In Alices Augen sehe ich jetzt nur noch Dunkelheit. Irgendwie weiß ich schon, was jetzt kommt.


„Weißt du“, sagt Alice irgendwann und lächelt schief, „es gibt eine Menge Sex zwischen den Mädchen an der Schule.“ Dann schweigt sie wieder.


„Oh, Alice“, entfährt es mir und ich spüre eine Welle des Mitleids durch meinen Körper rollen. Ich sehe sie praktisch vor mir: Alice, das völlig verschüchterte kleine Ding.


Wieder laufen Tränen ihre Wangen hinab. Tapfer erzählt sie weiter. „In ihrem Zimmer hat sie sich manchmal einfach so vor uns ausgezogen und sich angefasst. Sie wollte, dass wir ihr dabei zusehen. Das hat sie irgendwie angemacht. Eines Tages hatte sie dann so einen Stab dabei, so ein Sexspielzeug. Erst hat sie das Ding selbst benutzt, aber dann ...“


Sie kann es nicht sagen, aber ihre Handbewegungen machen jedes weitere Wort überflüssig. Ich nehme sie in den Arm und lasse sie weinen.


Nach einer Weile sagt Alice heißer: „Hinterher hat sie nur gemeint: Jetzt seid ihr richtige Frauen.“ Den letzten Satz hat sie kaum rausgebracht, so sehr heult sie. Es dauert dann lange, bis sie sich etwas beruhigt hat. Gefasst fährt sie schließlich fort: „Ich habe so lange gebraucht, um irgendwie damit klarzukommen. Alles, was da unten passiert“ – sie deutet kurz mit der Hand zwischen ihre Beine – „macht mir Angst. Ich bekomme dann ganz schnell Panik. Selbst nach einem ganzen Jahr darf mein Freund mich da nur ganz, ganz vorsichtig streicheln.“


Wie? Was? Freund?


Freund!, Freund!, Freund! schreit der Teil meines Gehirns, der sich mit Angelegenheiten rund um das männliche Ego beschäftigt. Ein anderer Teil, der für die Verarbeitung rationaler Gedanken zuständig ist, signalisiert zwar verzweifelt, dass das nicht der wesentliche Teil von Alices Geschichte ist, aber es ist hoffnungslos. „Du hast einen Freund?“, frage ich baff.


Normalerweise interessiert es mich kein bisschen, ob die Mädchen in meinem Bett in festen Beziehungen stecken. Aber hier? Jetzt? Mit Alice? Hier und jetzt bin ich tief gekränkt.


Alice lächelt schwach. „Hatte. Ich habe Schluss gemacht.“


„Wann?“, frage ich sofort, aus einer Ahnung heraus.


Ihr Gesichtsausdruck sagt: schuldig. „Heute morgen“, murmelt sie kleinlaut.


Ich weiß, ich weiß: Ich habe absolut kein Recht ihr das vorzuwerfen, nach allem, was ich angerichtet habe. Ich reibe mir müde und ein bisschen verzweifelt die Augen und versuche mich nicht aufzuregen. Eben will ich ihr sagen, dass alles ok ist, da trifft mich eine geradezu ungeheuerliche Erkenntnis: Ihr Freund durfte sie nur ein bisschen streicheln, mehr nicht. Der Freund, den sie heute morgen noch hatte.


„Warte! Warte!“, rufe ich und setze mich ruckartig auf. „Dann war das am Sonntag mit mir… dann war das … dein erstes Mal?“


Der Schatten eines Lächelns huscht über ihr Gesicht. Dann nickt sie.


Ich glotze sie blöde an, völlig sprachlos. Absolut keine Ahnung, was ich sagen soll. Mein Kopf ist eine große, weite Leere.


„Aber warum hast du nichts gesagt?“, rufe ich am Ende. Es klingt in etwa so fassungslos, wie ich mich fühle. Einhundert Prozent fassungslos, heißt das.


„Ich habe gesagt, du sollst sanft mit mir sein.“


Und ich Arschloch habe mich nicht darum geschert. Ich glaube, so geschämt habe ich mich in meinem ganzen Leben noch nicht. Ich kann ihr kaum ins Gesicht sehen. Dieses Mal bin ich es, der eine lange Pause braucht. „Und… habe ich dir weh getan, als ich…? Also, während wir…?“


„Ziemlich“, sagt Alice und erstaunlicherweise klingt sie ganz ruhig und gefasst dabei. „Aber ich habe mir Mühe gegeben, dass du es nicht merkst.“ Sie lächelt.


Ich hätte es nicht einmal gemerkt, wenn du es mir direkt ins Gesicht gesagt hättest.


Sie sieht die Schuldgefühle in meinem Gesicht und streichelt beruhigend meinen Arm. „Hey, keine Sorge. Ich fand es toll mit dir zu schlafen. Der Schmerz war irgendwann vorbei und dann war es einfach nur noch schön. Du hast mir ein wunderbares erstes Mal geschenkt.“


Sie kann nicht wissen, wie gut es tut das zu hören. Zwischen all die Schuld und die Scham mischt sich eine Menge Erleichterung. Und sogar ein Quäntchen Stolz: Ich, Verführer von Jungfrauen!


„Aber warum am Sonntag? Warum mit mir?“


Das bringt sie zum Lachen, aber es klingt ziemlich freudlos. „Weißt du, als ich die Zusage aus Oxford hatte, habe ich mir so fest vorgenommen, hier ein neuer Mensch zu sein. Eine erwachsene, starke, selbstbewusste Alice. Eine ganz normale Frau, und nicht mehr das verstörte kleine Mädchen mit den Panikattacken und den Bindungsängsten. Ich wollte mich hier verlieben und Jungs küssen und Lust spüren und endlich alles nachholen, was ich mich all die Zeit nicht getraut habe.“


Jetzt lächelt sie endlich richtig, ein freundliches und glückliches Lächeln. „Und dann hast du mich in der Bar angesprochen und du warst älter, erfahrener, groß und stark, aus einem anderen Land. Ich fand dich so smart und selbstsicher und witzig und freundlich. Du warst alles, was ich nicht war. Aber trotzdem hast du mir das Gefühl gegeben, dass ich es wert bin mich kennenzulernen.“


Genau das ist der Trick dabei, denke ich. Sagen tue ich: „Aber deshalb gleich Sex?“


„Ich hatte eigentlich, als wir nach der Bar zu deinem Freund gegangen sind, bloß überlegt, ob ich dich vielleicht küssen soll“, lächelt Alice mich an. „Aber dann hab ich das Kokain genommen und danach war ich nicht mehr ich selbst.“ Sie überlegt und lacht dann. „Das war vielleicht ganz gut, denn plötzlich hatte ich zum allerersten Mal nicht mehr so viel Angst vor Sex. Ich wollte dich. Sofort. Ich war so erregt!“ Die Erinnerung daran zaubert ein seliges Lächeln auf ihr Gesicht. „Und es war wunderbar so. Vielleicht nicht so romantisch und sanft, wie Teenie-Mädchen sich das gerne ausmalen, aber dafür wild und leidenschaftlich und erregend und vor allem sooooo lang.“ Sie lacht fröhlich und laut, es ist ein wunderbares Geräusch. „Als ich am nächsten Morgen alleine in deinem Bett aufgewacht bin, hab ich mich wie ein neuer Mensch gefühlt: groß und stark und unverwundbar. Und ich mochte dich wirklich. Ich wollte dich wiedersehen und dir sagen, wie viel mir die Nacht mit dir bedeutet hat.“


Und jetzt kommt's. Da ist sie wieder, diese ungeheure Scham.


„Aber dann bist du nicht gekommen. Zwei Stunden lang hab ich in der Bar gewartet und dann noch zwei Stunden vor deiner Zimmertür. Ich wollte dich suchen, aber ich wusste nicht, wo. Ich wollte dich anrufen, aber ich hatte deine Nummer nicht. Mit jeder Minute ging es mir schlechter und alles, was so gut gewesen war an diesem Tag, ging wieder kaputt. Ich fühlte mich so dämlich, so klein, so naiv, so ausgenutzt. Ich war so, so, so wütend auf dich.“


Sie schaut mich traurig an.


„Es tut mir leid, Alice. Ich war ein Riesenidiot.“


„Das stimmt“, sagt sie ohne eine Sekunde zu zögern, aber dann lacht sie wieder. Sie wirft sich in meine Arme und küsst mich ausgiebig und ziemlich leidenschaftlich. „Und jetzt liegst du doch noch in meinem Bett und hast mir mein zweites Mal geschenkt“, stellt sie anschließend mit einem leisen, sehr zufriedenen Lächeln fest. „Und ich bin bin sogar richtig gekommen!“


Sie schaut mich durchdringend an und es funkelt in ihren Augen. Plötzlich spüre ich ihre Hand an meinen Eiern. „Aller guten Dinge sind drei?“

Samstag

Aller guten Dinge waren am Ende sieben. Oder acht – je nachdem, wie man rechnen will. Wir hören erst auf, als jede weitere Minute Sex eine Minute Verspätung beim Rudern bedeuten würde, und das geht halt nicht. Aber es war trotzdem spitze. Wir haben die ganze Nacht durchgevögelt.

Die Fahrradfahrt zum Bootshaus mit Richard, Tobias und Jorge ist reine Folter für meinen geschundenen Körper. Mein Penis ist feuerrot und brennt von der Spitze bis zum Ansatz, meine Eier sind ein Schlachtfeld aus Schmerz. Es tut so weh, an Sitzen ist nicht zu denken. Ich muss die ganze Strecke im Stehen radeln. Natürlich lachen sich die anderen halbtot und machen einen blöden Witz nach dem anderen über Alice und mich. Ich höre mir ihre derben Kommentare an, gelassen und sehr, sehr gut gelaunt. Was das jetzt ist mit ihr und mir, weiß ich zwar immer noch nicht, aber ich freue mich darauf es herauszufinden. „All I can think of is Alice“, singt Tom Waits in meinem Kopf. Für die paar Minuten, die wir zum Bootshaus brauchen, ist meine kleine Welt perfekt.

* * *

Als ich ein paar Stunden später nassgeschwitzt, erschöpft und glücklich die knarrende Holztreppe zu meinem Dachzimmer hochsteige, merke ich sofort, dass etwas nicht stimmt. Mehrere meiner Nachbarn strecken neugierig die Köpfe aus den Türen und starren auf irgendetwas am Ende des Flurs. Dann sehe ich, was. Die Tür zu meinem Zimmer steht weit offen und mehrere Leute gehen geschäftig darin umher.


Vor der Tür steht Graham, der Head Porter. Als Verwalter, Sicherheitsdienst und Hausmeister sind die Porter zentrale Figuren im College-Leben, Graham, ihr Chef, ist eine Autorität in St. Paul's. Man ignoriert seine Anweisungen auf eigene Gefahr. Jetzt hält er mich auf, als ich versuche mein Zimmer zu betreten.


„Was wird das denn hier?“, frage ich ihn wütend.


„Jetzt mal langsam, Junge. Schön stehenbleiben“, sagt Graham nicht unfreundlich in seinem dichten Oxfordshire-Akzent. „Du kannst da jetzt nicht rein.“


„Aber das ist mein Zimmer!“, rufe ich empört.


„Da liegst du falsch. Das ist mein Zimmer und du darfst zurzeit darin wohnen. Aber jetzt musst du warten, bis die Durchsuchung fertig ist.“


Ich habe immer das Gefühl gehabt, dass er mich gut leiden kann und auch jetzt höre ich keine Vorwürfe, Anschuldigungen oder echte Ablehnung in seiner Stimme. Reinlassen wird er mich aber trotzdem nicht, also warte ich notgedrungen im Flur und versuche so gut wie möglich zu beobachten, was in meinem Zimmer passiert. Ich sehe Dr. Kendal, den Dekan, und den Senior Tutor Dr. Forsythe, dazu zwei Porter. Sie durchwühlen meine Sachen, öffnen Schubladen und Schränke, lesen in meinen Papieren.


Und dann steht da noch jemand mitten im Raum und beobachtet mit einem eiskalten Lächeln das Geschehen: Julie Browne, Dr. Bitch-From-Hell persönlich.


„Graham, was ist hier los?“, frage ich ihn, einigermaßen in Panik.


„Es ist wegen dem Mädchen. Irgendwer hat gesagt, du hast was damit zu tun“, sagt er und neigt den Kopf in Richtung Victorias Zimmer. Er schaut mir forschend ins Gesicht, dann sagt er leise: „Tut mir leid, Junge. Ich jedenfalls glaub's keine Sekunde lang.“ Seine Mine sagt: Ich mache hier nur meinen Job.


Ich? Was soll ich mit Victorias Bildern zu tun haben? Das kann ja wohl nicht ganz ernst gemeint sein. Oder doch? Irgendwer wird für diese Sache bluten müssen, höre ich Richard in meinem Kopf sagen. Völlig geschockt bin ich dazu verdammt vor meinem eigenen Zimmer zu warten, bis die erniedrigende Prozedur vorbei ist. Nach vielleicht zehn Minuten verlassen sie den Raum, einer nach dem anderen. Zuletzt trägt einer der Porter eine große Kiste mit meinen Sachen an mir vorbei. Sie schauen mich an, als sie an mir vorbeigehen. Dr. Forsythe blickt milde, Dr. Browne mit einer feurigen Genugtuung, mit der sie auch in der spanischen Inquisition Karriere gemacht hätte. Dr. Kendal bleibt kurz stehen und sagt: „Junger Mann, uns liegt eine Zeugenaussage vor, nach der Sie an der …. Sache mit Ms. Bell beteiligt sind. Wir haben daher im Einklang mit den Statuten dieses Colleges Ihr Zimmer durchsucht. Um vierzehn Uhr kommen Sie bitte zu den Räumen von Master Stuart. Wir werden Sie dann vor dem Disziplinarkomitee befragen.“


Ein absoluter Witz. Stinksauer frage ich ihn, wer der Zeuge ist, aber er schüttelt nur den Kopf. Stattdessen lässt er mich ein Papier unterschreiben, das die Durchsuchung meines Zimmers quittiert. Und dann stehe ich plötzlich alleine in meinem von oben bis unten durchwühlten Kämmerchen und habe absolut keine Ahnung, was ich als nächstes machen soll.

Und weil sich in diesem College Gerüchte und Skandalgeschichten schneller verbreiten als die Pest, bin ich kein bisschen überrascht, als eine Viertelstunde später die ersten Nachrichten brummend auf meinem Handy eintrudeln.


Die erste ist von Seb: „Was ist das jetzt für eine Geschichte? Kopf hoch, ich weiß, dass du nichts gemacht hast.“


Zu meiner Überraschung kommt die zweite von Fiona, meiner amerikanischen College-Nichte: „Erst Alice, jetzt Victoria. Ich bin so froh, dass du keine Gelegenheit hattest mich auch unter Drogen zu setzen, du Schwein! Ich hoffe sie schmeißen dich raus!“


Miststück.


Tobias schreibt: „Alter, du hast das doch nicht in echt gemacht? Wir finden sie alle heiß, aber das...“


Jorge schreibt: „Hör mal, die Typen vom Clarendon Club erzählen überall herum, dass du Victoria plattgemacht hast. Die wollen dich abschießen.“


Und dann schreibt mir dazu passend auch schon der Clarendon Club selbst, in Form von Tom: „Ich bin sicher, du stimmst zu, dass in Anbetracht der neuen Lage ein gemeinsames Wochenende unangemessen wäre. Es wäre für uns eine untragbare Situation. Tom.“


So viel zum Thema Mitgliedschaft im Clarendon Club. Blöde Wichser.


Eine Nachricht kommt von Ollie, der mir die Bilder von Victoria zuerst weitergeleitet hat: „LOL, hab ich dir etwa die Bilder geschickt, die du selbst gemacht hast?“


Meint er das ernst?


Nur Richard und Alice melden sich nicht. Das verletzt mich. Richard ist mein bester Freund, sein Schweigen ist ein Schlag ins Gesicht. Aber er ist auch mit Henry und Tom befreundet, flüstert eine fiese Stimme in meinem Kopf. Auf welcher Seite wird er stehen, wenn es hart auf hart kommt? Ist sein Schweigen nicht schon die Antwort darauf?


Nachricht um Nachricht kommt herein. Aufmunternde, nachdenkliche und auch feindselige Worte. Eine Nachricht bringt mich sogar zum Lachen. Sie ist von Unbekannt und lautet: „Der feministische Untergrund Oxford wird dir die Eier mit einer glühenden Zange zerquetschen.“ Wie schön, dass irgendwer Scherze über diese ganze Scheiße machen kann. Jedenfalls hoffe ich, dass das ein Scherz sein soll.

* * *

Bis ich mein Zimmer halbwegs wiederhergestellt habe, ist es auch schon Zeit für meinen Termin beim Master. Auf halber Strecke die Treppe hinunter klingelt mein Telefon. Es ist Alice.


Es tut so gut, ihre Stimme zu hören. „Hab's gerade gehört“, kommt sie sofort zur Sache. „Wie geht's dir? Soll ich vorbeikommen?“


Nichts will ich lieber, aber es geht nicht. „Keine Zeit“, antworte ich. „Die haben mich zu einer Anhörung zum Master bestellt. Disziplinarkommittee oder so.“


„Oh“, macht Alice. „So schnell? Wie viel Zeit hast du?“


„Weniger als fünf Minuten.“


Es gibt eine kleine Pause, in der ich nur ihren Atem höre. Dann sagt sie: „Ok, was ist deine Strategie?“


„Strategie?“, frage ich etwas irritiert. Meint sie das ernst? „Ich brauche keine Strategie, ich hab nichts gemacht.“


Sie schnaubt. „Wie sicher bist du dir, dass die wirklich die Wahrheit suchen und nicht einfach einen Schuldigen? Wenn du nicht aufpasst, bist du das dann vielleicht.“


„Das hat Richard auch gesagt.“


„Hör auf ihn, er hat Verstand.“


„Ich hab ihn nicht ernst genommen. Irgendwas stimmt nicht mit ihm seit der Clarendon-Party.“


Pause.


„Glaubst du, er hat Victoria die Drogen gegeben?“, will sie wissen.


„Nein“, sage ich sofort, aber dann bin ich plötzlich unsicher. „Keine Ahnung, ich weiß gar nicht mehr, was ich glauben soll.“


Stille.


„Ok, wie auch immer“, sagt sie ungeduldig. „Dein Disziplinarverfahren ist prinzipiell mal eine rechtliche Angelegenheit. Das ist eine Sache für Profis. Lass mich dir helfen.“


„Profi? Alice, du hast noch nicht mal angefangen mit dem Studium...“


„Hör doch einfach zu“, unterbricht sie mich. Dann: „Als du dich in St. Paul's eingeschrieben hast, hast du auch den Verhaltenskodex des Colleges unterschrieben.“


„Hab ich?“


„Ja, Dummerchen, hast du. Und da steht drin, welche Vergehen es gibt, welche Strafen dafür verhängt werden, wer das Disziplinarkommittee anrufen darf, wie so ein Verfahren abläuft und so weiter. Verstehst du?“


„Ja“, lüge ich. Keine Ahnung, wohin sie damit will.


„Das heute ist vermutlich nur ein erster Versuch die Fakten zu ermitteln. Die richtige Anhörung kommt noch. Bis dahin musst du die Regeln für dich ausnutzen.“ Sie sagt das alles so klar und bestimmt, als könne es keine Zweifel an der ganzen Sache geben.


„Aha … und was würdest du mir raten?“


„Drei Dinge: Nummer eins, du musst heute nichts zur Sache sagen. Also keine Fragen beantworten. Nummer zwei, eine schriftliche Begründung verlangen, was sie dir vorwerfen, welche Regeln du gebrochen haben sollst. Dann können wir uns das alles genau anschauen. Drittens, die werden das so schnell wie möglich hinter sich bringen wollen. Aber du hast das Recht dich gut auf deine Anhörung vorzubereiten. Dazu brauchst du Zeit. Also Anhörung nicht vor Ende nächster Woche.“


Sie sagt das alles so zack, zack, zack. Keine zwanzig Sekunden dauert das. Ich bin völlig sprachlos. „Alice, das alles hast du dir jetzt mal eben so überlegt?“


Ich habe es als Ausdruck meiner Bewunderung gemeint, aber sie zögert und nach einer unangenehm langen Pause sagt sie: „Nein, ich hab schon vorher darüber nachgedacht.“ Es klingt wie ein Geständnis.


„Wieso das denn?“, frage ich ziemlich überrascht.


Ich höre ihren Atem. „Weil ich will, dass du heil aus dieser Nummer rauskommst“, sagt sie in einem ganz seltsamen Tonfall.


„Alice, weinst du?“, frage ich, als ich endlich verstehe, was los ist. Man sollte meinen, dass ich das mittlerweile schneller raffe, so oft wie es vorkommt.


„Ja“, schluchzt sie.


„Aber warum?“


„Weil ich es nicht ertrage, wenn sie dich rausschmeißen. Jetzt, wo du mich so glücklich gemacht hast“, sagt sie mit tränenerstickter Stimme. Ich höre sie schniefen.


„Werden sie nicht. Ich hab nichts gemacht.“, sage ich fest, obwohl ich mir da mittlerweile ganz und gar nicht mehr sicher bin. „Danke für deine Strategie, Alice.“


„Viel Glück“, haucht sie und legt auf.

* * *

Alle sind Sie da, als ich ins gewaltige Büro des Masters trete. Da sitzen sie um einen großen, glattpolierten Holztisch im erdrückenden antiken Ambiente von Master Stuarts Räumlichkeiten und spielen Disziplinarkomitee. Kendal, Forsythe und, natürlich, Browne. Dr. Odegaard ist auch da. Sie scheint auch hier für mich zuständig zu sein. Das macht so ein Tutor for Advanced Studies also auch. Man lernt nie aus.


Und dann sitzt da noch, in der Mitte auf dem größten Stuhl, Master Stuart. Er ist ein alter, hagerer Mann, aber voller Energie, ungeheuer charismatisch und verdammt beeindruckend. Er hat vor Jahrzehnten auch mal in St. Paul's studiert, Philosophie und Altertumswissenschaften, und dann eine große Karriere bei der britischen Armee hingelegt. Am Schluss war er Generalirgendwas und furchtbar wichtig. Wichtig genug jedenfalls, dass man ihn dann gefragt hat, ob er statt Pensionär nicht lieber Master seines alten Colleges werden wolle. Er wollte und hat seither den Oberbefehl über alles und jeden auf dem College-Gelände. Er ist ein harter Hund, aber nicht ungerecht. Seine Anwesenheit macht mir Hoffnung.


Man eröffnet mir, dass sowohl gegen mich persönlich als auch gegen Tom, Rufus und Henry stellvertretend für den Clarendon Club eine Anhörung anberaumt wurde. Ungeachtet möglicher strafrechtlicher Konsequenzen droht dem Club ein offizielles Verbot des Colleges und der Universität, was praktisch sein Ende wäre. Uns allen persönlich droht die Exmatrikulation aus dem College, natürlich ohne Abschluss. In meinem Fall kommt noch dazu, dass man dann das mir gewährte St. Paul's-Stipendium zurückfordern würde, mehr als fünfzigtausend Pfund Sterling. Bei dem Gedanken wird mir schlecht.


Auf meine Frage, warum gerade ich verdächtigt werde, antwortet Dr. Browne mit dem Zorn der Gerechten in der Stimme: „Erstens, es gibt einen glaubwürdigen Zeugen, der Sie zur Tatzeit mit Ms. Bell gesehen hat.“ Sie zählt die Punkte an ihren Fingern ab. „Zweitens, in ihrem Zimmer haben wir einen persönlichen Gegenstand von Ms. Bell gefunden, den sie auch in der Tatnacht bei sich trug.“


Schon die Sache mit dem Zeugen ist ein schlechter Witz. Das einzige, was der gesehen haben könnte, ist mein dreißigsekündiges Gespräch mit Victoria gleich zu Beginn des Abends. Danach habe ich kein Wort mehr mit ihr gewechselt. Keine Frage: Irgendwer lügt da wie gedruckt.


Und jetzt auch noch ein persönlicher Gegenstand von Victoria in meinem Zimmer? Lächerlich. Sie war nie in meinem Zimmer und ich habe keine Sachen von ihr. Oder doch? Hat sie mir irgendwas gegeben, vielleicht als wir zusammen Kaffee trinken waren? Aber nein, sie sagen ja, Victoria hat es bei der Clarendon-Party noch gehabt, was immer es auch ist, also kann das nicht sein. Und bei der Party hat sie mir definitiv nichts gegeben. Ergo: Auch die Sache mit dem persönlichen Gegenstand ist Bullshit. Irgendwer will mich hier richtig in die Scheiße reiten. Clarendon! Wer sonst?


„Drittens“, fährt Browne fort und funkelt mich an mit ihrem Feuereifer, „befanden sich in ihrem Besitz die Nacktfotos von Ms. Bell. Viertens gibt es starke Indizien, dass Sie Mitglied im Clarendon Club sind. Und fünftens haben wir bei Ihnen Kokain gefunden, eine Droge, die auch Ms. Bell am Tatabend konsumiert hat, wissentlich oder unwissentlich. Reicht das erst mal?“


Ich würde mich am liebsten übergeben, gleich hier auf dem Tisch.


Der Auftakt meiner Anhörung ist denkbar schlecht gelaufen. Aber dann ziehe ich durch, was Alice mir geraten hat: Ich verweigere zu jeder die Sache betreffenden Frage die Aussage mit Verweis auf die eigentliche Anhörung. Dr. Browne ist stinksauer und faucht mich an, was mir das Gefühl gibt etwas richtig zu machen. Dr. Kendal runzelt die Stirn, Dr. Odegaard grinst aufmunternd und Dr. Forsythe lächelt amüsiert. Das Gesicht von Master Stuart ist eine emotionslose Maske.


Anstandslos entspricht man meiner Forderung nach einer schriftlichen Begründung der Vorwürfe gegen mich. Nicht ganz so einfach ist es eine Verschiebung der Anhörung zu erreichen. Eigentlich will Dr. Browne mich gleich morgen bei Sonnenaufgang hinrichten und auch Kendal scheint es eilig zu haben. Wahrscheinlich sorgt er sich um den kostbaren Ruf von St. Paul's. Dr. Odegaard spricht sich in meinem Sinne für eine Verschiebung aus, und als ich als Argument vorbringe, dass ich mehr Zeit für die Vorbereitung brauche, überzeuge ich auch den Master. Damit ist die Sache durch. Meine Anhörung findet erst am Donnerstag statt. Fast eine Woche Gnadenfrist.

Und dann ist es auch schon vorbei. Beim Rausgehen nimmt Dr. Odegaard meinen Arm und raunt mir zu: „Sehr gut gemacht, wirklich sehr gut.“ Dann zwinkert sie mir freundlich zu und verschwindet.


Ich hätte es fast ins Freie geschafft, als mich Dr. Browne einholt. Grob packt sie mich an der Schulter. „Das war erst der Anfang“, zischt sie mir ins Gesicht. „Ich werde euch und euren kleinen Perversenclub vernichten.“ Der Hass und die Wut, die sie in ihre Worte legt, sind überwältigend. Aber sie sorgt auch ganz kühl berechnend dafür, dass außer mir niemand ihre Worte hört.


„Ich habe Victoria nicht angefasst“, entgegne ich, laut und so ruhig ich kann, „und im Clarendon Club bin ich auch nicht.“


„Interessiert mich nicht, ob du es warst oder nicht“, keift sie bedrohlich zurück. „Du bist ein Mann und alle Männer sind Vergewaltiger. Wenn du es nicht warst, blutest du eben stellvertretend für die anderen. Alles, was zählt, ist, dass Clarendon erledigt wird.“ Dann rauscht sie davon.

* * *

Weil ich absolut keine Ahnung habe, was ich mit dem Rest dieses surrealen Tages machen soll, laufe ich ziellos die verschneite St. Paul's Lane hinab, biege ein in die kleine, unscheinbare Turl Street und lande fünfzig Meter weiter in meinem Lieblings-Coffeeshop. Erst vor ein paar Tagen war ich mit Victoria hier. Schön war das, aber es kommt mir vor wie aus einem anderen Leben.


Der Laden ist klein, eng und laut, aber er gehört zu keiner Kette, ist angenehm schräg und unkompliziert freundlich. Wie durch ein Wunder ist am großen Schaufenster ein Tischchen frei.


Am liebsten wäre mir, wenn Alice herkommen würde und wir einfach hier sitzen und über Gott und die Welt plaudern könnten. Ich schreibe ihr das genau so, aber die Antwort, die Sekunden später mit einem melodischen Pling und einem verstimmten Brummen auf meinem Handy landet, ist ziemlich eindeutig. Morgen ist ihr erster Vorlesungstag und sie will, schreibt sie, perfekt vorbereitet sein. Auch alle weiteren Versuche, sie vom Schreibtisch wegzulocken, scheitern. An ihrer Stelle hätte ich jede noch so traurige Ausrede genutzt, um aus der Bibliothek zu flüchten. Aber nicht Alice. Sie ist eine richtige kleine Streberin.


Ich lese ein bisschen in der Times, die irgendjemand auf dem Tisch liegengelassen hat, aber ich komme nicht so recht in die Artikel rein. Zu viel los im Kopf. Also sitze ich einfach nur so da, nippe gemütlich an einem ziemlich riesigen Milchkaffee und beobachte die Leute. Ein paar sitzen über Laptops gebeugt und lernen. Wie man sich bei der ganzen Bewegung und dem Lärm hier drin auf irgendetwas konzentrieren will, ist mir ein Rätsel. Ansonsten sitzt da die ganz normale Oxforder Samstagnachmittagsgesellschaft, lärmend, lachend, flirtend, in Gespräche oder einen Roman vertieft, Durchschnittsalter einundzwanzig, plus minus.


Oxford ist ziemlich klein und durch das College-System lernt man zwangsläufig hunderte von Leuten kennen. Eine Konsequenz daraus ist, dass man keine zweihundert Meter durch die Stadt gehen kann ohne jemanden zu treffen, den man nicht mindestens flüchtig kennt. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass nach kurzer Zeit ein bekanntes Gesicht im Laden erscheint.


Es ist Frida.


Ihr lockiges schwarzes Haar ist nass vom Schnee und sie ist eingewickelt in einen dicken rot-weißen Schal. Während sie auf ihren Kaffee wartet, sieht sie sich um. Als sie mich entdeckt, lächelt sie. Ich nicke mit dem Kopf in Richtung des freien Stuhls an meinem Tisch und sie kommt zu mir herüber.


„Ganz alleine hier?“, fragt sie freundlich und ein wenig spöttisch und setzt sich zu mir. Ihren Mantel wirft sie auf die Fensterbank.


Kurz überlege ich, ob ich ihr erzählen soll, was mir im Kopf herumgeht – Victoria, Alice, Clarendon, die Anschuldigungen gegen mich – und warum ich alleine hier bin. Aber ich verwerfe die Idee schnell wieder, das wäre einfach nur dämlich. Dieser Flirt, den Frida und ich seit ein paar Tagen betreiben, ist eine flüchtige körperliche Attraktion, ein Spiel mit Lust und Verlangen. Ich könnte sie jederzeit vögeln, kein Problem. Aber ein persönliches Gespräch mit ihr wäre völlig sinnlos. Frida interessiert sich kein bisschen für meine Geschichte, mein Leben, meine Sorgen. Sie ist genau wie ich, nur mit Titten.


Aber natürlich kann ich ihr auch nicht sagen, dass ich einfach so alleine hier bin. Wie sieht das denn aus? „Ich komme am Wochenende gern zum Zeitung lesen her“, lüge ich deshalb ohne zu zögern und deute auf die zerlesene Ausgabe der Times.


Sie ignoriert das völlig und schaut mich stattdessen vorwurfsvoll an. „Das war nicht nett von dir, mich gestern sitzen zu lassen.“ Dann lächelt sie und flötet mit einer honigsüßen, vor Sex nur so triefenden Stimme: „Ich wollte so gerne wild mit dir feiern. Aber dann musste ich alles alleine machen.“


Ihr Tonfall reicht schon, damit mein Körper freudig Blut zwischen meine Beine pumpt. In meiner Hose wird es eng. „Tut mir wirklich leid, Frida. Es gab da so eine Sache, die ich dringend klären musste.“


„Verstehe“, sagt sie knapp. Sie glaubt mir kein Wort, so viel ist klar. Ich schätze, sie hält es für eine Masche. Heiß, aber schwer zu bekommen, oder so ähnlich. „Ich hoffe, du konntest alles regeln?“


„Alles restlos geklärt“, behaupte ich. Dritter Satz, dritte Lüge. Kein schlechter Start. In Wahrheit ist mir gar nichts klar. Alice und ich haben die ganze Nacht gevögelt, aber darüber geredet, was das eigentlich alles sein soll, haben wir nicht.


„Das ist schön. Freut mich für dich“, antwortet sie in demselben anzüglichen Tonfall. „Dann können wir ja die schönen Sachen bald nachholen, die du gestern alle verpasst hast.“


Können wir? Normalerweise würde ich sagen: Aber natürlich können wir! In jeder anderen Situation hätte ich Frida längst im Bett gehabt. Aber jetzt? Ich weiß es wirklich nicht. An ihr liegt es nicht. Frida ist sinnlich, erotisch, attraktiv. Ich würde sie definitiv bumsen. Aber da ist ja noch Alice und unsere …. ja, was eigentlich? Beziehung? Ich weiß nicht, was wir da haben, und ob sexuelle Exklusivität dazu gehört. Aber ich weiß eines ganz sicher: Ich mag Alice, mehr als jedes andere Mädchen, das ich je kennengelernt habe, und ich will sie wegen eines blöden Fehlers nicht verlieren. Wenn das bedeutet, dass ich meinen Schwanz nicht in Frida stecken darf, dann ist es eben so.


„Sorry, Frida. Du bist eine tolle Frau, wirklich, aber ich glaube, wir können nicht zusammen feiern.“ Ich sage es mit Bedauern, weil ich es tatsächlich bedauere. Die Antwort hat mein Herz gegeben. Der Rest meines Körpers, angeführt von der Region zwischen meinen Beinen, verlangt: ficken!, ficken!, ficken! Mein Ego sagt: Du bist echt ein Schwachkopf!


Auch Frida ist von meiner Antwort sichtlich irritiert. Schon wieder abgeblitzt. Das ist keine Masche, wird ihr klar, sondern tatsächlich eine Abfuhr. „Aha?“, fragt sie verblüfft.


Ich zögere, aber es hilft ja nichts. „Es gibt da ein Mädchen, das ich ziemlich mag, weißt du?“, biete ich an. Ehrlichkeit: noch so eine Neuerung in meiner Kommunikation mit dem weiblichen Geschlecht.


Frida lacht. „Versuchst du mir zu sagen, dass du eine Freundin hast?“


So formuliert stürzt mich die Frage in noch größere Bedrängnis. Hab ich eine Freundin? Ja. Nein. Vielleicht. Mann, ist das alles kompliziert. „Ja?“, versuche ich es.


„Hätte dich nicht für den Beziehungstyp gehalten“, erwidert sie, halb amüsiert, halb irritiert.


„Verständlich. Ich mich auch nicht“, rutscht es mir raus.


Frida lehnt sich in ihrem Stuhl zurück und schaut mir forschend in die Augen. Vielleicht ist sie sich nicht sicher, ob ich sie veralbern will. Dann zuckt sie mit den Schultern und grinst. Sie trinkt ihren Kaffee aus und steht auf. „Du bist echt schräg, aber ich mag dich. Ruf mich an, wenn sie anfängt dich zu langweilen.“


Dann ist sie weg.

* * *

Abends liege ich auf meinem Sofa und lese. Zur Abwechslung mal nicht für mein Studium, sondern zum Vergnügen: Lewis Carrol. Der war auch mal hier, allerdings in Christ Church. So richtig will es aber nicht klappen mit dem Buch, weil ich zu viele Sachen im Kopf habe.


So lasse ich mich dann auch leicht ablenken, als ich ein Geräusch höre, das von draußen vor dem Fenster zu kommen scheint. Ein Kratzen oder Schaben, das ich nicht einordnen kann. Kann eigentlich nicht sein, ist mein erster Gedanke. Vor dem Fenster ist nichts. Aber da ist es wieder. Neugierig geworden stehe ich auf, öffne das kleine Fenster zum Old Quad und strecke meinen Kopf hinaus in die eiskalte Nachtluft.


Direkt unter dem Fenster kommt ein winziges, steiles Stückchen Dach mit Schieferziegeln, dann eine Regenrinne und dann erst mal nichts mehr. Vier Stockwerke tiefer liegt der Old Quad. Keine Geräuschquellen in Sicht.


Der Abend ist klar, kalt und windstill. Es ist längst stockdunkel. Die Sterne leuchten und darunter leuchten die Fenster und Laternen von Oxford. Von unten aus dem Hof dringt gut hörbar die wunderschöne Musik des St. Paul's College-Chors zu mir hinauf. In der Chapel findet ein Gottesdienst statt, wie üblich als Evensong mit gesungenen Hymnen. Andächtig lausche ich der Musik.


Dann höre ich es wieder, dieses Geräusch, und drehe den Kopf, um den Ursprung zu finden. Als ich sehe, was es ist, bleibt mein Herz für einen Moment stehen. Rechts von mir, keine zwei Meter entfernt, sitzt draußen auf dem winzigen Fensterbrett vor ihrem Fenster Victoria, die Knie zur Brust hochgezogen, die nackten Füße auf den eiskalten Dachziegeln. So kauert sie da, eine Hand um die Knie geschlungen, die andere am Fensterrahmen. Fünfzehn Meter weiter unten liegt unter einer frischen Schneedecke das Kopfsteinpflaster des Old Quad. Sie trägt keine Jacke und zittert in der kalten Nachtluft wie Espenlaub. Und sie weint.

Sie erschrickt nicht einmal, als wir uns in die Augen sehen. Schnieft nur ein paarmal und sagt dann mit tränenerstickter Stimme: „Geh weg! Lass mich allein!“


Ich bin viel zu schockiert, um etwas zu sagen. Also starre ich sie einfach blöde an. Sie sieht richtig scheiße aus, bleich, dürr, ausgezehrt, zerzauste Haare, riesige Augenringe.


„Geh weg“, sagt sie nochmal, aber ohne viel Energie.


„Victoria“, stammele ich schließlich, gefolgt von einer Frage, die so blöd ist, dass sie auch von Tobias kommen könnte: „Was machst du denn hier draußen?“


„Wonach sieht es denn aus?“, fragt sie sarkastisch zurück.


Pause.


„Victoria, bitte. Kletter wieder rein. Ich komme rüber und wir reden. Ok?“


Sie sagt nichts, starrt nur zu mir herüber. Von unten weht in vielstimmiger Harmonie die Musik des Evensongs zu uns hoch.


„Ok?“, frage ich noch einmal und dieses Mal höre ich in meiner Stimme die Panik, die in meinen Eingeweiden zu brodeln beginnt.


„Nein“, sagt sie schließlich. „Ich will nicht mehr reden. Ich will nur noch, dass es aufhört.“ Dann schaut sie hinunter in den Hof.


„Bitte, bitte, Victoria“, versuche ich ihre Aufmerksamkeit zurückzugewinnen. Ich habe mich weit aus dem Fenster gelehnt, trotzdem hätte ich keine Chance sie zu erreichen. Ich muss Hilfe holen, schießt es mir durch den Kopf, aber wie? Mein Telefon liegt drinnen auf dem Sofa. Rufen? Telefon holen? Runter rennen? Ich darf sie nicht aufschrecken. Ich versuche es anders: „Victoria, das bringt doch nichts. Das ist diese dumme Sache doch gar nicht wert.“


Das macht sie wütend. Immerhin. „Ach ja?“, empört sie sich. „Und was weißt du davon? Weißt du, wie man sich fühlt, wenn man aufwacht und sich an nichts erinnern kann und sie dir sagen, dass dir jemand irgendeinen Scheiß in den Drink getan hat? Dass keiner genau sagen kann, was danach alles passiert ist? Dass jemand dein Vertrauen so übel missbraucht hat?“


Sie funkelt mich an.


„Weißt du, wie es sich anfühlt, wenn sie schmutzige Bilder von dir rumschicken? Wenn sie sie in der Zeitung abdrucken? Wenn sie einen Fanclub für deinen Körper gründen? Wenn sie dir Bilder von ihren Pimmeln schicken? Wenn sie dich Schlampe nennen und Hure, Miststück, dreckige Fotze? Wenn sie dir sagen, dass du selbst schuld bist, weil du ein kurzes Kleid angezogen hast?“


Die letzten Sätze sind reine Emotion: Wut, Verzweiflung, Schmerz.


„Ok, ok, ok, ok“, beschwichtige ich sie. „Du hast recht, Victoria. Ich weiß nicht, wie das ist.“ Ich versuche es ruhig und klar zu sagen und vernünftig, sachlich und verständnisvoll zu klingen. Aber es klappt nicht. Nicht völlig durchzudrehen ist das Beste, was ich anzubieten habe.


„Ich weiß aber eins“, versuche ich es von einer anderen Seite. „In vier Wochen haben die Leute diese Sache vergessen. Glaub mir, Victoria. Ich weiß genau, wie es hier läuft. Es wird irgendein anderes Thema kommen, über das sich alle aufregen, und dann interessiert sich keiner mehr für diese Bilder.“


Das stimmt wahrscheinlich, aber sie glaubt es nicht. „Nein“, schreit sie mich an. „Einmal im Internet, immer im Internet. Ich bin jetzt auf jeder Wichsbilderseite, die es gibt. Überall auf der Welt sitzen irgendwelche Arschlöcher vor ihren Computern, glotzen auf meinen Körper und holen sich einen runter. Und hier am College auch. Und weißt du, woher ich das weiß? Ich weiß es, weil sie mir danach Nachrichten schreiben: Hey Victoria, grade auf deine geile Muschi gespritzt. Ruf mich an, dann mach ich's dir auch persönlich.“


Jetzt weint sie wieder heftig und vergräbt ihr Gesicht in den Händen. Ihr ganzer Körper wird durchgeschüttelt von der Wucht ihrer Verzweiflung.


Ich weiß nicht, was ich sagen soll.


Victoria dreht den Kopf zu mir. Ihr Blick ist jetzt alt und so, so müde. „Warst du's? Ich weiß, dass sie dein Zimmer durchsucht haben. Hast du mir das Zeug in den Drink getan und mich fotografiert?“ So richtig zu interessieren scheint sie es nicht.


„Nein, nein“, rufe ich und schüttele panisch den Kopf. „Ich war's nicht. Du musst mir glauben, Victoria. Ich hab nicht das Geringste mit der Sache zu tun!“


Sie schüttelt langsam den Kopf und schaut mich traurig an. „Glaubst du das wirklich? Dass du nichts damit zu tun hast? Vielleicht hast du mir keine Drogen gegeben und mich nicht fotografiert. Aber frag dich: Was hast du stattdessen gemacht? Hast du etwa nicht versucht mich ins Bett zu kriegen? Und was hättest du mir angedreht, um mich haben zu können? Alkohol? Gras? Koks? Ecstasy? Hast du meine Bilder auch weitergeleitet? Über mich Witze gemacht? Bist du dieser Facebook-Gruppe beigetreten? Hast du 'Victoria, du Schlampe' auf eine Klowand gekritzelt? Hast du erzählt, dass ich an allem selbst schuld bin? Hast du dir die Bilder angeschaut? Haben sie dich geil gemacht? Hast du dir dazu einen runtergeholt?“


Ich senke betreten den Kopf. Wie kann ich ihr ins Gesicht schauen? Sie hat ja recht: Ich bin mitschuldig und ich weiß es. Ich habe versucht sie ins Bett zu bekommen, ich habe die Bilder weitergeleitet, ich habe mich am Klatsch und Tratsch beteiligt. Ich habe keine fünf Meter von ihr entfernt ihren Körper auf meinem Computer betrachtet und dabei gewichst. „Es tut mir so leid, Victoria“, bringe ich leise hervor. „Es tut mir leid, dass jemand das mit dir gemacht hat. Es tut mir leid, dass du so leiden musst. Es tut mir leid, dass ich dir nicht geholfen habe.“


„Ok“, sagt sie sanft, resigniert, müde. „Ich weiß, dass du kein schlechter Mensch bist. Ich mochte dich von Anfang an irgendwie.“ Aber dann weint sie plötzlich hemmungslos. „Das ist das Traurigste daran“, schluchzt sie. „Die meisten von euch sind keine schlechten Menschen. Ihr denkt nur einfach nicht daran, was ihr anrichtet, und bereut es erst, wenn es zu spät ist. So wie du jetzt.“


Irgendetwas in ihrer Stimme jagt mir Schauer des Entsetzens über den Rücken. „Victoria, bitte, bitte, bitte, bitte: Es ist nicht zu spät!“, flehe ich sie an.


Aus verheulten Augen schaut sie mich an und ihr Gesicht ist völlig leer. Für einen Moment steht die ganze Welt still. „Doch, ist es“, sagt sie tonlos, dann nimmt sie die Hand vom Fensterrahmen und kippt nach vorne.

Mein erster Gedanke ist: Nein! Nicht! Dann setzt der Schock ein, ich spüre ihn körperlich. Wie ein wuchtiger Tritt in den Magen fühlt sich das an. Die Welt hört auf zu funktionieren, mein Verstand wird herauskatapultiert aus meinem Kopf und einige entlegene, ziemlich unzivilisierte Regionen meines Gehirns übernehmen das Regiment.


Ich sehe Victoria fallen und sehe sie doch nicht fallen. Alles, was ich wirklich wahrnehme, ist ihr Gesicht. Sie hat sich gedreht und schaut hoch zu mir, aber ihre in Panik aufgerissenen Augen sehen mich nicht. Angst verzerrt ihr eigentlich so schönes Gesicht. Sie fällt, es muss ja so sein, aber ich blicke eine gefühlte Ewigkeit in dieses zur Maske erstarrte Antlitz.


Ich spüre ein übermächtiges Bedürfnis sie in den Arm zu nehmen. Gleich ist es vorbei, Victoria, will ich ihr zuflüstern und dabei ihren Kopf streicheln. Gleich gibt es keine Angst mehr, kein Leid und keinen Schmerz. Du musst nur durchhalten, tapfer sein, nur noch einen kurzen Moment.


Auf irgendeiner Ebene realisiere ich durchaus, wie absurd das ist. Der Schock, vermutlich.


Das Schlimmste, das mit Abstand Schlimmste ist das Geräusch, das Victorias Körper beim Aufschlag auf das Kopfsteinpflaster im Old Quad verursacht. Es ist bizarr, aber für einen Augenblick war ich felsenfest davon überzeugt, dass sie sanft und leicht in die weiche weiße Schneedecke eintauchen und dann lachend aufspringen würde. Nochmal!, nochmal!, würde sie begeistert rufen und mich dabei aus großen Kinderaugen anstrahlen. Aber mit dem Geräusch, das ihr Aufprall zu meinem Dachfenster zurückschleudert, zerplatzt diese Fantasie wie eine Seifenblase. Als hätte jemand ein nasses Handtuch mit Wucht gegen eine Wand geklatscht. Es ist ein entsetzliches Geräusch, das jede Hoffnung auf ein Happy End sofort zunichte macht.

Und jetzt liegt sie da und starrt regungslos zu mir hinauf und ich starre fassungslos zu ihr hinab. Unbestimmbar viel Zeit vergeht. Könnte eine Minute sein oder ein Erdzeitalter. Weit in die völlige Stille des Abends hinein tragen die Stimmen des Chors und die alte Orgel aus der Chapel. Mit Inbrunst schwingen sich die glockenhellen Stimmen eben hoch zum eindringlichen, beschwörenden Höhepunkt des Deus Misereatur, dumpf schwingt darunter der kraftvolle Bass der großen Orgel.


Victoria ist mit dem Rücken und dem Hinterkopf auf die Steine aufgeschlagen. Jetzt liegt sie regungslos im Schnee. Alles ist falsch, der Winkel, in dem ihre Arme aus dem Körper ragen, der Knick in ihrem Nacken, einfach alles. Um ihren Kopf herum färbt sich der Schnee schwarz.


Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zum letzten Mal geweint habe, aber jetzt strömen die Tränen heiß und salzig und unkontrollierbar meine Wangen hinab. Die feierlichen, flehenden Stimmen des Chors erfüllen meinen Schädel. Deus Misereatur: Herr, erbarme Dich unser.

Nach langen, endlos langen Augenblicken ertönt endlich irgendwo unten im Hof ein entsetzter Aufschrei. Schnelle Fußschritte, ein lauter Hilferuf, jemand schreit. Dann erst endet auch abrupt die Musik in der Chapel und Gestalten in schwarzen Talaren strömen aus der Wärme des Kirchenraums in die kalte Abendluft. Schreie voller Leid und Entsetzen, jemand beginnt zu weinen. Sie beugen sich über das tote Mädchen im Schnee.


Ich denke an Victorias Körper, an unsere erste kleine Begegnung hier an diesem Fenster, wie ich sie in der College-Bar beobachtet habe, an einen Nachmittag in der Bodleian Library und eine unbeschwerte, glückliche Stunde mit ihr bei einem Kaffee in der Turl Street, an den Abend der Clarendon-Party, als sie so umwerfend aussah in ihrem schlanken bordeauxroten Abendkleid, die ausgelassene Fröhlichkeit in ihrem Gesicht, als sie mit Henry und Richard tanzte, ich denke an ihre Brüste, ihre Muschi und ihren Arsch, die mir auf meinem Laptopbildschirm schutzlos ausgeliefert waren.


Dieser atmende, vibrierende, junge, lebendige, warme Körper, den ich so begehrt habe, jetzt ist er da unten auf dem kalten Stein zerschellt, und mit ihm endet auch das Mädchen Victoria mit all ihren Erinnerungen, Emotionen, Träumen und Hoffnungen, an die ich zuvor nie auch nur einen Gedanken verloren habe.

Sonntag

Ich sitze auf einer Rudermaschine in dem kleinen Häuschen an den Sportanlagen von St. Paul's, in dem Umkleidekabinen und ein kleines Fitnessstudio untergebracht sind. Hart, schnell und gleichmäßig reiße ich an den Griffen der Maschine, während aus der Stereoanlage mit maximaler Lautstärke irgendwelche harte Workout-Musik dröhnt, die jemand auf CD gebrannt und dann hier vergessen hat. Es ist kurz vor fünf Uhr in der Früh und ich stehe völlig neben mir.


Ich bin mit dem Fahrrad hergefahren, allein durch den nächtlichen Frieden Oxfords, durch einen unerbittlich kalten Wind, der die Tränen auf meinem Gesicht in Eis verwandelt hat. Unmöglich hätte ich auch nur eine Sekunde länger in meinem Zimmer bleiben können. Ich musste irgendetwas tun und wusste, dass mir das Rudern helfen würde. Der vertraute, regelmäßige Bewegungsablauf beruhigt mich: ein besänftigender, warmer Druck in Oberarmen und Schenkeln, wenn ich den Widerstand der Maschine überwinde, das ruhige metallische Rollgeräusch der Schiene, wann immer ich mich zurückschiebe, die befreiende Spannung in meinem Rücken am Ende der Ziehbewegung. Vollständig ausatmen, vorgleiten und dabei tief einatmen und dann alles noch einmal genau gleich von vorne.


Ich bin immer stolz gewesen auf meine mentale Stärke. Wenn es wirklich wichtig ist, bringe ich die beste Leistung. Wettkampfsau durch und durch. Aber jetzt bin ich am Ende. Erst die Beschuldigungen gegen mich, dann Victorias Tod: Innerhalb von ein paar Stunden ist mein ganzes Leben aus dem Gleichgewicht gerutscht. Vor allem fühle ich mich: schuldig. So, so schuldig. Ich bekomme Victorias Gesicht nicht aus dem Sinn, die schrecklich Angst in ihrem Blick. Dann sagt sie, wieder und wieder, in Camillas Stimme: Es gibt jede Menge Männer hier, die ganz ernsthaft glauben, dass Frauen nur dazu da sind die Beine für sie breit zu machen. Du bist auch ein bisschen so, das ist dir doch klar, oder?


Gegen sieben Uhr beginnen die Schmerzen in den Armen. Ich habe damit gerechnet und ignoriere sie einfach. Weiterrudern.


Irgendjemand hat mich beschuldigt Victoria die Drogen gegeben zu haben. Aber warum? Ich habe ihr nichts untergejubelt, habe auf der ganzen Party vielleicht dreißig Sekunden lang mit ihr geredet. Jemand lügt. Und dann hat jemand noch irgendeinen persönlichen Gegenstand von Victoria in mein Zimmer geschmuggelt, damit ich noch schuldiger wirke.


Für einen Moment habe ich Zweifel. Ich war ziemlich besoffen auf der Party, dazu bekifft. Ist es möglich, dass ich mich an irgendetwas, das ich getan habe, nicht erinnern kann? Nein, nein, das ist absurd. Ich kann die Puzzlestücke des Abends in meinem Gedächtnis mühelos zusammenfügen: Ich habe die Zeit mit Camilla verbracht, mit ihr getanzt, gesoffen, gekifft, gefickt. Als ich wieder zurück zur Party kam, waren sie alle schon nicht mehr da: Richard, Henry, Tom, Rufus, Anna, Victoria. Und abgesehen davon: Ich wusste bis vor ein paar Tagen noch nicht mal, was Liquid Ecstasy ist. Den Gedanken, das Zeug einer Frau ins Glas zu kippen, um sie ins Bett zu bekommen, finde ich zu einhundert Prozent abstoßend.


Gegen halb neun sind meine Muskeln in Armen, Schultern und Beinen so übersäuert, dass jede Bewegung zu einem Fest der Schmerzen wird. Von den koordinierten, perfekt aufeinander abgestimmten Bewegungsabläufen von fünf Uhr ist jetzt nicht mehr viel übrig. Was soll's.


Heute ist übrigens der erste Tag im neuen Studienjahr, morgen beginnen die Vorlesungen, informiert mich mein Kopf. Du hast morgen drei Termine am Institut: eine Vertiefungsvorlesung zur politischen Philosophie des Republikanismus um zehn, ein Seminar zum Thema Finanzmarktregulierung um drei, dazwischen ein Treffen mit deinem Betreuer. Gibt es irgendetwas auf der Welt, das sinnloser wäre als zu einer Vorlesung zu gehen?


Ich ertappe mich wieder und wieder bei Gedanken an Victoria: Was ich ihr sagen werde, wenn wir uns das nächste Mal sehen, bei welcher Gelegenheit ich sie treffen werde. Wie ich mich bei ihr für alles entschuldigen werde. Die Erkenntnis, dass sie nie wiederkommen wird, trifft mich dann jedes Mal wie ein Schlag.


Gegen elf Uhr ist das fürchterliche Brennen in meinem Rücken zu einem dumpfen, ständigen Druck geworden, den ich bis in den Hals hinauf spüre. Meine Arme und Schenkel fühle ich schon seit einer Stunde nicht mehr richtig. Meine Handflächen bluten. Aber solange ich rudere, hält die Panik Abstand, also rudere ich.


Wer hat Victoria das angetan? Und wer hat mich dann beschuldigt? Dieselbe Person? Es kann nicht Richard sein, oder? Er findet KO-Tropfen mit Sicherheit widerlich. Aber er war die Tage nach der Party so komisch. „Können wir einfach sagen, es ist etwas passiert, über das ich nachdenken muss?“, höre ich ihn sagen. Ich habe das am Tag danach nicht so wichtig gefunden, jetzt kommt es mir ziemlich verdächtig vor. Oder waren es die Wichser vom Clarendon Club? Und wenn ja, wer? Oder mehrere? Free Pussy Party. Würde Tom so was machen? Und was ist mit Rufus? Richard hat gesagt, dass er in Harrow einen üblen Ruf gehabt hat. Jetzt rennen sie offenbar alle drei herum und erzählen Lügen über mich. Wollen sie mich zum Sündenbock machen? Wie ich es auch drehe und wälze – und ich drehe und wälze ohne Unterlass – ich komme nicht weiter.


Gegen dreizehn Uhr dröhnen zum gefühlt zehnten Mal die ersten Takte von Tinie Tempahs „Pass Out“ aus den Boxen, und auch ich fühle mich der Ohnmacht nahe. Die Holzgriffe der Rudermaschine sind schmierig und glitschig von Schweiß und Blut. An den Rändern meines Sichtfelds tanzen bunte Irrlichter. Jeder Atemzug fühlt sich jetzt an, als ramme mir jemand einen Dolch in die Wirbelsäule.


Ich denke an Alice. Was habe ich ihr nur angetan. Schwanzgesteuertes, selbstsüchtiges, ignorantes Arschloch, das ich bin. Und irgendwie habe ich dasselbe auch Victoria angetan, nicht mit meinen Händen und meinem Penis, aber in meinem Kopf, in meiner Fantasie. Bei dem Gedanken daran, wie auf dem Bildschirm meines Laptops mein Sperma an ihrem Hintern herabläuft, spüre ich eine derart heftige Explosion von Scham und Schuld in meinem Bauch, dass ich einen Moment lang keine Luft mehr bekomme.


Gegen vierzehn Uhr dreißig beginnt das Blut so laut in meinen Ohren zu brausen, dass ich die Musik kaum mehr hören kann. Mein Kopf ist erfüllt von den rasenden Hammerschlägen meines wütenden Herzens. Ich habe längst aufgehört mir den Schweiß aus den Augen zu wischen und so läuft er zusammen mit gelegentlichen Tränen in Strömen an meinem Körper hinab. Ich bin quasi blind. Es gibt jetzt immer wieder lange Momente, in denen ich nicht weiß, wo ich bin.


Ich spüre, wie mein Bewusstsein aus meinem Körper zu fliehen beginnt. Letzte Gedanken an Alice. Ich fühle ein übermächtiges Bedürfnis sie zu beschützen: vor Oxford, vor all den Leuten hier, die sie nur als Spielzeug sehen werden, vor der ganzen verdammten, ignoranten, grausamen Welt, die Mädchen wie Victoria und sie erbarmungslos in die Opferrolle prügelt. Ich will sie behüten vor den Clarendon Clubs dieser Welt. Und vor Leuten wie mir.


Dann haut es mich endlich um. Aber Millisekunden, bevor ich ungebremst mit dem Schädel auf die alten Holzdielen knalle, erkenne ich für einen kurzen Moment die ganze Wahrheit: So wie ich jetzt fühlt sich mein Teamkollege Petr jedes Mal, wenn er zuhause vor der Wiege steht und auf seine zwei kleinen Mädchen blickt, die ihn aus großen, unschuldigen Babyaugen anstrahlen und nichts davon wissen, wie schrecklich die Welt sein kann, in die er sie gesetzt hat. Und wenn ich selbst einmal Vater einer kleinen Tochter werde, was kann ich tun, um sie zu beschützen vor Leuten wie mir? Und was kann ich tun, um die Welt für sie ein kleines bisschen sicherer zu machen? Ich spüre es: Ich werde immer Angst um sie haben müssen.

Als ich viel später aufwache, ist es stockdunkel draußen. Minutenlang liege ich vor Kälte schlotternd da, unfähig mich zu bewegen. Ich habe panische Angst davor wieder ohnmächtig zu werden und zu erfrieren. Also kämpfe ich und schaffe es tatsächlich irgendwann bis zu den Duschen. Ich krieche hinein, setze mich stöhnend und in voller Montur an die Wand und lasse heißes Wasser über meinen geschundenen Körper laufen. Jeder Tropfen auf meiner Haut jagt einen Nadelstich durch meinen Körper.


Erst Stunden später fühle ich mich endlich dazu in der Lage mich umzuziehen. An Fahrradfahren ist nicht zu denken, also laufe ich notgedrungen heim. In Zeitlupe schlurfe ich über die Sportanlagen und durch die nächtliche Stille Oxfords nach St. Paul's. Es ist halb elf Uhr am Abend und das College liegt wie ausgestorben da. Als ich durch die großen Tore wanke, wirft der diensthabende Porter einen Blick aus der Pförtnerloge und nickt mir ernst zu, als er mich erkennt.


Sonst sehe ich keine Menschenseele. Aber auch so spüre ich den Schock, der diese alten Mauern und alle, die in ihnen wohnen, erfasst hat. Die Stille über dem Old Quad ist vollständig, bedrückend und kaum zu ertragen. Es ist, als wäre selbst dieser uralte Hof, der so viel gesehen hat im Lauf der Jahrhunderte, entsetzt von dem, was hier vergangene Nacht geschehen ist. Vor der Chapel bleibe ich kurz stehen und schaue betreten auf die Stelle, wo irgendjemand großflächig den Schnee von dem alten, glattgetretenen Kopfsteinpflaster gewaschen hat. Es schneit jetzt wieder und eine hauchzarte, durchscheinende Schicht Neuschnee legt sich bereits wieder über die Steine, die Victorias Körper zerschmettert haben.

Mit der Geschwindigkeit und Energie eines Neunzigjährigen quäle ich mich die Stufen bis zu meinem Zimmer im vierten Stock hoch. Auf dem Absatz bleibe ich stehen und schaue traurig auf das Bild, das sich mir bietet. Vor Victorias Zimmer liegt ausgebreitet ein Teppich aus Blumen, einzeln und in Sträußen, dazu jede Menge Fotos und ein paar Stofftiere. Ihre Zimmertür ist von oben bis unten vollgehängt mit handgeschriebenen Abschiedsbotschaften. Wir lieben dich, Victoria, steht auf einer. Warum?, auf einer anderen. So viele, die jetzt bereuen, was sie gesagt und getan und gedacht haben. So wie ich.


Auch an meiner Tür prangt eine Botschaft. Irgendjemand hat in großen, wütenden roten Buchstaben das Wort „Monster“ direkt auf das Holz geschrieben. Das M ist etwas verschmiert, so als hätte jemand versucht, die Schrift zu entfernen. Aber so einfach lässt sich das schreckliche Wort nicht aus der Welt wischen.

Kommentare


katrinkatrin
dabei seit: Feb '03
Kommentare: 358
schrieb am 07.03.2016:
»Gelungen 3*10Pt.«

Langer_JK
dabei seit: Nov '03
Kommentare: 44
schrieb am 07.03.2016:
»Eine der besten Geschichten die ich hier bisher gelesen habe....
RESPEKT UND ANERKENNUNG.«

wohltat
dabei seit: Dez '00
Kommentare: 64
schrieb am 07.03.2016:
»Was für eine Geschichte!«

SirFelidae
dabei seit: Dez '01
Kommentare: 80
schrieb am 07.03.2016:
»Lesenswert«

xKoLax
dabei seit: Dez '02
Kommentare: 1
schrieb am 07.03.2016:
»"Geschichten erzählen I und II" gehören zu meinen absoluten Lieblingsgeschichten hier. Ich bin froh, dass du nach so langer Abstinenz wieder am Ball bist.

Wirklich wirklich außergewöhnlich gut geschrieben.«

lomo
dabei seit: Nov '00
Kommentare: 4
schrieb am 07.03.2016:
»Ich würde gern mehr als 30 Punkte vergeben.«

BluesHarp
dabei seit: Apr '13
Kommentare: 3
schrieb am 07.03.2016:
»Mehr mehr mehr mehr mehr!!!«

11mal40
dabei seit: Aug '12
Kommentare: 1
schrieb am 08.03.2016:
»Großartig, der Inhalt ebenso wie der Cliffhanger! Ich habe keine Geschichte bisher mit so viel Spannung und innerlicher Beteiligung gelesen. Ich freue mich sehr auf Teil 3.«

roterbsc
dabei seit: Okt '02
Kommentare: 63
schrieb am 08.03.2016:
»Wahnsinn.«

kiramaus
dabei seit: Okt '02
Kommentare: 29
schrieb am 08.03.2016:
»Story, Stil, Sprache...alles außergewöhnlich gelungen. Die Atmosphäre bleibt dicht und unmittelbar zu erspüren, das muss erstmal gelingen, Hut ab!«

sir_snape
dabei seit: Aug '01
Kommentare: 1
schrieb am 09.03.2016:
»Respekt! Diese Geschichte "fesselt" mich wie keine andere! 30 Punkte reichen nicht.«

minarik
dabei seit: Jan '01
Kommentare: 105
schrieb am 09.03.2016:
»Wow, die Geschichte ist ... der Wahnsinn, man wird förmlich mitgerissen. Echte Spitzenklasse, weiter so.«

meyou
dabei seit: Okt '04
Kommentare: 6
schrieb am 09.03.2016:
»Danke für diese Geschichte«

martinfries1966
dabei seit: Feb '15
Kommentare: 8
schrieb am 10.03.2016:
»Klasse!

warte neugierig auf Teil 3«

Chevalier
dabei seit: Mär '01
Kommentare: 24
Laurent Chevalier
schrieb am 10.03.2016:
»Literatur.«

alge
dabei seit: Sep '02
Kommentare: 15
schrieb am 10.03.2016:
»Wow! Das ist der Hammer!«

dubidu
dabei seit: Dez '02
Kommentare: 3
schrieb am 12.03.2016:
»Ein bisschen Sex und der Rest reinster Krimi, super geschrieben und sehr fesselnd, Du solltest die Geschichte wenn sie fertig ist mal bei einem Verlag einreichen :-)«

lydia14
dabei seit: Jul '13
Kommentare: 31
schrieb am 13.03.2016:
»unbedingt mehr davon; habe selten so etwas erotisch, tragisch, spannendes gelesen,«

996gt
dabei seit: Dez '00
Kommentare: 16
schrieb am 13.03.2016:
»... absolute Superklasse! Die Geschichte fesselt und lässt mitfiebern. Kann denn nächsten Teil kaum erwarten«

aliza
dabei seit: Mär '16
Kommentare: 4
schrieb am 13.03.2016:
»Sowas außergewöhnliches im Netz zu finden, das ist schon ein bisschen erstaunlich. Super geschrieben, ja. Aber auch so echte, lebendige Figuren! Tolle Atmosphäre und so viel Gefühl hinter der harten Erzählstimme... Das Ende hat mich richtig erschüttert!«

Blackking
dabei seit: Jul '15
Kommentare: 9
schrieb am 14.03.2016:
»Eine super Geschichte und so verdammt traurig , am Ende als Victoria stirbt hätte ich beinahe angefangen zu weinen.
Er tut mir echt Leid das er die letzten schrecklichen Momente von Victoria nicht verhindern könnte.

Super gut geschrieben und Hut ab«

Turtle21
dabei seit: Mär '14
Kommentare: 23
schrieb am 18.03.2016:
»Abselut lesenswert und fesselnd ! warte auf den letzete Teil!

Und bitte noch viel mehr solche Geschichten mit Rahmenhandlung und nicht ausschliesslich um DAS EINE handelnd«

Sira71
dabei seit: Nov '15
Kommentare: 12
schrieb am 07.04.2016:
»RESPEKT!!!!!«

goldfasan
dabei seit: Nov '00
Kommentare: 18
schrieb am 13.04.2016:
»großen Respekt und Anerkennung.«

veilchenaue
dabei seit: Dez '18
Kommentare: 2
schrieb am 05.12.2018:
»Respekt«

storyfan32
dabei seit: Aug '02
Kommentare: 23
schrieb am 12.06.2019:
»wirklich umfassend hervorragend geschrieben. bin beeindruckt.«

MartinRR
dabei seit: Jul '01
Kommentare: 12
schrieb am 20.01.2023:
»3 x 10 Punkte, glasklar. Hier zeigt sich echtes literarisches Talent.«


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