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Kommentare: 6 | Lesungen: 1392 | Bewertung: 8.38 | Kategorie: SciFi, Fantasy, History | veröffentlicht: 13.01.2017

Worte, nichts als Worte

von

Vorwort: Die Geschichte haben Faith und ich 2008/2009 für eine Anthologie des Forums Buchstabeninsel geschrieben. Leider wurde das Projekt nie realisiert, und seitdem dümpelt sie auf meiner Festplatte rum.


Fast zu schade, mit Einverständnis von Faith veröffentliche ich sie jetzt hier unter meinem Nick.


Viel Spaß beim Lesen.


No Erotik.

Während das kunsthistorische Museum tagsüber um jeden Besucher rang, schloss es seine Pforten ab neunzehn Uhr umso konsequenter. Aber gerade die nächtlichen Besucher hielten sich selten an die kleinliche Hausordnung.


Nick verstand zwar die Belange der Museumsleitung, aber ihm lag nicht viel an Kunst – er hatte schlichtweg einen Auftrag.


Die veraltete Alarmsicherung war nicht der Rede wert, er musste die Sensoren nur finden und deaktivieren, bevor sie ihn entdeckten. Raum für Raum arbeitete er sich vorwärts, bis er die silberbeschlagene Holztruhe auf einem Podest stehen sah. Nick schaute auf das Polaroidfoto und lächelte. Lediglich eine Lichtschranke trennte ihn noch von der Erfüllung seines Auftrages, als er eine Bewegung aus den Augenwinkeln sah.


Drei Schritte neben ihm stand eine hagere Gestalt mit langem Umhang und blassem Gesicht.


»Pst«, machte die Erscheinung und legte ihren Zeigefinger auf die Lippen. Dann ging sie lautlos zu dem Podest und nahm die Holztruhe an sich.


Nick traute seinen Augen nicht: Die Gestalt interessierte sich nicht für die Lichtschranke und die Lichtschranke nahm keine Notiz von der Gestalt. Verdutzt musste Nick mit ansehen, wie sein Zielobjekt aus dem Raum getragen wurde.


»Hey, Moment mal! Das ist meine Kiste!«, hörte sich Nick sagen. Er sprang auf und rannte hinter der Gestalt her. Entschlossen bog er um die Ecke und blickte in eine grässliche Fratze. Fahle, faltige Haut umrandete rot glühende Augen, schwarze Lippen gaben ein Raubtiergebiss mit unnatürlich langen Eckzähnen preis und aus der Kehle drang ein faulig riechender Zischlaut.


Noch ehe Nick erschrecken konnte, holte er zu einem rechten Haken aus. Die Gestalt taumelte benommen und büßte einen Großteil ihrer Furcht einflößenden Art ein. Die Holzkiste fiel laut hallend auf den Boden, sprang auf und ein Dolch glitt über den glatten Steinboden.


Nick spürte einen Lufthauch und hörte eine fremde Stimme.


»Nimm den Dolch und renn weg! RENNE so schnell du kannst!«


Er blickte sich um und sah eine weiße Eule, die mit ihren Krallen und dem Schnabel auf die Gestalt einhackte. Sein Verstand verdrängte brennende Fragen – er nahm den Dolch und rannte …

Eine halbe Stunde später fiel die Wohnungstür krachend hinter dem Meisterdieb ins Schloss. Erschöpft und verwirrt ließ er sich auf sein Sofa fallen und starrte auf den Dolch. Die Klinge der antiken Waffe war geschwungen wie eine züngelnde Flamme, der Griff eher unscheinbar aus blankem Metall.


Fahrig goss er sich einen Schluck Whisky in ein Glas und kippte ihn hastig herunter. Aber das unterschwellige Gefühl, beobachtet zu werden, lastete weiterhin auf ihm.


Ein Schatten am Fenster: Blicke bernsteinfarbener Augen durchdrangen Nick. Unnachgiebig, lautlos und anklagend waren sie auf ihn gerichtet. Die fehlende Mimik des Vogelgesichts und die großen starren Augen wirkten beängstigend. Nick sammelte sich und ging zum Fenster.


»Lass mich rein«, schallte es von draußen. Nick stutzte und hielt sein leeres Whiskyglas prüfend hoch. Sprechende Tiere waren ihm noch nicht einmal im Vollsuff begegnet.


»Hast du eben gesprochen?«, fragte er irritiert.


»Ja. Und wenn du das Fenster öffnest, muss ich nicht schreien.«


Er öffnete das Fenster und sie hüpfte mit einem großen Satz in Nicks Einzimmerwohnung.


»Es hat wieder begonnen«, stellte die Eule sinnschwer fest.


»Was hat begonnen?«, fragte Nick ungläubig, kniff die Augen zusammen und murmelte. »Ich unterhalte mich mit weißen Vögeln, wie …«


»Du weißt nicht, wer ich bin und weißt nichts von deiner Mission?«


Nick rieb sich die Augen und schüttelte ruckartig den Kopf. Die Eule ließ ihre Flügel hängen und flüsterte mit gesenktem Kopf. »Das wird eine lange Nacht. Setz dich, nimm dir noch einen Drink und hör zu.«

Nick nahm sich noch viele Drinks. Als kein Tropfen mehr aus der Flasche herauskam, warf er sie gedankenlos neben sich aufs Sofa und lallte. »Okay, noch mal von vorne: Der Dolch hat mich als seinen Besitzer gewählt … weil …«


»… weil es eine intelligente Waffe ist.«


»Richtig. … Und weil ich es voll drauf habe.«


»Ja, weil du es voll drauf hast«, bestätigte die Eule resigniert.


»Ruhe! Ich muss mich konzentrieren. ... Du bist keine normale Eule. Nein, nein, duuu bist der ...«


»Die Mentorin des Auserwählten«, half die Eule, aber da war Nick schon eingeschlafen.

Mit sinkendem Alkoholspiegel wurden Nicks Träume unruhiger. Ein unheimlicher Schatten verfolgte ihn, versuchte ihm alles zu nehmen. Nick rannte, ohne vorwärtszukommen und kämpfte, ohne zu siegen. Ein wuchtiger Schlag riss ihn aus dem Schlaf. Er knallte mit dem Kopf gegen den Tisch und fiel vom Sofa.


In diesem Moment zersplitterte Nicks Wohnungstür und eine Bestie schlitterte auf dem Fußabstreifer ans andere Ende des Zimmers. Ein Wolf, ein großer Wolf, der auf den Hinterbeinen stand und sprechen konnte. »Gib mir den Misericordia, dann bekommst du dein Geld, wie verabredet.«


Die stechenden Augen des Werwolfs wurden von den weit gespannten Flügeln der angreifenden Eule verdeckt. Nick warf sich hinter das Sofa, zog den Dolch unter den Kissen hervor und warf ihn kraftvoll, aber intuitiv in Richtung des Kampfgetümmels. Die Klinge surrte knapp an der Eule vorbei und traf den Werwolf direkt zwischen die Augen. Ein leerer, flehender Blick, gefolgt von einem dumpfen Knall, dann war es still.


Nick fühlte sein Herz pochen, der Angriff ging so schnell, dass die Aufregung zu spät kam. Mit wackeligen Knien stand er vor dem Mischwesen aus Mensch und Wolf, zog den Dolch aus dem Schädel und fuhr sich durch seinen Bürstenhaarschnitt. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel und brannte in seinen verschlafenen Augen. »Okay Eule, ich hab’s kapiert. Entweder bin ich so verrückt, dass es keine Rolle spielt, oder du und diese Geschichte sind echt. Was machen wir als Nächstes?«


»Lies in den verbotenen Büchern und finde den Schatten.«

Das schwarze T-Shirt spannte über seinem muskulösen Oberkörper und steckte akkurat in der Jeans. Die schwarze Motorradlederjacke betonte seine breiten Schultern und verbarg den Dolch. Mit Sonnenbrille und einer Eule auf der Schulter schloss er sein Auto auf und erstarrte. »Das sind Ledersitze. Ich will nicht, dass da nachher weiße Kleckse drauf sind. Ich hatte mal einen Wellensittich und da ...«


Die Eule legte den Kopf mitleidig zur Seite und schwieg.


»Okay, hüpf rein.«

***

Das uralte Gebäude mit seinen Dutzenden von Anbauten glich einem Irrgarten. Ohne Wegweiser fand man hier nicht einmal mehr nach draußen. Allerdings verlief sich selten jemand in den Trakt, der mit „Klassische Literatur“ ausgeschildert war.


»Frau von Hohenstein, wir bekommen heute noch eine Fuhre mit Büchern aus einem Nachlass!«, sagte ein nervöser, älterer Herr in einem schlecht sitzenden Anzug.


»Können Sie die Auslieferung nicht aufschieben, Herr Direktor? Ich benötige mindestens noch eine Woche!«


»Leider nicht! Der Nachlassverwalter ließ nicht mit sich reden.«


»Hm, na gut. Dann stapeln wir die Bücher eben in der Empfangshalle, bis ich sie katalogisiert habe.«


Ohne ihn weiter zu beachten, sortierte die junge, blonde Frau Bücher in Kartons und vermerkte es auf ihrer Liste. Als der Direktor fort war, nahm sie ihre schwarze Hornbrille ab, kontrollierte in den einfachen Fenstergläsern den Sitz ihrer hochgesteckten Haare und sah seufzend auf den Berg unbearbeiteter Bücher.

Nick irrte durch die verwinkelten Gänge und hielt nach der historischen Abteilung Ausschau. Er stolperte fast über die Bibliothekarin, rang sich aber ein Lächeln ab.


»Entschuldigung, ich suche nach den Romantikern des 18. Jahrhunderts, mich interessieren nur Erstausgaben.«


»Die sind der Öffentlichkeit nicht zugänglich«, antwortete die Frau, ohne von ihrer Arbeit aufzuschauen.


»Was machen Sie eigentlich beruflich?«, fragte Nick herausfordernd.


Die Bibliothekarin blickte auf, nahm die schwarze Hornbrille von der Nase und musterte ihn. »Wenn Sie nichts dagegen haben, ich bin mit wichtigen Bestandslisten beschäftigt!«


Nick nahm ebenfalls seine Sonnenbrille ab und schaute der Bibliothekarin tief in die Augen. Mit treuem Hundeblick flüsterte er. »Doch, ich habe etwas dagegen. Lassen Sie die Listen für einen Moment liegen und führen Sie mich ein in die Welt der großen Literatur – Bitte.«


»Welchen Teil von ’sind der Öffentlichkeit nicht zugänglich’, haben Sie nicht verstanden?«


Da sie seelenruhig ihre Liste weiterführte, ihn in keinster Weise beachtete, änderte Nick seine Taktik. Eine rührselige Geschichte über sein Versprechen gegenüber der Großmutter, die ihn auf dem Sterbebett bat, ein paar Bücher aus ihrem Besitz zu lesen …


»… und seitdem verspüre ich den innigen Wunsch, eine dieser Meisterwerke einmal in den eigenen Händen zu halten. Sie verstehen? Kein Nachdruck sondern den Spirit des Originals zu spüren …«, erzählte Nick und es fehlten nur noch ein paar Tränen, die seine Wangen herunter liefen.


»Ähh ... also ... ich weiß nicht ...«, sagte die Bibliothekarin kopfschüttelnd und kämpfte gegen ihre Gefühle, »aber nur für zehn Minuten, ich muss sowieso etwas nachsehen.«


Nick zog seine Sonnenbrille auf und marschierte los, noch bevor die Bibliothekarin aufstehen konnte.


Im Kellergewölbe angekommen, staunte Nick über die endlosen Regalreihen. Er zog das erstbeste Buch heraus.


»Ah, das sind sie also, die Erstausgaben.«


»Vorsicht! Sie halten ein unbezahlbares Meisterwerk in den Händen. Sie dürfen die Bücher doch nicht einfach anfassen. Geben Sie her!«


Während sich die Bibliothekarin um das Buch kümmerte, flog die Eule lautlos an ihr vorbei und landete auf einem Regal.


»Ihr Parfum duftet fantastisch, vor allem im Kontrast zu dem Mief hier unten«, schmeichelte Nick.


»Oh, vielen Dank. Das ist ‚Deep Red’ von Hugo Boss, ich habe es mir letzte Woche erst gekau...«, sagte sie und brach abrupt ab. »Wenn Sie sich dann bitte beeilen würden!«


Nick murmelte mit hochgezogener Augenbraue. »Ich mag Frauen, die schnell zur Sache kommen.«


Doch sein ambivalenter Satz kam nicht zur Wirkung. Die Eule schlug alarmierend mit den Flügeln und rief. »Vorsicht, wir sind nicht alleine!«


Sie segelte über den Kopf der Bibliothekarin, die mit offenem Mund erschrocken nach oben zeigte, während Nick den Dolch aus seiner Jacke zog und aufsprang. Die Eule gab einen durchdringenden Zischlaut von sich. Eine anmutige Frau in schwarzen Gewändern flüchtete vor der Eule. Ihre langen Eckzähne und rot glühende Augen identifizierten sie als Vampirin. Aus der Flucht wurde ein Angriff, als die Untote ihre Arme nach der Bibliothekarin ausstreckte.


Nick rempelte die Angreiferin an, rammte seinen Dolch in ihre Flanke und brachte sie zu Fall. Er atmete tief durch und blickte sich um.


»Das ist mein erster Vampir«, gestand Nick und die Bibliothekarin schreckte auf.


»Vampir? Es gibt keine ..., gibt es ...? Ich glaub ... mir wird schlecht ...«


Nick griff ihr beherzt unter die Arme, um sie vor einem harten Fall zu bewahren. Sachte kauerte er sich mit der Bibliothekarin auf den harten Kellerboden. Die Eule nahm neben ihnen Platz und musterte die Buchrücken der unteren Regalreihe.


»Wie heißt du eigentlich?«, fragte Nick.


»Von Hohenstein, Charlotte von Hohenstein«, sagte sie und zog die Nase hoch. »Und wer sind Sie, ihr ...?«


»Firion«, murmelte die Eule, ohne den Blick von den Büchern zu nehmen.


Nick schaute erstaunt auf. »Hey Eule, du hast einen Namen, warum hast du das nicht gleich gesagt?«


Beiläufig schaute er zu Charlotte und stellte sich als Nick vor.


»Okay, okay ... ganz ruhig, Charly. Rege dich nicht auf!«, sprach die junge Frau sich Mut zu. »Es gibt keine Vampire und keine sprechenden Uhus! Ich muss träumen!«


Nick entließ Charlotte aus der Umarmung und lehnte sie gegen ein Regal. Er redete beruhigend auf sie ein. »Das braucht ne Weile, ... aber langsam glaube ich selbst daran.«


Firion unterbrach die beiden und zeigte auf ein besonders dickes Buch. »Hier, das habe ich gesucht. Holt es raus, wir haben nicht viel Zeit!«


Charlotte beäugte die Eule kritisch und spürte einen kühlen Luftzug, als sie nach dem dicken Buch griff.


»Gib mir den Misericordia!«, zischte eine dunkle Stimme und Nick erschrak, als die Vampirin auf Charlotte zukam. Reflexartig riss Charlotte das Buch aus dem Regal und schlug es der Angreiferin ins Gesicht. Gleichzeitig stieß Nick mit seinem Dolch auf die Untote ein.


Die Klinge durchdrang das alte Buch. Der Ledereinband begann zu glühen und Funken schossen empor. Wie im Auge des Hurrikans legte sich ein Luftwirbel um die drei Gefährten. Eine urgewaltige Kraft ließ die Körper schweben, sie begannen zu rotieren und ein Knall erschütterte das Archiv. Zurück blieben Papierfetzen, umgestürzte Regale, einige Eulenfedern und eine schwarze Lesebrille ...

Nick lag in warmem Sand, hörte Wellen rauschen und Firions mahnende Worte. »Erstens musst du Vampiren immer das Herz durchstoßen, sonst kommen sie wieder, und zweitens solltest du generell keine Bücher aufspießen. Jetzt sitzen wir hier fest. Und die – haben wir auch noch am Hals.«


Firion zeigte auf Charlotte, die mit zerzausten Haaren im Sand kauerte, das halb verkohlte Buch wie eine Puppe an sich drückte und wirr vor sich hin brabbelte.


Nick klopfte sich den Sand von der Jacke und resümierte. »Okay. Die Werwölfe wollen den Dolch, weil er eine effektive Waffe gegen ihre Todfeinde, die Vampire, ist. Die Vampire wollen den Dolch, damit ihn die Werwölfe nicht bekommen. Soweit klar, und jetzt?«

»Hey, Schönheit. Sapperlot! Alles fit im Schritt?«, ertönte eine quengelige, hohe Stimme. Charlotte blickte sich um.


»Hier unten, Bunny! Sapperlot, habt Ihr auch einen Namen? Sicherlich habt Ihr einen Namen. Ich bin Oratio Criticus Rana«, sagte ein fetter Frosch mit einem purpurroten Umhang und fuhr sich mit der Zunge genüsslich über seine Lippen.


Nick und Firion gesellten sich zu Charlotte und blickten auf den Frosch, der ohne Atem zu holen plauderte.


»Was sucht ihr auf meiner Buchstabeninsel? Ist das Euer Freund, Bunny? Wieso seid Ihr so verstrubbelt? Wohl ’ne heiße Nacht hinter Euch? Obwohl es ja mitten am Tag ist und … allerdings Baceolus Rana, mein Vetter dritten Grades, der wiederum mit Rana Stultissimus, meinem Großcousin mütterlicherseits ...«

»Wie bitte? Wir sind auf einer Buchstabeninsel?« Charlotte sah ihre beiden Begleiter fragend an, während der mysteriöse Frosch begann, seine gesamte auf der Insel lebende Ahnenreihe namentlich vorzustellen.


»Halt den Schnabel, Kröte!«


»Ich bin ein Frosch, Bunny. Rana, keine Kröte. Wobei diese kleine süße Coaxo eine Rubeta ist. Meine Fresse, was hat die für eine affengeile Zunge … wir nennen sie übrigens Coa … ist das nicht ein nahezu geniales Wortspiel? Ich schmeiß mich weg. Coaxo heißt quaken und Coa – Schlampe – meine Fresse – ist das gut!«


Nick fuhr mit der Fußspitze in den Sand und verpasste Oratio eine Ladung ins Gesicht. Sein Redeschwall endete in einem kräftigen Hustenanfall.


Charly wirkte erleichtert über den stummen Frosch und wandte sich an Nick. »Und Sie, Nick – bringen mich auf der Stelle wieder in meine Bibliothek … und das Buch werden Sie selbstverständlich ersetzen.«


»Du hast es doch in der Hand gehalten, als es kaputt ging.«


Charlotte fiel die Kinnlade runter. »Das ... das glaube ich jetzt nicht ... Sie haben das Buch zerstört!«


Nick zeigte mit dem Dolch lässig auf Charly. »Okay Schätzchen, den nächsten Vampir überlasse ich dir, wenn dir Bissspuren lieber sind ...«


»Ja aber ... wie soll ich das meinen Vorgesetzten erklären? Und nennen Sie mich nicht Schätzchen. Meine Eltern gaben mir einen Namen!«


»Welche Vorgesetzten?«, fragte Nick und breitete die Arme unschuldig aus. »Charly, Schätzchen, wir sind auf einer - Buchstabeninsel. Was auch immer das ist, wie willst du das deinen Vorgesetzten erklären?«


Charlotte sah sich um. »Wie sind wir hier hergekommen? Ich verstehe das nicht! Ich will jetzt sofort wieder heim! Es ist mir egal, wie Sie das machen, Nick!«


»Das Buch hat uns den Weg zur Buchstabeninsel gewiesen und die wichtigsten Textstellen sind noch lesbar«, sinnierte Firion, während sie in den zerfledderten Seiten blätterte.


»Uns? UNS? Was redest du da? Hüpf in eine Uhr und melde dich zu jeder vollen Stunde, Uhu!«, tobte Charlotte.


»Sapperlot! Uhu – juhu, ab in die Uhr, sonst brauchst ’ne Kur! Meine Fresse, was bin ich wieder lustig heute!«


Charlotte packte den verdutzten Frosch an seinem Umhang und hob ihn hoch. »Und du wirst mitkommen! Du bezeugst, dass ich das Buch nicht zerstört habe!«


»Sapperlot! Bezeugen kommt von Zeugen, man könnte quasi sagen, ich habe das Zeug zum Zeugen, nicht weniger als Tausend Kaulquappen und das an nur einem Tag, also wenn man es genau nimmt ...«


»Schnauze! Sonst lernst du mich jetzt kennen.«


»Was will der Frosch denn bezeugen? Bisher ging ich davon aus, dass ein Augenzeuge, auch direkt anwesend sein musste?«, erklärte Nick der Eule. Die starrte aber nur resigniert in den Sand und schüttelte fast unmerklich den Kopf.


Charlotte streckte den Kopf hoch, drehte sich um hundertachtzig Grad, machte einige Schritte, stolperte über einen Stein und flog der Länge nach auf die Nase. Sie sah Nick böse an, der das Schauspiel ungläubig verfolgt hatte und zu Firion sagte: »Wenn Charly weiterhin so unachtsam ist, fällt sie noch hin.«


Ein leises Wimmern ließ die beiden aufsehen. Die Bibliothekarin saß im Sand und rieb sich über ihr leicht blutendes Knie. Mit ihren braunen Augen sah sie zu Nick.


»Ich will heim!«


Nick reichte ihr die Hand. »Ich will auch heim. Komm, steh auf. Wir finden bestimmt bald einen Flughafen.«


»Ich brauche keine Hilfe!«, schnauzte sie ihn an. Charlotte packte den Frosch und erhob sich umständlich. Schnippisch den Kopf zurückgelehnt, stampfte sie wieder durch den Sand.


»Bunny! Ich weiß, dass mich die Frauen lieben, aber drück noch doller und ich krieg ein Koller.«


Nick schaute ratlos zu Firion. »Ist der Frosch wichtig?«


Firion schüttelte irritiert den Kopf. »Irgendwas stimmt nicht mit ihm! Aber Charlotte scheint ihn zu mögen.«

Festen Schrittes eilte Charlotte mit dem labernden Frosch durch den weichen Sand, blieb stehen und sah sich um. Üppige Vegetation bildete eine grüne Mauer und nirgendwo war ein Weg zu erkennen. Reumütig machte sie kehrt. Nick lächelte, während Firion mühselig mit ihren Flügeln im zerfledderten Buch blätterte.


Ein lauter Schrei. Charlotte warf den Frosch in die Luft und ruderte mit den Armen. Sie steckte bis zu den Knien im Sand und wurde nach unten gezogen. »Niiiiick! Hiiiilfe!«


Nick spurtete los, packte ihr Handgelenk und versuchte sie aus dem Treibsand zu ziehen.


»AUUU! Mein Fuß ... der hängt ... der steckt irgendwie fest.«


Nick versuchte, den Fuß frei zu graben. »Du steckst in … Holz. Moment Schätzchen, das haben wir gleich.« Er hämmerte mit dem Handballen gegen das morsche Holz, das beim dritten Schlag mit lautem Getöse nachgab.


Der Sand rutschte in eine Öffnung und Nick gelang es gerade noch, Charlotte festzuhalten. Sie blickten auf eine Steintreppe, die im Dunkeln verschwand.

»Jaaa! Das ist er!«


Verwundert sahen die beiden zu Firion, die einen Luftsprung vollzog. Die Eule fasste sich sofort wieder, zeigte mit der Flügelspitze auf eine Textstelle im Buch und erklärte ihren Gedankengang. »Zum Versteck des geheimnisvollen Schattens führt ein Labyrinth. Ich glaube, Charlotte hat soeben einen der Eingänge gefunden.«


»Und meinen schönen, neuen Schuh verloren!«


»Und das steht in dem Buch?«, frage Nick ungläubig.


»Hast du schon vergessen, was ich sagte, Nick? Lese in den verbotenen Büchern und finde den Schatten.«


»In Mythen und Erzählungen tritt der Schatten häufig als Feind oder Rivale auf. Bekanntes Beispiel ist Mr. Hyde, die negative, verbrecherische Seite des tugendhaften Arztes Dr. Jekyll«, sinnierte Charlotte.


»Sapperlot, hier gibt`s keine Schatten! Das ist Humbug!«


»Es gibt auch Geschichten, in denen Tiere die kognitive Fähigkeit der menschlichen Sprache zugeschrieben wird«, antwortete Charlotte und sah den Frosch und Firion an.


»Kein Zickenkrieg anfangen, Mädels!«, ermahnte Nick.


»Mädels? Hey Alter, noch so ’n Spruch – Kieferbruch!«, erboste sich Oratio.


Nick ignorierte die vermeintliche Drohung und fragte Firion. »Okay, wir haben das Labyrinth gefunden, das uns zu diesem Schatten bringt. Also sind wir auf dieser Insel richtig. Aber wie geht es jetzt weiter?«


»Ins Labyrinth steigen und nach weiteren Hinweisen suchen?«, schlug Firion vor und verdrehte fast unmerklich die Augen.


»Dann los!«, rief Charlotte, zog sich den verbliebenen Schuh aus, warf ihn über ihre Schulter und stieg barfuss den Geheimgang hinunter. Nick wollte hinterher, als ein lauter Schrei ertönte. Charlotte saß auf den Stufen und rieb sich wehklagend ihre Fußsohle. Am Fuß der untersten Stufe verschloss eine dichte Dornenhecke den Eingang. Fluchend ging Nick in die Hocke und stocherte mit dem Dolch zwischen den Pflanzen. »Schau dir das mal an, Charly. So was habe ich noch nie gesehen ... sieht aus, wie ... Buchstaben!«


Charlotte kniete sich neben Nick und murmelte: »Buchstaben – Worte. Worte sind schärfer als jedes zweischneidige Schwert.«


»Sapperlot. Der Spruch ist von König Arthur!«, sagte Oratio. Im selben Moment zuckten die Dornen zurück.


»Quatsch! Jesus sagte das!«, stellte Charlotte richtig.


Nick sah erstaunt zu Firion, die den Frosch fragte: »Oratio, Artus ist der Urheber dieses Zitats, das Charlotte angeführt hat?«


»Sapperlot. Ja, selbstverständlich!«


Während Oratio sich selbst übertraf und eine abenteuerliche These nach der anderen ausstieß, zuckten die buchstabenartigen Stacheln zurück.


»Die Dornen weichen vor dem Gelaber des Frosches zurück«, murmelte Firion.


Nick flüsterte zu Charlotte. »Sorge dafür, dass der Frosch nicht zu schwafeln aufhört.«


»Oh Gott! Auch das noch«, verdrehte Charlotte die Augen.

Sie kamen, dank Oratios Gelaber und dem Schein von Nicks Feuerzeug, gut voran. Nach einigen Metern waren die Dornen überwunden und der Gang gabelte sich. Nick ließ das heiße Zippo abkühlen, legte das Buch auf den Boden und Firion blätterte darin.


»Kannst du in der Finsternis noch lesen?«, fragte Nick erstaunt und Firion nickte wortlos. »Seht mal, an jedem Gang sind so komische Symbole«, fuhr Nick fort und ertastete die in den Fels gemeißelten Formen.


»Das sind Buchstaben. Hebräisch, Griechisch, und Latein. Ich hatte mal ein paar Vorlesungen über alte Sprachen«, meinte Charly.


Firion und Charlotte diskutierten über die Bedeutung der Schriftzeichen, als Nick mit offenem Mund auf den Boden starrte. »Boa Frosch, was hast du denn gemacht?«


»Ich? Nichts! Nichts habe ich gemacht, was soll ich denn gemacht haben?«, verteidigte sich Oratio.


Aber Nick zeigte anklagend auf ihn und rang um Worte. »Du leuchtest, wie … als hättest du eine Glühbirne verschluckt!«


»Sapperlot! Ich schluck höchstens Fliegen, oder lecke an einer heißen Biene, wenn du verstehst, was ich meine. Ich bin nur ein bisschen umhergehüpft, und das ist ja wohl nicht verboten.«


Noch während Oratio redete, stand Nick auf und folgte der grün leuchtenden Spur, die der Frosch hinter sich herzog. Er ging mehrere Schritte in einen der abzweigenden Gänge und fand einen moosbewachsenen Stein neben einer Wasserader. Nick rupfte ein Büschel Moos aus und rieb es zwischen Daumen und Zeigefinger. Der Pflanzensaft leuchtete in hellem Grün. Freudestrahlend rannte er zum Eingang der Höhle und holte ein Brett der ehemaligen Falltür. Zurück an der Wasserader, rieb Nick das Brett an dem Moos und schwenkte schon bald eine grünlich leuchtende – kalte – Fackel über seinem Kopf.


Firion blickte auf und warnte Nick. »Sei vorsichtig mit dem Glimmermoos. Es geht kaum von der Haut ab und hier unten ist es manchmal besser, nicht gesehen zu werden.«


»Sag das nicht mir, sag das Oratio«, lachte Nick und zeigte auf den leuchtenden Frosch. Firion schüttelte den Kopf und

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Kommentare


Mondstern
(AutorIn)
dabei seit: Sep '04
Kommentare: 441
Mondstern
schrieb am 08.02.2017:
»"Gefällt es euch nicht? Unterhalte ich euch nicht? Seid ihr nicht deshalb hier?"
Maximus Decimus Meridius

@ Impuditia, die Frage stell ich mir auch. Ein gescheiterter Versuch, kommt nicht mehr vor.«

Wolfa
dabei seit: Apr '01
Kommentare: 7
schrieb am 19.01.2017:
»Toll und sehr phantasievoll
Fortsetzung wäre toll«

stef1954
dabei seit: Sep '15
Kommentare: 57
schrieb am 23.01.2017:
»Hallo Anja,

sehr schöne und fantasievolle Geschichte, aber ich muss zugeben, ich habe etwas mehr Erotik erwartet.
Du hast uns natürlich mit Deinen erotischen Erlebnissen , in deinen anderen Geschichten sehr verwöhnt.

LG Stef«

woody1982
dabei seit: Aug '16
Kommentare: 4
schrieb am 06.04.2017:
»wie immer der Wahnsinn ;-)«

Impuditia
dabei seit: Okt '17
Kommentare: 68
schrieb am 29.01.2018:
»Gut ausgedachte Geschichte aber was macht die beiSevac?Oder kommt da noch etwas?«

metro73
dabei seit: Jul '22
Kommentare: 4
schrieb am 26.07.2022:
»Sehr schöne Geschichte, davon hätte ich gern auch eine Fortsetzung.«



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