20.12.11, 04:00 - Betreff: Literarische Transgression | |
Auden_James | Hallo meine Lieben, ich bin in einem anderem Thread in den Off-Topic-Beiträgen auf das Thema der normativen Grenzüberschreitung (=Transgression) in fiktionalen Texten aufmerksam geworden. In der dortigen Diskussion vertrat die Mehrheit in Gestalt von Leichtgewicht, andreashave, aweiawa und mondstern70 einen Standpunkt [A], der, schien mir, dem quasi entgegengesetzte Standpunkt [B] von helios und Krystan widersprach. Ich fasse diesen Widerspruch wie folgt: In [A] wird Transgression in fiktionalen Texten prinzipiell abgelehnt, wohingegen in [B] die Transgression in fiktionalen Texten, wenn nicht befürwortet, so doch zumindest unproblematisch gesehen wird. Ich finde den Fakt, dass in einem Forum wie diesem, wo Pornographie (im Sinne des Gesetzes) offenkundig ganz oben auf der Tagesliste steht – bei Einlesern wie Einhandlesern wie Majorität der Autoren –, dass hier also ein solcher Gegensatz der Standpunkte bezüglich der „zulässigen“ Transgression so entschieden vertreten wird, das ist m.E. schlicht verblüffend. Dieser Streitfall wirkt auf mich, als würden zwei Aussätzige darüber streiten, wie weit zum eigenen Wohle sie sich denn nun, da sie schließlich Aussätzige sind, von der Stadt entfernen sollen. Die einen (unser Lager A), vielleicht in der leisen Hoffnung auf die tatsächlich ausgeschlossene Rückkehr, wollen vor den Stadtmauern bleiben, wo sie ein paar Almosen durchbringen könnten, die anderen (unser Lager B) zieht es weg in die Fremde, ins Unbekannte, wo es ihnen nicht schlechter ergehen könnte, denn als Verachtete vor den Toren der Stadt. Das heißt aufs Thema der literarischen Transgression gewendet: Eigentlich haben beide – [A] wie [B] – bereits die grundsätzliche und sie gleichstellende Grenzüberschreitung hinter sich: Sie sind im Porno-Land gelandet, was, da sollte sich keiner von beiden etwas vormachen, für die überwältigende Mehrheit der Gesellschaft heute kein marginaler Normverstoß ist, der in letzter Konsequenz als anti-sozial verstanden wird, weil sozial akzeptables Verhalten und Porno-Affinitäten sich kategorisch ausschließen. (Wer’s nicht glaubt, der kann ja den Selbsttest machen, und sich vor den Berufskollegen/Chef oder der netten Bekanntschaft im Stammlokal oder sonst wie öffentlich u/o vor Freunden/Bekannten als „Porno-AutorIn“ outen: Ich übernehme keine Haftung für die Konsequenzen, die im besten Falle irgendeiner auf Vermeidung hinauslaufenden Form von Irritation gleichen werden!) Streng genommen hat Lager A (wie Lager B) also durch seine Entscheidung für die Pornographie in der realen Welt bereits jene (Norm-)Transgression geleistet, die es in der Welt der Fiktion prinzipiell ablehnt. Der Unterschied liegt hier nur darin, dass Lager B diese Transgression nicht grundsätzlich problematisiert. Und somit also sind sich [A] und [B] im Grunde näher, als ihr Streitgehabe den Anschein hat. Das ist indirekt auch in der Diskussion abzulesen, in der nämlich insbesondere Lager A einer konkreten Auseinandersetzung mit Lager B aus dem Weg ging und stattdessen die eigene Schallplatte nach und nach von jedem Lageranhänger wiederholt auflegen ließ. So blieb denn auch Krystans treffend auf den Punkt gebrachte Kernaussage von[B] völlig unbeachtet: 1. Solange man keiner realen Person direkten Schaden mit einer Handlung zufüge, habe man auch keinen Grund für moralische Bedenken. In Verbindung mit: 2. Bei der Handlung des Schreibens fiktionaler Texte wird keiner realen Personen direkter Schaden zugefügt. Das ist die Einsicht des Lagers B, dass nach der obig genannten grundsätzlichen Transgression ins Reich der (fiktionalen) Pornographie über größere oder kleinere Schäden weiterer Transgressionen in diesem Metier zu spekulieren schlicht absurd sei, denn der eigentliche Schaden – überhaupt die Grenze Richtung Porno überschritten zu haben – wiege unendlich schwerer. Also seien auch weitere Transgressionen alles andere als ein Beinbruch, denn was im Reich der Fiktion an Schäden zugefügt wird, schadet nur im Reich der Fiktion und nirgends in der realen Welt. Lager A hingegen machte keine Anstalten die Kernaussage von Lager B zu widerlegen: Dabei würde nur eine Widerlegung dem Standpunkt von Lager A helfen, denn der Standpunkt von Lager B ist also schlüssig. Stattdessen betete [A] die eigene – vermeintlich andere – Überzeugung stur runter. So stellt andreashave fest, 1. dass die Freiheit der Kunst da ende, wo ihr Ausleben die Freiheit einer realen Person einschränke oder stark beeinträchtige. – Aber ist das nicht erstaunlich ähnlich zu dem, was Krystan oben sagte? Nur wie geht’s weiter: 2. Also ende die Freiheit der Kunst dann, wenn der Autor die Qualen seines (unfreiwilligen) fiktionalen Opfers als Gipfel der Lusterfüllung darstelle. (vgl. ihr Beitrag vom 27.11.11, 22:31 Uhr) Hier offenbart sich aber ein hartnäckiges logisches Problem: Denn die Kernaussage von Lager A ist überhaupt nicht schlüssig! Der erste Satz stellt gar nicht die Wahrheit des zweiten sicher, denn im ersten geht’s um reale Personen, im zweiten plötzlich um fiktionale Personen: Aber für beide kann nicht dasselbe gelten (und wenn aus Sicht von [A] für beide dasselbe gelten sollte, so wurde dies nirgends auch nur angedeutet). Und somit also bricht der Standpunkt [A]insofern zusammen, als dass die strikte Verurteilung der Transgression in Richtung von Gewalt, die den roten Faden jener Transgressions-Diskussion bildete, von Seiten des Lagers A sich am Ende – im Gegensatz zum Standpunkt [B] – ohne Hand und Fuß erweist. Der Standpunkt [A] ist also so, wie er in jenem Thread dargelegt wurde, schlichtweg nicht haltbar und also hinfällig! Wohingegen der nicht-widerlegte Standpunkt [B] als gültig erscheint. * Nach diesem Ausflug in den kürzlich erfolgten hiesigen Gepflogenheitsaustausch, was die literarische Transgression (in Richtung Gewalt, die ja nur eine Richtung unter denkbar vielen ist, siehe z.B. Thread-Untertitel) anbelangt, würde ich insbesondere von den Anhängern des soeben Hand und Fuß verlorenen Lagers A wissen wollen: [1] Schließen sie sich jetzt dem Lager B an, weil ihr eigener Standpunkt offenkundig nicht länger haltbar ist? [2] Wie reagieren sie auf Werke wie D.A.F. de Sades Die 120 Tage von Sodom, in dem Sexpraktiken an Minderjährigen und Kleinkindern ausgeübt werden, in dem Inzest getrieben wird, in dem Flagellation zelebriert wird, in dem Menschen lebendig aufgeschnitten werden, um zum Lustgewinn mit ihren Eingeweiden zu spielen? (Alles natürlich nicht-einvernehmlich.) Von ihrem Standpunkt [A] aus können sie de Sades Werk nicht länger verurteilen, denn [A] ist hinfällig. Aber an ihrer Überzeugung, dass hier eine unüberschreitbare Grenze erreicht sei und somit Die 120 Tage von Sodom aus ihrer Sicht eigentlich beschlagnahmt gehörte, dürfte sich so schnell doch nichts ändern, oder? Vielleicht fühlt sich der eine oder die andere angeregt, irgendetwas von alldem weiter nachzugehen. Ich würde mich freuen. Beste Grüße –AJ |
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20.12.11, 20:55 Uhr | |
hg1 | Hi Auden James Sehr interessantes Thema. Möchte meinen Senf ebenfalls dazu abgeben. Dein Vergleich der Aussätzigen nicht ganz passend. Ja, wir befinden uns in einem Tabubereich der Gesellschaft, trotzdem finde ich die Gegensätze nicht aussergewöhnlich. Pornografie an sich ist ja nicht verboten, Inzest hingegen schon und ob man innerhalb des Tabubereichs für oder gegen eine "Gesetzesübertretung" oder eine moralische Übertretung ist. Die Anführungszeichen habe ich absichtlich eingefügt, weil Illegales durchaus geschrieben werden darf. Ob man sich etwa an einer Vergewaltigung ergötzen darf, sei mal dahingestellt. Andererseits gibt es Filme wie Saw, in denen Menschen gewissermassen seziert werden. Die sind sicher nicht kritikfrei, aber die will eigentlich niemand verbieten. Dass Jugendliche sie nicht sehen dürfen, ist allerdings nur gut. Altersschutz muss sein. Oder Videospiele: Ego Shooter sind ja in. Über die taktischen Hintergründe und dass es nicht bloss hirnloses Morden ist, will ich gar nicht viel erzählen. Einfach gesagt ist es doch so, dass es befriedigend ist, eine virtuelle Person zu töten. Wie gesagt, das ist aufs Essentielle hinuntergebrochen, die Hintergründe sind weg. Ich halte es mit geschriebenen fragwürdigen Inhalten wie im Film- oder Gamebereich: Was ich nicht sehen will, muss ich nicht ansehen. Ich stelle fest, die Debatte ist nicht unähnlich der unsäglichen Killerspieldebatte. Die einen verstehen nicht, wie man (in unserem Fall) Inzest- und Vergewaltigungsszenen erregend finden kann. Meine Ansicht ist, dass nur in sehr, sehr, sehr seltenen Fällen jemand zu Schaden kommt, wenn solche Dinge geschrieben werden. Das ganze findet in der Fantasie statt. Wie auch das Abknallen von Leuten. Vielleicht hilft es sogar, wenn man ein Ventil hat. Die Frage ist nur, ob alles veröffentlicht werden muss. Trashige Inzestszenen mit Vater-Tochter finde ich auch nur übel. Warum aber nicht zwei Schwestern? Nicht einmal im echten Leben käme dabei jemand zu Schaden. Allerhöchstens indirekt. Dennoch - ich kann die Meinung von [A] nachvollziehen. Es läuft auf das eigene Moralempfinden hinaus. Nicht immer kann man das begründen. Das soll überhaupt kein Vorwurf sein an [A]! Gefühle kann man nicht immer begründen, aber darüber nachdenken. |
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21.12.11, 03:20 Uhr | |
-Faith- | Hallo AJ, Es gibt auf diese Frage keine absolute Antwort. Jeder der aktuell ca. sieben Milliarden Menschen hat seine individuellen Moralischen Grenzen. Die Gesellschaft in der wir leben prägt unsere Moral. Gleichzeitig verändert sich die Moral einer Gesellschaft, wenn eine kritische Masse an individuellen Moralvorstellungen die Richtung oder das Tempo wechselt. D.h. jeder Autor ist in erster Linie seinen eigenen Moralgrenzen unterworfen. Sofern diese Grenzen weit außerhalb der gesellschaftlichen Moralgrenzen liegen, wird er damit rechnen müssen, dass seine Werke verboten werden, bzw. eine strafrechtliche Verfolgung nach sich ziehen. Da wir in einer heterogenen Gesellschaft leben – und damit meine ich alle Menschen zu jeder Zeit – wird es immer Befürworter und Ankläger geben. Der von Dir als [A] definierte Standpunkt stellt den moralisch vertretbaren Horizont einer Gruppe da. (Das soll nicht negativ klingen, ich zähle mich zu dieser Gruppe) [B] stellt einen weiteren Horizont dar. [A] ist somit in [B] enthalten Ich habe vor kurzem einen Artikel über das Verhalten von Tieren gelesen, demnach macht es Sinn, dass sich nicht alle gleich verhalten. Unterschiedliches Verhalten stärkt nicht unbedingt das überleben des Einzelnen, aber sehr wohl der Gruppe. Wenn [A] bei der Stadtgrenze bleibt, können sie sich vielleicht von den Zivilisationsabfällen ernähren, wohingegen [B] Nahrung in der Ferne findet – würden alle das gleiche tun, gäbe es an dem jeweiligen Ort nicht genug Nahrung. Lg Faith |
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23.12.11, 03:49 Uhr | |
Why-Not | Zunächst einmal möchte ich Dich, Auden_James, zu Deinem Posting beglückwünschen. Es ist Dir darin gelungen, einen eigentlich recht einfachen Sachverhalt so langatmig und kompliziert darzustellen, daß er nur mit Mühe zu erkennen ist. Damit hast Du m. E. eine notwendige (wenn auch sicher nicht hinreichende) Qualifikation für eine Professur in Deutschland nachgewiesen. Zum Thema: Die von Dir genannte Diskussion hat sich zwar aus der Abgrenzung von Pornographie zu Erotik entwickelt, gipfelte dann allerdings in zwei (von mir im Folgenden vereinfachten) Grundthesen, die sich nur scheinbar widersprechen: (A) Ein Text kann einen negativen Einfluß ausüben (Schaden anrichten). (B) Erfundenes schadet niemandem. Die Pornographie-Diskussion ist da nur ein Spezialfall: Der Gesetzgeber meint, Pornographie könne Schaden bei Minderjährigen verursachen. Ferner meint er, Gewaltpornographie (gerne zu unrecht mit BDSM verwechselt) könne auch Schaden bei Erwachsenen anrichten. In der Folge ist die Zugänglichmachung von Pornographie an Minderjährige und die von Gewaltpornographie grundsätzlich verboten. Diese Einschätzung ist umstritten (m. E. auch bei den A-Beführwortern). Nichtsdestotrotz gelten die Strafvorschriften. Zurück zur Grunddiskussion: Etwas Erfundenes richtet keinen unmittelbaren Schaden an. Eine erdachte Begebenheit verletzt niemanden. Soweit ist Position (B) richtig. Ein Text, der Verbrechen (hier bitte an etwas in den eigenen Moralvorstellungen Verwerfliches denken) positiv darstellt oder der eine Personengruppe entmenschlicht oder dämonisiert, kann Wertvorstellungen der Leser verändern und damit Schaden verursachen. Dabei ist es unerheblich, ob der Text ein Sachtext, eine wahre Begebenheit oder etwas Erfundenes enthält. Ein einzelner Text hat natürlich weniger Wirkung als viele Texte, die die gleiche Sichtweise vermitteln. Hier haben wir Position (A). Wenn beispielsweise das Pfählen von Linkshändern in vielen Geschichten am Beispiel fiktiver Personen als evolutionäre Notwenigkeit und zudem amüsant anzuschauen dargestellt wird, zumal Linkshänder ohnehin keine Menschen seien, könnte sich das mit der Zeit als ernste Bedrohung real existierender Linkshänder erweisen. (Das Beispiel ist absichtlich absurd gewählt. Mit anderen Minderheiten und etwas schlichteren Mordmethoden finden sich reichlich reale Beispiele.) Für mich als Autor stellt sich daher (abseits der rechtlichen Situation) die Frage, welche "Moralvorstellungen" ich dem Leser positiv vermitteln möchte, bzw. welche fiktiven Geschichten ich besser nicht erzähle. Why-Not |
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23.12.11, 22:58 Uhr | |
Auden_James | VORBEMERKUNG: Ich entschuldige mich für die ausufernde Länge meines Beitrags, aber ich unternehme den Versuch, zu einem komplexen Thema umfassend Stellung zu nehmen. @ Why-Not et al. Danke für die Blumen, was die von dir ausgesprochene Befähigung meinerseits zum Professor anbetrifft. Allerdings weiß ich nicht, was diese Spitze bezwecken soll? Ich gehe darüber hinweg, und stürze mich ins Getümmel: Zum Unterschied zwischen der Eingangsfragestellung und Deinem neuen „Thema“ Wenn der Sachverhalt so einfach war, wie du sagst, dann wüsste ich nicht, dass ich ihn sonderlich verkompliziert habe, denn auf mich wirkte die Diskussion in jenem Thread bei weitem verfahrener und unverständlicher als meine Rekonstruktion. Denn immerhin, auch wenn es mir vielleicht nicht geglückt ist, das müssen andere beurteilen, so versuchte ich, die dortigen Positionen zu ordnen. Dabei ging es mir zunächst tatsächlich nur um die obige Gegenüberstellung der allgemeinen Standpunkte [A] Ablehnung und [B] Befürwortung/Indifferenz zur literarischen Transgression, wie sie in jenem Thread vertreten wurden. Und es ging mir darum zu zeigen, dass in der Diskussion, wie sie in jenem Thread stattfand, [A] ein argumentatives Problem hat, weil der eigenen Standpunkt (im Ggs. zu [B]) nicht schlüssig dargelegt wird. Dass in dem Gegensatz von [A] und [B] sich womöglich weitere, tiefere Unterschiede in den vertretenen Überzeugungen verbergen, wie du sie als „Thema“ herauskehrst, das ist völlig richtig. Und ich danke dir dafür, diese grundsätzlichere Ebene aufgetan zu haben. Obschon [A] ohne Frage aus deinem Satz (a) folgt, so sehe ich jedoch schon einen Unterschied zwischen dem Standpunkt [B], wie ich ihn aus jener Diskussion rekonstruierte, und deinem Satz (b). Denn [B] redete nur davon, dass fiktionale Texte keinen „direkten Schaden“ anrichten könnten. Das schließt jedoch nicht aus, dass ein anderer, z.B. indirekter, Schaden von fiktionalen Texten ausgehen könnte. Und also denke ich, dass sich Standpunkt [B] aus deinem Satz (b), der anscheinend die Möglichkeit von Schaden überhaupt negiert, gar nicht ergibt. Tatsächlich ergeben sich sowohl [A] als auch [B] aus deinem Satz (a): Denn beide Standpunkte enthalten die Möglichkeit, dass fiktionale Texte Schaden – irgendeiner Art – anrichten können. Das, was du als Thema benennst, der Widerspruch zwischen den Thesen von der Gefährlichkeit oder Ungefährlichkeit fiktionaler Texte, war also bislang gar nicht Thema und erweitert somit, denke ich, entschieden den Diskussionshorizont. Denn zuvor ging es nur um die Frage der (Un-)Schlüssigkeit von [A] sowie die Reaktionen von [A] auf die gegebene Analyse ihres argumentativen Dilemmas. Und für diese Frage also spielte der von dir zum Thema gemachte Satz (b) in seiner prinzipiellen Form weder für [A] noch [B] eine Rolle. Zu Deinem Thema: Was du mit deinem „nur scheinbaren Widerspruch“ meinst, ist mir nicht ganz klar. Ich vermute, du siehst einen solchen deshalb, weil du in den Formulierungen deiner Sätze (a) und (b) tatsächlich zwei sich nicht einander verneinende Aussagen siehst: Vermutlich würde Fiktion zwar keinen direkten Schaden anrichten (vgl. Satz (b)), aber keinen direkten Schaden anzurichten schließe nicht aus, dass irgendein andersartiger negativer Einfluss ausgeübt würde (vgl. Satz (a)). Unter der Prämisse, dass „negativer Einfluss“ und „direkter Schaden“ nicht deckungsgleich sind, sondern ersteres letzteres in sich beinhalte, aber darüber hinausgehe, so scheint mir diese Auslegung nachvollziehbar. Allerdings auch wenig fruchtbar als Thema für eine Diskussion, weil trivial wahr. Für eine fruchtbare Diskussion würde ich in einer ersten Frage den Schwerpunkt auf deinen Satz (a) legen wollen und versuchen, in folgendermaßen zu schärfen: [1]Kann ein (fiktionaler) Text einen negativen Einfluss auf Leser ausüben oder kann kein (fiktionaler) Text einen solchen negativen Einfluss ausüben? Diese Frage greift, denke ich, bei deinem grundsätzlichen Thema des Geschichtenschreibens jedoch noch zu kurz. Denn entscheidend ist vielmehr, welche Frage sich wiederum aus deiner suggerierten positiven Antwort auf [1] ergibt: [2] Wenn ein (fiktionaler) Text einen negativen Einfluss auf Leser ausüben kann, darf ein solcher (fiktionaler) Text dann überhaupt verfasst oder veröffentlicht werden? (Ich denke, spätestens hier wird klar, dass dein Thema über die eingangs erfolgte Infragestellung der Schlüssigkeit von [A] weit hinausgeht.) Meine Stellungnahme zu Deinem Thema: Zuerst gehe ich auf deinen Punkt [1] ein: Kann ein (fiktionaler) Text einen negativen Einfluss auf Leser ausüben oder kann kein (fiktionaler) Text einen solchen negativen Einfluss ausüben? Ich denke, dass (fiktionale) Texte diverse Einflüsse auf Leser ausüben können. Sie können weinen wie lachen machen, langweilen und beim Einschlafen helfen, Nerven aufreiben und Wut entfachen, etc. Diese Einflüsse sind emotionaler Art. Aber können (fiktionale) Texte auch Einfluss auf die handlungsleitenden Überzeugungen der Leser ausüben? Diese Frage, denke ich, ist schwierig zu beantworten. Unter der Prämisse, dass Handlungen emotionsgesteuert sein können, könnte plausibel erscheinen, dass zumindest in bestimmten Fällen aus dem emotionalen Einfluss der Lektüre ein handlungswirksamer Einfluss resultieren könnte. Es sei zum Beispiel an eine Reaktion wie z.B. die gedacht, dass den Leser die fehlende Qualität eines Buchs dermaßen aufregt, dass er es in die Ecke schleudert oder zerreißt oder verbrennt. Hier erscheint es plausibel davon zu reden, dass der Text einen (emotionalen und handlungsleitenden) Einfluss auf den Leser ausgeübt hat. Ein empirisches Beispiel, das ich später noch hinterfragen werde, könnte prima facie im sogenannten „Werther-Effekt“ gesehen werden. Dieser leitet sich her von den überlieferten, angeblich gehäuften Suizidfällen, die im Anschluss an die Veröffentlichung Goethes Die Leiden des jungen Werthers aufgetreten seien, und die die Darstellung in Goethes Roman imitiert hätten. In Deinem Thema aber kommt ein wertendes Element hinzu, das m.E. die Sache noch zusätzlich schwieriger zu beantworten macht: Es geht nicht mehr nur um einen möglichen Einfluss von Texten auf Leser an und für sich, sondern einen möglichen negativen Einfluss. Da der sich von den anderen möglichen Einflüssen in irgendeiner Weise abgrenzen muss, steht zu vermuten, dass Dein Thema einen möglichen positiven sowie indifferenten Einfluss gleich mit postulierte. Somit alle möglichen Einflüsse entsprechend ihrer unterstellten Handlungswirkung gewertet werden würden/könnten. Ich sehe jedoch das Problem, dass eine solche Wertung immer relativ ist: Wer ist derjenige, der die Wertung vornimmt? Unter welchen zeitlichen wie gesellschaftlichen Umständen erfolgt die Wertung? Welche Maßstäbe liegen der Wertung zugrunde? Welches Wissen über die zu wertende Handlung steht zum Zeitpunkt der Wertung wem zur Verfügung? Wie vergleichbar sind die Wertungen verschiedener Personen zu verschiedenen Zeiten? Etc. Und weil diese Relativität sich über so viele Dimensionen erstreckt, halte ich es für äußerst fraglich, ob überhaupt irgendeine Möglichkeit einer validen Wertung entsprechend der Kategorien Deines Themas (positiver, indifferenter, negativer Einfluss) besteht. Denn die Wertung hängt offenkundig von so vielen verschiedenen Faktoren ab, die selbst jeweils wieder an die eigene Subjektivität gebunden sind, dass ein und derselbe Wertungsfall genauso gut für positiv, indifferent oder negativ befunden werden könnte – je nach Perspektive, Zeit und Ort. Daraus ergibt sich eine solche Beliebigkeit der Wertung, die m.E. die Ausgangsfrage nach dem möglichen negativen Einfluss eines (fiktionalen) Textes auf Leser sinnlos erscheinen lässt. Denn es gibt keinen Weg zwischen den möglichen Antworten (positiver, indifferenter, negativer Einfluss) valide von nicht-validen zu unterscheiden. Denn aufgrund der gegebenen Relativität sind alle Antworten zugleich wahr und falsch, je nach Perspektive. Das lässt sich auch am Werther-Effekt zeigen: Die Suizid begehenden Männer, ein knappes Dutzend an der Zahl, von denen der Werther-Effekt sich historisch herleitet, kleideten sich wie der Protagonist des Romans in gelbe Hosen und blaue Jacken, als sie sich selbst töteten, vorzugsweise (jedoch nicht immer) wie der Protagonist des Romans mit einer Pistole. Hier blitzen sofort x Fragen auf: Besteht die Verbindung zwischen Roman und realem Suizid letztlich bloß auf reinen Oberflächlichkeiten wie der getragenen Kleidung und der Tötungsmethode? Lässt sich heute überhaupt sagen, ob die Betroffenen den Roman je gelesen hatten? Oder hatten sie nur davon „gehört“ und versuchten mit ihrer Aufmachung nochmals Aufmerksamkeit zu erregen? Wie will man plausibel machen, dass gerade das Lesen über einen Suizid den eigenen Suizid zur Folge hat, denn tötet man sich selbst, nur weil in der Zeitung oder im Roman vom Suizid jemand anders die Rede ist? Welche Umstände hatten jene Suizide, die den im Werther vermeintlich imitierten, oder lasen sich diese Umstände heute gar nicht mehr angeben? Wie kann man dann eine Kausalität zwischen Lektüre und der Entscheidung zum Suizid unterstellen? Sind denn kaum ein Dutzend Suizide ausreichend, um einen „Effekt“ zu belegen? Wer sagt überhaupt, dass Suizid eine moralisch schlechte Handlung sei? Wenn Suizid (politischer) Selbstausdruck (man denke an die Selbstverbrennung, die den arabischen Frühling einläutete) oder Ende von (persönlichem) Leiden (man denke an unheilbar Kranke) bedeutet, ist dann eine Lektüre, die den Suizidalen bestärkte, nicht sogar positiv? Und mit welchem Recht sind zutiefst persönliche Entscheidungen über das Leben ausschließlich der eigenen Person überhaupt von jemand anders moralisch zu ver- oder beurteilen? Etc. Man könnte noch viele, viele weitere Fragen und Relativierungen vorbringen. Und man wird nicht eine wahre oder auch nur eine falsche Antwort finden, denn alle Antworten sind abhängig von der Perspektive und x Unbekannten oder Streitfällen. Jede beliebige Wertung erscheint zulässig. In Anbetracht dessen ist [1] m.E. eine sinnlose Frage. Im Weiteren gehe ich auf deinen Punkt [2] ein: Wenn ein (fiktionaler) Text einen negativen Einfluss auf Leser ausüben kann, darf ein solcher (fiktionaler) Text dann überhaupt verfasst oder veröffentlicht werden? Diese Frage stellt, wenn überhaupt, wie die Ausführungen zu [1] fraglich machen, sich nur dann, wenn einer bestimmten Perspektive zufolge ein negativer Einfluss behauptet wird. (Was, wie gesagt, eigentlich keine Rolle spielt, da genauso gut auch das Gegenteil der Fall sein könnte, und ein positiver Einfluss behauptet werden könnte, und aus einer anderen Perspektive sogar ein indifferenter). In diesem Falle, wie auch in jedem anderen, wäre meine einfache wie klare Antwort: Ja und ja, natürlich. 1. Natürlich darf der Text verfasst werden, denn warum nicht? 2. Und natürlich darf er auch veröffentlich werden, denn (i) alle Perspektiven sind in ihrer Redefreiheit gleichberechtigt, und (ii), wie gesagt, hängt die behauptete Wertung des Einflusses von der Perspektive ab, und (iii) aufgrund der gegebenen Relativität hat keine Einflusswertung irgendeiner Perspektive einen Vorrang vor irgendeiner anderen: Somit also steht allen dasselbe Recht zu, sich zu äußern und ggf. gehört zu werden. Ein Beispiel, um den letzten Punkt bzgl. Perspektivität und Relativität nochmals zu klarzulegen: Wenn der aufklärerische Autor M. Schmidt-Salomon, Vorsitzender der Giordano-Bruno-Stiftung, sein Manifest des evolutionären Humanismus schreibt, wogegen nichts spricht, und es veröffentlicht, dann mag das aus Sicht des Feuilletonisten ein positiver Einfluss für die Auseinandersetzung mit Kirche und Religion sein; aus Sicht des Medienwissenschaftlers mag das Buch dann aufgrund der Verkaufszahlen ein indifferenter Einfluss auf die öffentliche Meinung zu Kirche und Religion sein; aus Sicht des katholischen Pastors wiederum mag das Buch dann ein negativer Einfluss auf die Frömmigkeit seiner Gemeinde sein, fiele eines seiner Schafe der Lektüre des Buches anheim. Weil alle Perspektiven gleichberechtigt und ihre Wertungen relativ sind, gib es keinen Grund, der dagegen spräche, dass das Manifest des evolutionären Humanismus veröffentlicht werden dürfe, denn obwohl es wahr(/falsch, je nach Perspektive) ist, dass es einen negativen Einfluss auf Leser ausüben könnte, so ist ebenso wahr(/falsch, je nach Perspektive), dass es auch einen indifferenten oder einen positiven Einfluss auf Leser ausüben könnte. Und also spielt am Ende die (notwendig) perspektivabhängige und relative Wertung des möglichen Einflusses des Buches auf Leser keine Rolle, da sie alle gleichermaßen zutreffen und nicht zutreffen. In Anbetracht dessen ist [2] m.E. eine sinnlose Frage. * Ich danke vielmals, falls irgendwer die Energie und Zeit haben sollte, meinen Wortschwall tatsächlich durchzukauen. Wie immer, bin ich auf mögliche Kritik gespannt. Beste Grüße und frohe Weihnachten –AJ |
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11.1.12, 13:15 Uhr | |
Coy | Why-Not:Für mich als Autor stellt sich daher (abseits der rechtlichen Situation) die Frage, welche "Moralvorstellungen" ich dem Leser positiv vermitteln möchte, bzw. welche fiktiven Geschichten ich besser nicht erzähle. Und wie beantwortest du sie dir? Das ist wohl eine ziemlich persönliche Frage, aber für mich läuft das Thema auf diesen Punkt hinaus. Der gute AJ und ich, wir sprechen seit Jahren zwei unterschiedliche Sprachen, aber sein Ansätze haben eigentlich immer etwas. Was hier wieder bewiesen würde, weil sich dank dir, Why-Not, eine relativ simple Quintessenz daraus ergab, die ich sehr interessant finde. Ich will das, was mit im Kopf rumspukt, noch etwas genauer formulieren: Die interessanteren Geschichten ergeben sich meiner Meinung nach aus Protagonisten mit Schwächen. Und ich dringe selbst gerne in Bereiche vor, wo Grenzen überschritten werden. Dabei schöpfe ich zum Teil aus meinen eigenen, persönlichen Grenzüberschreitungen und Schwächen. Ich will mich nun nicht selbst beweihräuchern, aber ich bin nicht dumm. Ich kann nicht nur die Moral oder den Denkanstoß in Cinderella entdecken, sondern auch in komplizierteren Geschichten. Aber es gibt auf dieser Welt auch einige Leute, die sie nicht einmal in Cinderella entdecken können. Wenn ich nun eine Geschichte erzähle, die zwar einen Denkanstoß enthält, den aber nicht unbedingt offen präsentiert, sieht ein... einfacher gestrickter Lese vielleicht nur eine Schilderung eines Arschlochs, das mit ein paar schmutzigen Tricks Frauen um den Finger wickelt. Und vielleicht beeinflusst das ihn negativ, statt ihn zu Selbstreflektion (ich werde da NIE ein x reinschreiben!) zu animieren. Aber ist das jetzt deswegen eine Geschichte, die ich nicht erzählen sollte? Gibt s nicht immer jemanden, der blöde genug ist, aus einem Krimi heraus den perfekten Mord zu planen? Und gibt es nicht immer jemanden, der auch in der verworrensten Geschichte etwas wertvolles über sich selbst erfahren mag? Oder anders: Wäre es nicht besser, gerade die extremen Tabuthemen aufzugreifen und zu versuchen, Niveau und vielleicht sogar die gelegentliche Moral von der G'schicht hineinzubringen? Statt sie den Köpfen der anderen allein zu überlassen, meine ich. |
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16.1.12, 00:06 Uhr | |
Why-Not | @-AJ: Bei dem Punkt, daß die Wertung eines Einflußes subjektiv und gesellschaftsabhängig ist, gebe ich Dir recht. Ich sehe zunächst den Autor (konkret: mich) in der Verantwortung, ob seine Texte einen aus seiner Sicht gravierend negativen Einfluß auf die Leser haben könnte. Aber gehen wir noch mal einen Schritt zurück. (1) Was könnte ein Text (fiktional oder nicht) beim Leser beeinflussen? (1a) die sexuelle Disposition (1b) die Wertvorstellungen (1c) die Handlungen (1a) Im Gegensatz zu den Zensoren im Namen des Jugendschutzes bezweifle ich, daß sich die sexuelle Disposition von Menschen durch Texte beeinflussen läßt. Meines Erachtens wird diese bereits festgelegt, bevor ein Mensch Texte rezipieren kann. (genetisch und/oder frühkindlich) Das "meiner Meinung nach", "meines Erachtens", ... laß ich jetzt weg. Da ich hier keine wissenschaftliche Dissertation schreiben will, ist alles, was hier noch kommt, meine Meinung oder meine Erfahrung. (1b) Wertvorstellungen können sich durch Erfahrungen (auch Erziehung) und Ideen (auch Ideologien) ändern. Daß Wertvorstellungen unsere Handlungen beeinflussen, dürfte unstrittig sein. Erfahrungen und Ideen können auch über Texte vermittelt werden. (1c) Texte können auch unmittelbar zu Handlungen führen. Dieser Effekt dürfte der Hauptgrund für viele Leser sein, sich erotische Geschichten zu Gemüte zu führen. (Stichwort: Einhand-Leser) Allerdings dürften die resultierenden Handlungen durch Wertvorstellungen und sonstige Rahmenbedingungen stark gefiltert werden. Wer eine Autoerotik-Inspiration (vulgo: Wichsvorlage) im Öffentlichen Nahverkehr liest, dürfte nur in den seltensten Fällen ... Insgesamt dürften direkte Handlungsimpulse aus einem Text eher kurzfristig Wirkung zeigen. Zusammenfassend gehe ich davon aus, daß die nachhaltigste Wirkung eines Textes die auf die Wertvorstellungen des Lesers sind. Bleibt noch die Frage, ob es in der möglichen Wirkung einen Unterschied zwischen fiktionalen und realen Texten gibt. Solch einen Unterschied sehe ich nicht grundsätzlich. Eine erfundene Geschichte kann genauso Gefühle wie Wut oder Mitgefühl auslösen, wie eine reale. Tatsächlich ist es für den Leser nicht prinzipiell unterscheidbar, ob er ein reales oder erfundenes Geschehen erzählt bekommt. Das wird ihm in erster Linie über die Form (Nachrichten, Roman, Autobiographie, ...) nahegelegt. (Wie glaubwürdig Nachrichten sind, lasse ich mal außer Betracht.) Somit komme ich zu der Überzeugung, daß (auch fiktionale) Texte die Wertvorstellung der Leser beeinflussen können. Damit komme ich wieder auf meine Einleitung, wonach ein Autor (und weitere, die eine Veröffentlichung "filtern" können, z. B. Verlage) eine Verantwortung dafür hat, was er den Lesern auftischt. @Coy: Selbstverständlich kannst Du nicht die Reaktion jedes Lesers auf Deine Geschichte vorhersehen bzw. vorherplanen. Aber Dein Beispiel mit Cinderella zeigt bereits einen sehr erprobten Weg. Zwar wird nicht "jeder Depp" erkennen, daß es in Cinderella eine Moral gibt, aber trotzdem wird sie auch einfach gestrickten Menschen unterschwellig vermittelt. Das ist übrigens eine der wesentlichen Funktionen von Märchen, nämlich ein Weltbild und eine Wertvorstellung zu vermitteln. In fast jedem Krimi wird der Täter ermittelt und einer Bestrafung zugeführt. Das ist ein modernes Märchen mit der Moral: Verbrechen lohnen sich nicht. Natürlich ist die Welt trotzdem nicht frei von Verbrechen. Aber es gibt einen breiten, gesellschaftlichen Konsens, daß man mit Mord nicht straffrei davonkommt. (Natürlich hat das auch etwas mit der Aufklärungsquote zu tun.) Hier sehe ich mich als Autor in der Verantwortung. Auch in meinen Geschichten geschehen manchmal Dinge, die ich nicht real fördern möchte, die ich aber aus dramaturgischen Gründen in der Geschichte haben will. Solche Dinge stelle ich dann aber nicht positiv dar. Um das zu erkennen ist keine Text-Interpretation aus einem Deutschkurs nötig. Es ergibt sich aus der Geschichte. In meinem aktuellen Buch "Dämonen der Leidenschaft" gerät beispielsweise meine Protagonistin in die Gewalt ziemlich unangenehmer, skrupelloser Zeitgenossen. Durch die Perspektive der Erzählung bleibt aber kein Zweifel, was ich für richtig oder falsch halte. (Die wenigsten Leser dürften es schaffen, sich meiner vorgegebenen Perspektive zu entziehen. ) Manchmal biete ich auch eine Frage zum Nachdenken an. Ich zwinge sie niemandem auf, aber wer will, kann darüber nachdenken. Insbesondere die Frage, wie eine angemessene Strafe für ein schlimmes Verbrechen aussehen kann, hat bei manchen meiner Geschichten bereits zu kleinen Diskussionen mit Lesern geführt, die sie nicht einfach nur konsumiert haben. Nichtsdestotrotz ist die vorrangige Aufgabe meiner Geschichten, zu unterhalten. Soweit zur Philosophie. Why-Not |
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16.1.12, 16:10 Uhr | |
Coy | Why-Not: Hmm... Ich denke, ich stimme dir im Prinzip zu. Aber... Wo ich einen Unterschied in unserer Einstellung sehe, ist der Bereich der 'dunklen Phantasien'. Es gibt Dinge, wie beispielsweise Gewaltphantasien, die sich meiner Meinung nach der Forderung nach einer Moral entziehen. Oder vielleicht sollte ich eher sagen, dass sie das für mich tun. Ich ziehe auch da meine Grenzen, bzw. habe gewisse Prinzipien, die mich gar nicht erst dorthin abgleiten lassen, wo es wirklich 'uneinvernehmlich' wird. Aber ich bin selbst fasziniert von den Abgründen der menschlichen Seele und ihren Begierden und es macht mir manchmal Spaß, meine Protas besser zu kennen, als sie es selbst tun. Sie also in Bereiche zu führen, die sie bewusst nicht betreten würden, weil sie diese oder jene Blockade dahingehend haben. In gewisser Hinsicht ist das unmoralisch. Ein einzelnes Nein bedeutet dann nicht immer auch wirklich ein Nein und es gibt Leute, die sich darüber aufregen. Es könnte sogar verargumentiert werden, dass ich damit ein schlechtes Beispiel gebe. Menschen zu Handlungen ermuntere, die ihren 'Opfern' gegen deren Willen zugefügt werden. Auf der anderen Seite steht aber, dass es Menschen gibt, die diese Phantasien aus der ‚Opferperspektive‘ haben. Was mich überhaupt erst darauf gebracht hat, diesen Bereich näher zu erkunden. Ich würde das als grenzwertig betrachten und wenigstens eine Geschichte von mir wurde hier auch abgelehnt, weil sie wirklich auf dieser Grenze balancierte. Aber dennoch habe ich sie geschrieben und auch anderswo veröffentlicht. Könnte diese Art von Geschichte bei jemandem einen Handlungsimpuls auslösen, der wiederum einer dritten Person schadet? Vielleicht ist das möglich. Dann würde der Impuls allerdings auch von vielen anderen Reizen ausgelöst werden, würde ich sagen. Vielleicht bewege ich mich auch noch innerhalb eines abgesteckten Bereiches, in dem es eben sehr wohl eine Rolle spielt, was die Zielperson fühlt, auch wenn sie es sich nicht eingesteht. Und deshalb transportiere ich auch eine Moral. Wenn auch nicht immer offensichtlich. Ich denke ich weigere mich einfach nur, für die Taten anderer deren Verantwortung zu übernehmen. Jeder mündige Mensch ist für seine Taten verantwortlich und keine wie auch immer gearteten Fremdreize können ihn davon entbinden. Affekt mal außen vor gelassen. Wenn ich es schaffe, eine bestimmte Gefühlsstimmung einzufangen - beispielsweise die Reize, die bestimmte Phantasien für manche Frauen eben ansprechend machen - dann gebe ich dem den Vorrang gegenüber einer Moral mit einem Hinweis darauf, wie falsch etwas ist. Deswegen mögen in meinen Geschichten einige Schurken entkommen. Auch wenn sie vielleicht rein moralisch eher Robin Hoods sind und man über ihre Schuld streiten könnte, ist mir der erfolgreiche Spitzbube manchmal mehr wert als die Botschaft, dass Diebstahl sich nicht lohnt. Ich hoffe, das ist jetzt nicht zu unzusammenhängend… |
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16.1.12, 23:14 Uhr | |
Why-Not | @Coy: Ich halte es für unwahrscheinlich, daß ein Buch einen Leser zu einer Tat bringt, die er ohne das Buch nie getan hätte. Insofern würde ich auch nicht die Verantwortung für die Taten anderer übernehmen. Allerdings gehe ich davon aus, daß Bücher Wertvorstellungen verändern können. Und da paßt die Argumentation schlecht, daß ja nichts passiert, solange nur meine wenigen Texte "schädlich" sind. Außerdem kann ich schlecht von Politikern Verantwortungsbewußtsein verlangen, wenn ich in meinen Texten das rücksichts- und verantwortungslose Ausleben der eigenen Phantasien befürworte. Andererseits lassen sich viele "problematische" Themen auch so erzählen, daß sie eben keine Rechtfertigung oder Verharmlosung darstellen. Beispiele für solche Passagen gibt es nicht nur in meinem neuesten Buch (auf das ich hier noch einmal besonders subtil hinweisen möchte ), sondern auch in den Teilen 2, 4 und 6 meiner "Dunklen Wolken über Landor" hier bei Sevac. Was die "verbotenen Reize" betrifft, lassen auch diese sich "sozialverträglich" darstellen. Es macht einen Unterschied, ob die Protagonistin von Anfang an widerwillig von einem rücksichtslosen Macho fasziniert ist, während sie gleichzeitig ein schlechtes Gewissen hat, weil man sich so etwas doch nicht wünschen kann und darf - oder ob sie hinterher feststellt, daß es ihr "trotzdem" gefallen hat, wie er sich rücksichtslos genommen hat, was er wollte. Das letztere ist die Alibi-Argumentation vieler Vergewaltiger, ersteres kann - gut geschrieben - zu einem glaubwürdigen Meta-Konsens führen. Why-Not |
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16.1.12, 23:40 Uhr | |
mondstern70 | Coy: Hierzu mal ein Buchtipp http://www.amazon.de/Gewalt-ist-eine-L%C3%B6sung-Doppelleben/dp/3868830642/ref=pd_rhf_ee_p_t_2 Gibt einen sehr authentischen Blick in eine Welt von Gewalt. Polizist und Hooligan. Ich bin keine Kritikerin, ich lese aber gern interessante Bücher. Und das, war interessant! „Keiner steht morgens auf, und sagt, er wird jetzt Hooligan.“ Für mich die Kernaussage des Buches. Ich fand den Autoren und Ich-Erzähler sogar recht sympathisch, wenn ich allerdings auch seine „Freizeitbeschäftigung“ auf schärfste verurteile. Angenehm war, dass er nichts schönredete, oder sich rechtfertigte, er erzählte einfach seine Geschichte. Und er fesselte mich damit. Ob jemand nach der Lektüre den örtlichen Ultras beitritt ...??? Die Frage wird sich wohl nicht beantworten lassen LG Mondstern |
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17.1.12, 12:15 Uhr | |
Coy | Oh ein glaubwürdiger Meta-Konsens ist mir schon wichtig. Ich muss als Autor das Gefühl haben, meine Charaktere würden sich glaubwürdig verhalten. Aber hier haben wir schon den Knackpunkt: Meine Einschätzung davon deckt sich erwiesenermaßen nicht immer mit derjenigen aller Leser. Ich habe immer wieder den Vorwurf kassiert, ich würde mich in Schlampenphantasien ergehen. Also in typischen Männerideen über ganz besonders unrealistische Frauen, wenn man das mal übersetzen will. Und dabei hilft es nichts, dass ich für meinen liebsten Frauentypus reale Beispiele habe. Und es hilft auch nicht, dass ich überhaupt erst anfing Geschichten zu 'veröffentlichen', indem ich sie einem Kreis Frauen aushändigte, die mich um 'mehr davon' gebeten haben. Glaubwürdigkeit, Authentizität, Moral und Konsens sind alles Dinge, die im Auge des Betrachters liegen. Und je kontroverser ein Thema betrachtet wird, desto weiter klaffen die Sichtweisen auseinander. Das meine ich in erster Linie, wenn ich überhaupt hier rumargumentiere. Für die einen transportiert es eine Moral, für die anderen ist es eine billige Ausrede, weil sie den Denkanstoß oder die verborgene Wahrheit oder von mir aus meine Brillanz nicht erkennen. Oder weil sie schlauer sind als ich. Erschwerend hinzu kommt, dass ich andere Moral- und Wertvorstellungen habe, als die Masse der Gesellschaft. Die Frage für mich lautet also: Will ich jede meienr Erzählungen so weit vereinfachen, dass eine Moral darin enthalten ist, die zumindest fast jeder verstehen kann? Die Antwort darauf ist: Nein. Und ich gestehe offen ein, dass ich dabei nicht nur an meine Integrität und Sichtweise denke, sondern auch an das Provokationspotential. Neun Teile Skandal und ein Teil Wahrheit, sagte Howard Levey mal. Und er verdiente sich nicht nur eine goldene Nase damit, sondern schien auch ansonsten durchaus zu seinen Aussagen stehen zu können. Das ist mir ein erstrebenswerteres Vorbild als andere. Aber ich respektiere durchaus, dass man das völlig anders sehen kann. Und ich befürworte das auch. Ich verweigere mich eigentlich nur jeglicher Einschränkungen meiner Einschätzung von Moral, wenn sie auf der Annahme basieren, ich müsse für die Dummen und Unverantwortlichen mitdenken und deren Eigenverantwortlichkeiten mittragen. @ Mondstern Danke für den Buchtipp. Ich habe etwas ähnliches schon einmal gelesen und denke, ich verstehe, was du meinst. Allerdings ist es noch ein wenig etwas anderes, wenn man wahrheitsgemäß aus dem Leben berichtet, weil es da ja auch um Fakten geht. |
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