01 Miriam - back in black
von Faith
Vorwort
Es gibt Charaktere, die bringt man irgendwann um, weil man ihrer überdrüssig wird. Andere schleichen langsam davon. Und dann gibt es noch solche, die einen nicht loslassen - denen man sich verpflichtet fühlt. Die Protagonistin dieser Geschichte ist vor langer Zeit aus einer Laune heraus entstanden und mit jedem Absatz stärker geworden.
Ich habe lange gerungen, und wem es langatmig, pathetisch oder zu verworren vorkommt, dem sei gesagt: Es liegt mehr unter dem Tisch als darauf.
*** Prolog ***
Die tief stehende Sonne warf eine verzerrte Silhouette des großen Transporthubschraubers auf den Boden der russischen Tundra, als er zur Landung ansetzte.
Das Ziel der langen Reise waren mehrere Wohncontainer mit einem angrenzenden Labortrakt.
Die Stelzen, auf denen die Container standen, bohrten sich tief in den morastigen Boden. Denn seit einigen Jahren stiegen die Temperaturen im Sommer so weit an, dass sich der seit Jahrtausenden gefrorene Boden für einige Wochen in eine matschige Ödnis verwandelte.
Vom Landeplatz des Hubschraubers waren Bretter in den Matsch gelegt worden, damit man das Labor erreichen konnte, ohne knietief im Morast zu versinken.
Ein kräftiger Russe half der rothaarigen Frau aus dem Hubschrauber und begleitete sie über den provisorischen Pfad zum Labor.
*
»Da ist es!«, sagte die Männerstimme auf Englisch, aber mit hartem russischem Akzent.
Sie befanden sich im Sicherheitsbereich des Labors und hatten die Schutzanzüge angelegt. Auf einem Tisch lag ein schwarzes, faustgroßes Objekt, das von grellem Neonlicht angestrahlt wurde.
Durch das verdunkelte Visier des Schutzanzugs konnte er weder die Gestik noch Mimik seiner Besucherin erkennen.
Da sie schweigend auf das Objekt blickte, sprach er einfach weiter: »Wir haben es bei Grabungen gefunden und die Geologen konnten damit nichts anfangen. Sie hielten es für ein versteinertes Ei. Als ich die ersten Bilder davon sah, habe ich ihre Organisation verständigt.«
Seine weit gereiste Besucherin schwieg immer noch, und er fragte: »Ist es das, was ich denke?«
»Es sieht zumindest so aus«, antwortete eine Frauenstimme in fließendem Englisch und griff nach dem Objekt, um es sich näher zu betrachten. Da die Hände in dicken Gummihandschuhen steckten, nahm sie es mit beiden Händen, um es sicher halten zu können. »Haben sie einen CT–Scan gemacht?«, fragte sie.
»Nein, wir haben keinen mobilen Scanner und ich wollte es nicht von hier wegbringen, bevor sie einen Blick darauf geworfen haben.«
»Haben sie eine UV–Lampe?«, fragte die Frauenstimme.
»UV–Lampe?«, fragte der Russe.
»Herrgott! Sie werden doch eine UV–Lampe haben«, sagte die Frau, legte das Objekt zurück auf den Tisch und wartete ungeduldig, bis ihr die UV–Lampe gereicht wurde.
»Dimmen sie die Beleuchtung«, sagte sie und richtete den schwach violetten Lichtkegel auf das Objekt. Ein Großteil der Neonlampen erlosch und tauchte das Labor in ein schummriges Halbdunkel. Auf dem schwarzen Objekt erschienen, da, wo es von dem UV–Licht getroffen wurde, feine orangefarbene Linien.
»Unglaublich!«, hauchte die Frauenstimme und drehte das Objekt, um den Verlauf der ineinander verschlungenen Linien über den gesamten Umfang bewundern zu können.
»Also müssen wir es melden«, stellte der russische Wissenschaftler nüchtern fest.
»Nein, wir müssen das nicht melden«, korrigierte ihn die Amerikanerin, »das ist keine Datenkapsel der Roten Königin. Das hier ist viel älter – wahrscheinlich ist es so alt, dass davon keine Gefahr mehr ausgeht.«
»Aus diesem Grund ist auch der übliche Schnelltest negativ ausgefallen«, sagte der Russe.
»Ja«, sagte die Amerikanerin, »Diese Datenkapsel ist vor sehr langer Zeit eingefroren und in einen Dornröschenschlaf gefallen, aus dem sie alleine nicht wieder herauskommt. Es gibt wahrscheinlich nur noch ein Wesen auf der Erde, dass diese Datenkapsel wachküssen kann.
»Wer soll das sein?«
»Die Blaue Königin«, antwortete die Amerikanerin.
»Es gibt noch eine Königin?«, fragte der Russe verwundert. Er wusste von der Roten Königin, deren Existenz über ihren Tod hinaus öffentlich dementiert wurde. Journalisten und Wissenschaftler, die allzu offenherzig darüber berichteten, erlebten oftmals schmerzhafte Einschnitte in ihren Lebensläufen.
»Ja, es gibt noch eine Königin«, bestätigte die Amerikanerin, »ihre Geschichte ist eng mit der Roten Königin verknüpft, und ich könnte ihnen den ganzen Abend davon erzählen, aber ich versuche, mich auf das Wesentliche zu beschränken.«
Während sie die Datenkapsel für den Transport vorbereitete, begann sie zu erzählen:
»Die Blaue Königin war einst eine Drohne der Roten Königin. Miriam war gerade 18 Jahre alt, als Tanja auf sie aufmerksam wurde.«
»Tanja war die Rote Königin?«, fragte der Russe.
»Ja, Tanja war erst vor einigen Tagen zur Roten Königin geworden, nachdem sie etwas zu unvorsichtig mit einer solchen Datenkapsel hantiert hatte.«
»Woher wissen sie das so genau?«
»Miriam hat es mir erzählt«, antwortete die Amerikanerin, während sie die Datenkapsel in einem luftdichten Glaszylinder verstaute und ihre Erzählung fortsetzte.
»Sie war eine Drohne der Roten Königin geworden. Das Besondere, das Einzigartige an Miriam, war ihre Fähigkeit der Rückverwandlung. Der Roten Königin war es gelungen eine Drohne zu erschaffen, die ihr ursprüngliches, menschliches Aussehen annehmen konnte. Alle Drohnen vor ihr waren an ihre außerirdische Erscheinung gebunden. Und so prächtig und verlockend sie auch aussahen, in einer Welt voller Menschen ist es sehr vorteilhaft, wie ein Mensch aussehen zu können.«
»Da stimme ich ihnen zu ..., fragt sich nur, was eine Königin mit all den Drohnen anfangen soll.«
»Sie wissen das nicht?«, fragte die Amerikanerin ungläubig.
»Erzählen sie es mir.«
»Wie die Arbeiterinnen anderer staatenbildender Völker war Miriam für die Versorgung des Kollektivs verantwortlich. Während Bienen ihre rüsselartige Zungen in so ziemlich alles stecken, was blüht, sind die Aliens auf einen Stoff angewiesen, den man ausschließlich bei geschlechtsreifen Männern bekommen kann, und dann auch nur in relativ geringen Mengen. Demnach waren Miriam und ihre Kolleginnen fleißig wie die Bienen, um den Bedarf der Königin zu decken.«
»Sperma?«, fragte der Russe.
»Ja!«
»Für was?«
»Im Sperma sind Bestandteile, die für die Aliens lebensnotwendig sind.«
»Erzählen sie weiter«, sagte der Wissenschaftler mit sichtbarem Interesse.
»Als die Rote Königin aus Deutschland floh, war Miriam das Bauernopfer, das die Polizei ablenken musste. Die Königin opferte eine, um viele zu retten.
Miriam wurde gefangen genommen, und obwohl man sie gut behandelte, war es eine traurige Zeit. Der einzige Trost waren ihre Träume, in denen sie die Anderswelt besuchen konnte.«
»Was ist die Anderswelt?«, fragte er.
»Die Anderswelt ist ein visionärer Ort, der nur im kollektiven Geist der Aliens existiert. Sie können diesen Ort nicht mit ihren Körpern, aber mit dem Bewusstsein besuchen, um sich mit den anderen ihrer Art auszutauschen.
Miriam besuchte diesen Ort oft während ihrer Gefangenschaft, aber sie fand niemanden ihrer Art. Als sich die Gelegenheit bot, floh sie aus dem Labor und tauchte in ihrer menschlichen Erscheinung unter, um die Rote Königin zu suchen. Aber sie wurde gejagt.
Um überleben zu können, übertrug sie ihre außerirdischen Gene auf andere Menschen - schuf weitere Drohnen, damit sie es als Gruppe zurück zur Königin schaffen könnten.
Miriam glaubte, im Willen der Roten Königin zu handeln, aber bei einem Besuch in der Anderswelt nahm die Rote Königin dann doch Kontakt mit Miriam auf.
»Und?«, fragte der Wissenschaftler gespannt.
»Die Königin konnte Miriam in der Anderswelt nicht töten, aber sie strafte ihre Drohne mit Blindheit. Von nun an war es Miriam nicht mehr möglich, die Anderswelt zu sehen. Ihr kontemplativer Cortex – ihr inneres Auge – war zerstört. Denn die Königin wollte mit aller Macht verhindern, dass Miriam zu ihr kam. Da Miriam von den Menschen verfolgt wurde, würde sie die Menschen nämlich direkt zur Roten Königin locken.
In diesem Moment wollte Miriam sterben, aber so verzweifelt sie auch war, sie war nicht alleine.
Miriam war zwar blind, aber sie konnte die Gedanken der anderen Drohnen, die sie um sich geschart hatte, hören.
Erst war es nur ein Flüstern im Chaos der Gedanken: ‚Miriam könnte unsere Königin werden.‘
Die Idee drohte in dem Sturm der zahllosen Gedanken unterzugehen, aber sie tauchte immer wieder auf, wurde von anderen Drohnen nachgedacht oder an anderer Stelle neu ausgedacht. In das Durcheinander kam Ordnung: die Idee von Miriam als Königin schallte wie ein Echo durch das kollektive Bewusstsein, bis kein anderer Gedanke mehr übrig blieb.
So absurd Miriam die Idee auch fand, es war weniger Furcht einflößend, als zu sterben. Und so stimmte sie dem Wunsch ihrer Drohnen zu.
Gemeinsam schufen sie einen Cerebrat, durch den Miriams Weiterentwicklung zur Königin möglich wurde.«
Der russische Wissenschaftler hatte den Glaskolben, in dem sich die Datenkapsel befand, längst in dem Edelstahlgefäß verstaut und den Deckel darauf geschraubt. Er saß die letzten Minuten schweigend auf der Kante des Labortisches und lauschte der Erzählung der Amerikanerin. Jetzt unterbrach er sie erneut:
»Was ist ein Cerebrat?«
»Das ist ein Kapitel für sich«, sagte sie lapidar und setzte ihre Erzählung fort.
»Erneut durchlebte Miriams Körper und ihr Geist eine Veränderung – sie wurde zur Blauen Königin. Trotz dieser Reifung auf die höchste Existenzstufe ihrer Art, blieb ihr inneres Auge blind für die Anderswelt. Sie war eine blinde Königin, aber ihre Stimme brachte Ordnung in das Chaos. Und als Königin war ihr Wille frei, es gab keine Stimme mehr, die über ihr stand. Sie entschloss sich, die Rote Königin zu suchen, in der Hoffnung auf Antworten.
Miriam und einige ihrer Untertanen fanden das Versteck der Roten Königin im Dschungel Südamerikas. Dort erkannte Miriam, dass die Rote Königin nicht weniger als die ganze Welt wollte. Ihre Art sollte die Menschen von der Erde verdrängen und deren Platz einnehmen.
Um dieses Ziel zu erreichen, hatte die Rote Königin Datenkapseln überall auf der Welt verteilt. Die eiförmigen, faustgroßen Gebilde waren vollgepackt mit den genetischen Besonderheiten ihrer Art. Sobald ein Mensch damit in Kontakt kam, würde er dieser fremden Macht erliegen und in deren Willen handeln.«
»Und?«, fragte der Russe, »hat die Blaue Königin der Roten geholfen?«
Die Amerikanerin schüttelte vehement mit dem Kopf.
»Nein. Der Fanatismus der Roten Königin widerstrebte Miriam. Gerade weil sie die Gabe hatte, ihre ursprüngliche menschliche Erscheinung anzunehmen, war in ihr das Mitgefühl für die Menschen erhalten geblieben.
Miriam entschied sich gegen ihre eigene Art und versuchte die Rote Königin aufzuhalten. Als der Kampf der beiden Königinnen begann, wurden sie von einem Angriff der Menschen überrascht. Denn, wie es die Rote Königin vorausgesehen hatte, waren die Menschen der Blauen Königin gefolgt. Sie führten einen vernichtenden Angriff gegen das Versteck der Roten Königin. Diesen Angriff überlebten nur die beiden Königinnen und Oleg, eine von Miriams männlichen Drohnen.
Geschwächt, aber nicht besiegt, stellte sich Miriam der Roten Königin erneut im Kampf und tötete sie.
Die Blaue Königin und Oleg waren nach dieser Schlacht die einzigen noch lebenden ihrer Art.
»Was für eine fantastische Geschichte«, sagte der russische Wissenschaftler und nahm den Helm seines Schutzanzugs ab. Das Objekt war sicher in dem Metallzylinder verstaut und es drohte keine Gefahr mehr.
Grinsend zündete er sich eine Marlboro an.
»Sie rauchen - hier?«
»Warum nicht, draußen ist es kalt. Also, was ist mit der Kleinen - wo ist sie jetzt?«, fragte er.
»Oh, die Geschichte geht noch etwas weiter«, sagte die Frau:
»Weiterhin von den Menschen gejagt, entschloss sich Miriam, den Kampf gegen die Brut der Roten Königin aufzunehmen. Denn obwohl die Stimme der Roten Königin für immer verstummt war, lagen deren Datenkapseln überall auf der Welt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ein neugieriger Mensch danach griff und deren Macht verfiel.
Bei diesem Kampf starb Oleg - Miriams einzige verbliebene Drohne. Er stellte sich einer Gewehrkugel in den Weg, die für Miriam bestimmt war. Nun war Miriam das einzige Geschöpf ihrer Art.
Doch die Menschen erkannten, dass Miriam immer dann auftauchte, wenn irgendwo auf der Welt ein Mensch in Kontakt mit der Brut der Roten Königin gekommen war. Sie erkannten auch, dass diese Blaue Königin den betroffenen Menschen half. Miriam konnte die Mutation unter gewissen Umständen umkehren und die Menschen heilen. Allerdings sprach Miriam nie von einer Heilung, denn es handelte sich nicht um eine Krankheit – eine Krankheit bedeutete Leid und Sterben. Menschen, die mit den außerirdischen Genen in Kontakt kamen, klagten nie, dass es ihnen schlecht gegangen wäre. Oft wehrten sie sich zu Beginn sogar gegen Miriams Hilfe.
Miriam war Anfang zwanzig, als sie zum unentbehrlichen Mitglied einer Spezialeinheit wurde, die immer dann auftauchte, wenn irgendwo auf der Welt etwas Ungewöhnliches passierte. Die Menschen und Miriam bekämpften das Erbe der Roten Königin fortan gemeinsam. Und obwohl die Regierungen und Geheimdienste permanent damit rechneten, dass Miriam ihre Meinung ändern könnte, um selbst die Weltherrschaft anzustreben, wurde sie zum Star unter den Soldaten, die mit ihr zusammenarbeiteten.
Wer einmal mit ihr auf Mission war, der sah sie in einem anderen Licht. Wer die junge Blondine dabei beobachtete, wie sie stundenlang mit traurigen Augen nachdachte, der wusste vom Zusehen, was Einsamkeit bedeutete.
Und wem sie sich in ihrer wahren Gestalt zeigte, wenn sie in Stimmung war, der bekam glasige Augen bei der Erinnerung an die schönen Stunden.
Obwohl für alle Beteiligten die höchste Geheimhaltungsstufe galt, kursierten bald Mythen und handfeste Geschichten um die Blue Queen.
Unter der Hand wurden Dinge erzählt, die einem Seemann die Schamesröte ins Gesicht trieben. Denn die Blue Queen, deren Existenz von öffentlichen Stellen stets dementiert wurde, hatte auch ihre guten Tage, und dann gab es noch die sehr guten Nächte ….
Miriam war 25 Jahre alt, als die Meldungen über Alienaktivitäten stetig abnahmen. In manchen Monaten stand kein einziger Einsatz an. Es schien, als sei die Brut der Roten Königin besiegt.
Trotz der Freude über die gebannte Gefahr kam es Miriam vor, als wäre sie am Ende einer langen Reise, in der endgültigen Einsamkeit angekommen.
Zu was war eine blinde Königin noch nutze, wenn sie den Menschen nicht mehr helfen konnte – wenn sie nicht mal mehr zur Bekämpfung ihrer eigenen Art benötigt wurde?«
»Was ist aus ihr geworden?«, fragte der russische Wissenschaftler. Die Amerikanerin machte eine abfällige Handbewegung.
»Der Deal war ähnlich wie bei den Fremdenlegionären: Sie hatte die letzten Jahre weltweit wertvolle Arbeit geleistet. Als Dank bekam sie die Möglichkeit, ein neues Leben zu beginnen, sofern sie sich wie ein Mensch verhalten würde. Sie hatte eine zweite Chance als Mensch unter Menschen bekommen.«
»Und die Königin hat diesen Deal angenommen?«, fragte der Russe verwundert.
»Ja, Miriam ist seit ein paar Monaten offiziell im Ruhestand. Sie fand, nach anfänglichem Zögern, Gefallen an der Vorstellung, ein normales Leben zu führen. Normal - dieses Wort klingt in ihren Ohren wie ein Abenteuer, müssen sie wissen.«
»Aber sie wird uns bei der Erforschung dieser Datenkapsel sicher helfen, oder?«
»UNS wird sie schon einmal gar nicht helfen«, stellte die Amerikanerin klar und verstaute den Edelstahlbehälter in einem Aluminiumkoffer.
»Aber der Fund ist Eigentum der Russischen Föderation«, warf der Russe ein.
»Nein, die Datenkapsel ist Eigentum des Konzerns, der die Schürfrechte in diesem Gebiet erworben hat, und dieser Konzern möchte so wenig Aufsehen wie möglich um die Sache machen. Sie und ihre Kollegen haben die Grabungen lange genug aufgehalten. Und die kurzen Sommer sind in dieser Gegend kostbar, wenn man Bodenschätze sucht.«
»Aber …«, sagte der Wissenschaftler und wurde barsch unterbrochen.
»Ich habe die Datenkapsel gekauft, schon bevor ich mich von der Echtheit überzeugen konnte, und ihnen rate ich, sich nicht weiter mit diesem Vorfall zu beschäftigen!«
*** 01 Miriam - back in black ***
Miriam stand am Tresen im Kundenzentrum des Rathauses und beobachtete den Kommunalbeamten, wie er den Computer in Zeitlupe bediente. Die Klimaanlage war so kalt eingestellt, dass sich ihre Brustwarzen gegen das bauchfreie Top drückten, was sie im Anbetracht der Situation nicht wirklich erheiterte. Sie verschränkte die Arme und versuchte, sich in Geduld zu üben. Miriam wackelte mit ihren eiskalten Fußzehen und wippte auf den hohen Absätzen ihrer Riemchensandalen – wer trägt im Hochsommer schon Socken?
»Stimmt etwas nicht?«, fragte sie dann doch, und erntete einen ernsten Blick.
»Wir haben ein neues Computerprogramm«, kam als Antwort.
»Dann müsste es doch eigentlich schneller gehen?«
»Nein.«
Miriam rieb sich über die Arme, auf denen sich eine Gänsehaut gebildet hatte, und bereute es, ein bauchfreies Oberteil angezogen zu haben. Sie machte sich ernsthaft um ihre Nieren Sorgen. Noch mehr Sorgen machte sie sich aber über die Aushändigung ihres Personalausweises und des Reisepasses.
Die Dokumente waren angeblich fertig und könnten abgeholt werden, aber der Sachbearbeiter zögerte die Sache dermaßen in die Länge, dass Miriam ins Grübeln kam.
‚Die wollen mich hier einfrieren und dann wieder in einem Labor einsperren‘, schoss ihr durch den Kopf, und sie zwang sich zur Ruhe. Sie hatte schon so viel Zeit in Laboren verbracht, ihr wurden so viele Proben entnommen, es wurden so viele Tests durchgeführt – was sollte man bei ihr noch Neues entdecken?
»Ey, ich bin jetzt auch deutsch, weisdu!«, rief ein südländischer Typ am Schalter nebenan in sein Handy und wedelte mit einem Reisepass.
Der für Miriam zuständige Beamte lächelte gequält und schenkte ihr einen vertrauensvollen Blick, der ihr signalisierte, dass er sie als Eingeborene einstufte, was auch richtig war.
Miriam war in Deutschland geboren, ihre alten Dokumente waren lediglich durch einen dummen Zwischenfall abhandengekommen. Als indirekte Konsequenz daraus war sie in den letzten Jahren überall auf der Welt zu Hause und sammelte auch ohne Reisepass mehr Flugmeilen als mancher Außenminister.
»So, Sie müssen dann bitte hier und hier den Empfang bestätigen«, sagte der Beamte und schob die Dokumente über den Tresen.
»Ey, ich bin jetzt auch deutsch!«, flüsterte Miriam als Persiflage auf den Freudentaumel am Nachbarschalter und lachte den Mann so herzlich an, dass er sich der Heiterkeit nicht erwehren konnte und zurück lächelte.
Während Miriam das Gebäude verließ, steckte sie ihre Dokumente in die Handtasche und fragte sich, ob das alles gewesen sein sollte. Dafür, dass sie vor einigen Jahren gejagt wurde, wie ein Topterrorist, um anschließend die Schlüsselfigur bei der Rettung der Menschheit zu sein, hätte man das feierlicher gestalten können. Na ja, die Menschen hätten die Verteidigung ihres Planeten wahrscheinlich auch ohne ihre Hilfe geschafft, aber zu welchem Preis?
Für den Beamten war es ein schlichter, bürokratischer Akt. Offiziell hatte Miriam ihre persönlichen Dokumente ja nur verloren.
*
Auf dem Rathausplatz wallte Miriam die sommerliche Hitze entgegen, das war ihr angenehmer, als die unterkühlten Räume des Rathauses. Es war mindestens so heiß wie in der Sahara: Die Luft flimmerte über den Straßen der Innenstadt. Wer konnte, blieb im Schatten oder in einem klimatisierten Gebäude, um der drückenden Hitze zu entkommen.
Miriam schlenderte über die Gehsteige und wendete sich der Sonne zu. Das Licht war trotz der übergroßen Gläser ihrer Sonnenbrille unangenehm grell. Sie hielt ihre Hand über den Kopf, um die Augen zu beschatten, und genoss die Wärme auf ihrem Gesicht.
Mit Wärme kam sie deutlich besser klar, als mit Kälte. Miriam hätte sich auch ein Leben in einer Äquatorregion vorstellen können, aber da waren ihr die Regierungen zu instabil, oder die Religionsauffassungen zu kompliziert, und die USA wollten ihr kein dauerhaftes Bleiberecht geben.
Sie entschied sich für Deutschland, hier war sie aufgewachsen, hier würde es ihr am leichtesten fallen, Mensch zu sein.
Ein mehrmals aufheulender Motor erregte ihre Aufmerksamkeit: die schwarze Dodge Viper, tief, breit, mit getönter Heckscheibe, stand vor einer roten Ampel und wurde von ihrem Fahrer im Leerlauf auf mittleren bis hohen Drehzahlen gehalten.
Sie ging zwei Schritte auf ihren hohen Riemchensandalen, neigte den Oberkörper vor und schaute den Fahrer durch die Scheibe der Beifahrertür an. Der zarte weiße Stoff des bauchfreien Tops schmiegte sich an die Konturen ihrer Brüste, die durch ihre Körperhaltung einladend auf Höhe des Wagenfensters prangten.
Der Fahrer bemerkte sie und ließ das Gaspedal in Ruhe.
»Und was gab es noch zum Geburtstag?«, fragte Miriam nach dem Öffnen der Beifahrertür. Sie führte das erste ihrer langen Beine in den Fußraum und nahm neben ihm Platz. Die schwarze Lackhose im Stil einer Jeans spannte sich eng und glänzend über ihren Po und die Oberschenkel. Unterhalb der Knie ging das Material in einen Bootcut über.
»Oh, Ledersitze«, stellte sie fest, zog das zweite Bein nach, schloss die Beifahrertür und schob ihre Sonnenbrille über die hohe Stirn in die leicht gewellten Haare.
Tiefgrüne Augen, wach und intelligent, umrandet von schwarz getuschten Wimpern, blickten den Fahrer an, der die Szene bisher wie ein teilnahmsloser Zuschauer beobachtete. Ihr Blick zog ihn ins Geschehen, signalisierte: „Ich sehe dich!“
In einer ersten langsamen Bewegung richtete er sich aus seiner bequemen Sitzhaltung auf und bemühte sich um Lässigkeit. Er starrte auf ihren Bauch: Der handbreite Streifen nackte Haut, zwischen Hose und Top, wellte sich leicht – Speckrollen sahen anders aus.
Er hob den Kopf, um sich Miriams Blick zu stellen.
»Grün«, sagte sie zu ihm. Er nickte verträumt. Sie schüttelte den Kopf.
»Ich meine die Ampel, die ist grün.«
Die 335 Pferde unter der Motorhaube ließen sich nicht abwürgen, kamen aber ins Stolpern.
Auf der Kreuzung quietschten die Reifen, als der Wagen eine scharfe Rechtskurve machte, um in eine schmale Seitenstraße abzubiegen. Nach einigen Metern lenkte er das Auto in eine freie Parklücke, in den Schatten einer großen Platane.
*
Zehn Minuten später rollte die Dodge Viper leise fauchend aus der Seitenstraße und kam wenige Meter vor dem Haupteingang des naturkundlichen Museums zum Stehen – zu Fuß wäre es schneller gegangen.
Miriam frischte ihren dezenten Lipgloss auf, schielte frech zu der offenen Hose des Fahrers und sagte: »Danke.«
»So geil bin ich schon lange nicht mehr gekommen«, murmelte er mit entrücktem Blick.
»Du bist generell schon lange nicht mehr gekommen.«
»Woher weißt du das?«
Sie hielt sich ihre nach oben gereckten Zeigefinger an die Stirn und winkte damit in seine Richtung:
»Ich habe Antennen für so was.«
In einer schwerfälligen Bewegung zog er sein Portemonnaie aus der Gesäßtasche.
»Handwerk hat goldenen Boden, sag ich immer … das Schlucken kostet bestimmt extra …«
»Ich will dein Geld nicht, du hast mir bereits gegeben, was ich wollte«, sagte Miriam mit einem mitfühlenden Lächeln.
Der Knall der zuschlagenden Autotür ließ ihn erschrocken aufblicken. Da saß er nun mit seinem Geld und verstand die Welt nicht mehr.
***
Miriam eilte die Treppen zum naturkundlichen Museum empor und löste eine Tageskarte. Ihre Absätze hallten auf dem Steinboden des Saals und wurden als Echo von der gewölbten Decke reflektiert. Sie blieb vor einem Dinosaurierskelett stehen, steckte ihre Sonnenbrille in die Haare und ließ den Raum auf sich wirken.
Mit wuchtiger Gelassenheit trotzten die Sandsteinmauern der Großstadthektik und der Hitze des Sommers. Sie nahm die Ruhe der Umgebung in sich auf und folgte mit ihrem Blick der Wirbelsäule einer Riesenechse.
»So sieht das aus, wenn man im Ruhestand ist«, sprach sie zu sich selbst.
Sie ging mit bedächtigen Schritten in den westlichen Gebäudeflügel und durchlief die Räume, ohne den zahlreichen Exponaten besondere Aufmerksamkeit zu schenken.
Erst ein Steinbrocken, der ein Meteorit sein sollte, weckte ihr Interesse. Sie blieb stehen und betrachtete die zerklüftete Oberfläche.
'Bitte nicht berühren' stand auf einem Schild.
Miriam blickte sich um. Sie war alleine – ihre Finger ertasteten die kalte, tote Oberfläche wie ein Blinder, der mit den Händen sehen wollte.
Ihre Konzentration schlug in Enttäuschung um, sie ließ die Hand sinken und lief mit galantem Hüftschwung weiter durch die fast menschenleeren Flure. Sie fand den großen Raum, der Charles Darwin gewidmet war, trat ein, und schaute sich um.
An der gegenüberliegenden Wand war er: „Der Baum der Evolution“, ein übergroßes Wandgemälde mit einem stilisierten Baum. Miriam nahm auf einem Podest aus schwarzen Spanplatten in der Mitte des Raums im Schneidersitz Platz und versuchte, das Bild in seiner Gesamtheit zu erfassen.
Bei den ersten Einzellern beginnend, rankte sich der Stamm empor und gabelte sich mehrfach. Sie folgte den Wirbeltieren, den Warmblütern, den Säugetieren und schließlich, auf einem kleinen Ästchen, saßen die Primaten. Homo sapiens war übertrieben groß dargestellt, als wäre er das Oberhaupt dieser Gruppe.
Miriam schaute sich in dem Raum um: Ja, wahrscheinlich war Homo sapiens so etwas wie ein Oberhaupt. Schimpansen stellten ihre Vorfahren zumindest nicht in Glasvitrinen aus. Mit einem erleichterten Seufzen ließ Miriam den Blick zurück zu dem Gemälde schweifen.
‚Eigentlich kommt man mit ihnen ja ganz gut aus‘, dachte sie, als sie hinter sich eine Bewegung ahnte.
»Ganz schön blöd«, sagte eine Männerstimme. Sie schaute über ihre Schulter und sah einen jungen Mann in Jeans, T-Shirt und mit liebevoll verstrubbelten Haaren.
‚Hat er mich überhaupt gemeint?‘, fragte sich Miriam.
»Ganz schön blöd«, wiederholte er, »so ein großes Museum, und dann nur ein Bild in der letzten Ecke.«
Miriam konnte sich ihre schüchterne Ratlosigkeit nicht erklären, ihr fiel einfach keine sinnvolle Antwort ein. Sie lächelte verlegen.
Er nahm, eine Armlänge von ihr entfernt, auf dem Podest Platz.
»Kaffee oder Tee?«, fragte er.
Miriam neigte den Kopf fragend zur Seite und schwieg grinsend, bis er den Kopf drehte und ihren Blick erwiderte. Sanftes Braun traf auf tiefes Grün.
»Oh, mein Gott!«, sagte er und schluckte sichtbar, »habe ich dich angesprochen?«
»Ja.«
»Ich dachte, ich stehe noch dort hinten an der Säule und denke über einen lockeren Spruch nach.«
»Du dachtest, dass du denkst?«, fragte sie mit leiser Mädchenstimme.
»Ja, Mist: ich dachte, dass ich denke … «, gab er kleinlaut zu und ließ den Kopf gespielt enttäuscht hängen.
»Ist schon o. k.«, sagte Miriam und zeigte an dem Baum der Evolution auf den Zweig der Primaten, »Du gehörst ja rein biologisch zu den denkenden Vertretern deiner Ordnung.«
Sie klang wie ein Schulmädchen bei der mündlichen Prüfung und warf ihrer Aussage ein entschuldigendes Lächeln hinterher.
Er blickte sie mit heruntergezogenen Augenbrauen und vorgeschobenen Lippen an, zeigte auf sich und sprach mit der rauen Stimme eines Höhlenmenschen:
»Ich Sven und du?«
»Miriam«, sagte sie lachend und strich sich die Haare in einer charmanten Geste hinters Ohr. Schweigend blickten Sven und Miriam auf das Gemälde, ohne es zu beachten. Scheue Seitenblicke wichen sich gegenseitig aus. Verlegenes lächeln, wenn der eine den anderen ertappte.
Miriams Neugier an Sven wuchs durch das, was er nicht tat: sie mit gierigen Augen anstarren.
Die strubblige Kurzhaarfrisur war nicht das Ergebnis einer unruhigen Nacht, sondern sorgsam gepflegtes Chaos, oberhalb eines sanft gezeichneten Gesichts. Einem Gesicht, dem für Miriams Geschmack, ein paar Jahre Lebenserfahrung fehlten. Miriam hätte aufstehen und gehen können, aber sie saß einfach da und schaute ihn an. Entweder war er sich nicht im Geringsten darüber bewusst, was er gerade tat, oder er war mit allen Wassern gewaschen – aber dafür sah er zu jung aus.
Sven drehte den Kopf in ihre Richtung und grinste verwegen. Erwischt!
Miriam hatte ihn einen Moment zu lange verträumt angeschaut und das Spiel der Blicke verloren. Ihr blieb nichts anderes übrig, als die Niederlage schmunzelnd einzugestehen, den Blick auf den Boden zu richten und ihr Gesicht hinter einem Vorhang aus langen blonden Haaren zu verbergen.
»Du bist gut«, sagte er mit der gönnerhaften Überlegenheit des Siegers.
Miriam löste den Schneidersitz auf, streckte ihre Beine nach vorne und ließ sich von dem Podest rutschen.
»Du auch«, hauchte sie und lief an ihm vorbei.
»Sehen wir uns wieder?«
Miriam blieb stehen und peilte ihn durch ihre herabhängenden Haare an: »Vielleicht.«
*
‚Was für eine Figur!‘, dachte sich Sven und schaute den langen Beinen so lange nach, bis sie aus seinem Blickfeld verschwanden. Der Hall ihrer Absätze wurde leiser und er atmete erleichtert aus.
Er ging bei ihrem Aussehen und dem selbstbewussten Outfit davon aus, dass sie ihn durch die Nase einsaugen, durchkauen und dann herablassend in die Ecke spucken würde. Und in diesem Fall hätte er die Abfuhr als Gewinn verbucht: eine bittersüße Lehre für die Eroberung zukünftiger Ex-Freundinnen.
Stattdessen war sie schüchtern wie eine Klosterschülerin, und so süß, dass es ihm fast leidtat, sie mit seinen blöden Sprüchen aus ihrer heilen Welt gerissen
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Kommentare
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Ich bin gespannt. :)«
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Leichtgewicht
da lese ich garantiert weiter«
Kommentare: 2
Vielen Dank für ein wunderbares Comeback. Ich habe lange auf neue Geschichten von dir gewartet, dass du nun ausgerechnet meine Lieblingsserien fortsetzt ist das Sahnehäubchen auf dem Kuchen. Nochmals: Vielen Dank für wunderbares Kopfkino.«
Kommentare: 15
Diese Geschichte gab mir Anlass doch von Anfang an zu lesen - Mutation + Remutation.
Wobei ich die 2. inhaltlich besser fand - auch wegen des netten Endes.
Ich bin gespannt wie sie dies hier weiter entwickelt.
Daumen hoch !«
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Wie geht es weiter mit der Titelheldin ??
Vom ersten Moment an gefangen in der Story / Plott ....
Viiiiiiiiiiiiiiiiiiel Information im ersten Teil, aber das zahlt sich sicherlich in den späteren Folgen aus diese nicht zu überlesen ;o))
Jetzt schon gespannt auf die bereits veröffentlichten 10 weiteren Teile
Grosses Lob und Anerkennung an die Autorin
Da weiß jemand eine Fangemeinde zu fesseln, Danke Faith !
Bitte weiter so und mehr davon !«
Kommentare: 99