1902 - Das Landgut - Teil 2
von Angelika
2. Kapitel - Ein langer Weg
Schon früh legte sich die Dämmerung über das nun schnell kühler werdende Land. Vor mir lagen noch drei Stunden strammer Fußmarsch bis zum Guthaus Pöhlen. Diese anstrengende Stecke würde ich heute nicht mehr schaffen. Mir war kalt und ich war erschöpft. Jeder Schritt fiel mir schwer und ich lief wie in Trance. Ich hörte im Unterbewusstsein einen leichten Pferdewagen hinter mir nahen und machte vorsichtshalber Platz. Ein feister Mann in seiner Kutsche, der Kleidung nach, ein gut betuchter Pferdehändler, fuhr eine Weile neben mir im Schritttempo her. Er betrachtete mich intensiv, wie ich im Straßengraben nebenher lief. Das gleichmäßige Klappern der Hufe auf dem harten Pflaster der Landstraße machte mich nervös.
"Junge holde Frau, so spät noch unterwegs? Kann ich Sie ein Stück des Weges mitnehmen?", sprach mich der Fremde zwinkernd an.
Einer jener typischen Rosstäuscher, vor denen mich mein Vater schon von Kindheit an gewarnt hatte, denn sie galten als Betrüger und waren meist in Begleitung schlechter Gesellschaft.
"Nein, danke!" Ich schüttelte vehement den Kopf und sah ängstlich weg.
"Dann halt nicht!", der Mann gab seinem Pferd die Peitsche und die Kutsche verschwand recht schnell vor mir in der Dämmerung. Ich war erleichtert.
Rasch wurde es nun stockdunkel. Ich konnte nicht mehr und traute mich nicht in der Dunkelheit meinen Weg fortzusetzen. In der einsetzenden Dämmerung am späten Nachmittag sah die Welt schon ein bisschen anders aus als bei Tageslicht, aber nun hatte sie sich total verändert. Der volle Mond beleuchtet die Landstraße gespenstisch mit seinem fahlen Licht. Die restliche Umgebung um mich herum war im Schwarz der Nacht verschwunden. Selbst ein noch so leises Rascheln im Gebüsch oder das sanfte Knacken von trockenen Ästen im Wind machte mir nun Angst.
Etwas abseits am Rande der Landstraße entdeckte ich eine alte verlassene Scheune. Dort wollte ich die Nacht verbringen. Schnellen Schrittes eilte ich zu dem windschiefen Gebäude. Dessen Holztor lies sich leicht öffnen und ich sah vorsichtig durch den Spalt. Bis auf ein wenig Stroh und Heu war der Raum leer, also schlüpfte ich hinein. Drinnen war ich wenigstens vor dem eisigen Wind geschützt. In dem dunklen Gebäude wirkten die Geräusche allerdings noch viel unheimlicher. Ich verschloss das Tor und verkroch mich in der hintersten Ecke der Scheune. Dort versteckte ich mich, so gut ich konnte. Ich rollte mich in den alten Wollumhang meiner Mutter. Da mir eiskalt war, bedeckte ich mich zusätzlich mit Heu. Übermüdet und hungrig fiel ich in einen tiefen Schlaf.
Plötzlich ließen mich Stimmen aufwachen. Ein eisiger Luftzug durchwehte die Scheune. Es war wohl gegen Mitternacht. Ich blinzelte aus meinem Versteck und sah einen kräftigen, offensichtlich stark angetrunkenen Mann und eine verlebte Frau im Gegenlicht des offenen Scheunentors. Die Frau zog die Tür hinter sich zu und entzündete eine Kerze, die sie auf einen alten Hackklotz befestigte. In dem flackernden Licht erkannte den unangenehmen Pferdehändler von vorhin und verhielt mich ganz still.
"Hör auf jetzt, mehr gibt’s für dich nicht!", sagte die Frau ärgerlich.
"Auf, jetzt stell dich halt nicht so an!"
Ich beobachtete, wie grobe Hände die reife Frau unsanft gegen die Bretterwand genau neben meinem Versteck drückten. Sie spürte wohl die rauen Balken im Rücken, denn das verwitterte Holz scheuerte sichtbar an ihrer Kleidung.
Der ausgeprägte Bauch des Rosstäuschers presste sich fest gegen die Frau. Sie schob mehrmals erfolglos den Oberkörper des bulligen Manns von sich weg, was er in seinem Rausch wahrscheinlich nicht einmal bemerkte. Sein Mund saugte lüstern an ihrem Hals, eine Hand vergrub sich ungeschickt in deren Mieder. Ungepflegte Fingernägel kratzten über die Haut ihrer welken großen Brüste und zerrten diese unsanft aus dem Ausschnitt.
Sie standen keinen Meter entfernt von mir weg. Ich traute mich nicht zu atmen und war muckmäuschenstill. Gott, wie der Mann stank! Wie versteinert lag ich versteckt im Heu. Ein Bild kam in mir hoch. Erinnerungen an Hamburg. Ein anderer Kerl, anderer Mund, andere Hände, die gleiche Situation. Ich drängte das Bild zurück in die Vergangenheit, aus der es emporgekrochen war und schloss kurz vor Angst die Augen.
Als die andere Hand des Rosstäuschers anfing, ihren Rock in die Höhe zu raffen, schlug die Frau ihm entschieden auf die Finger.
"Ich hab’ gesagt, jetzt ist Schluss!"
Sie wollte sich aus seinem Griff winden. Er hielt sie allein schon mit seiner Wampe an Ort und Stelle.
"Komm schon. Gib dich nicht so prüde." Er lallte so, dass die Frau ihn kaum verstand. "Kriegst noch einen Taler obenauf, wenn ich darf."
"Du hast schon mehr gehabt als vereinbart!"
Wahrscheinlich hätte die reife Frau ihn einfach weitermachen lassen sollen. Die Chancen, dass er beim Versuch, seinen Hosenstall aufzuknöpfen, das Gleichgewicht verlor, umkippte und auf dem harten Boden im Schuppen einschlief, standen nicht einmal schlecht. Und selbst, wenn nicht, zwei Reichstaler waren viel Geld für die Frau, und es war ja nicht, als ob es für die reife Frau etwas Neues gewesen wäre, mit einem von den Gästen des Wirtshauses im alten Schuppen hinter dem Wald zu verschwinden.
Mir wurde fast schlecht. Wenn der Mann nur nicht so entsetzlich gestunken hätte! Nach altem Schweiß, nach ranzigem Fett, nach billigen Zigarren, nach Schnaps und nach Bier. Insbesondere nach viel Bier. Dazu das faulige Stroh auf dem Boden. Der Mann stank, wie die Freier in Hamburg zumeist gestunken hatten.
Der Mann hatte mit Mühe seine Hose nun doch öffnen können und sein hartes Glied ragte empor. Er onanierte hektisch während er die Frau mit ihren großen, obszön heraushängenden schlaffen Brüsten wieder an die Wand drückte. Er begrabschte die teigigen Brüste und saugte schmatzend an den Brustwarzen, bis diese groß und hart wurden. Dabei keuchte er brunftig und rieb sein schon zuckendes Glied an der Hüfte der Frau. Man sah der Frau an, dass sie sich nicht von ihm nehmen lassen wollte. Allein schon die Berührung seines harten Penis, der im Übrigen genauso unangenehm wie der Rest roch, löste bei ihr Ekel aus. Dieser Gedanke gab der kleineren Frau die Kraft, den bulligen, onanierenden Mann trotz dessen Gewichts gerade noch reichzeitig vor dessen Erguss von sich wegzustoßen.
"Feierabend, Schluss und aus!", wiederholte die reife Frau, "dann kriegst halt gar nichts. Ich brauch dein Geld nicht."
Er taumelte, stolperte fast rückwärts über einen alten Melkschemel, hielt sich aber auf den Beinen. Dabei spritzte sein Sperma in weitem Bogen in das Stroh auf dem Boden.
"Ist eh zu spät jetzt, die 6 Mark kannst du abschreiben, du blöde Kuh!"
Der Pferdehändler wollte sich wütend zum Scheunentor umdrehen, torkelte dafür aber zu stark. Sein Körpergewicht zog ihn immerhin in die richtige Richtung. Nur der stabile Rahmen des Tors verhinderte, dass er hinfiel.
"Was meinst denn du, was du für eine bist? Erst scharf machen und dann die Biedere spielen! Wart nur ab!"
Beim zweiten Versuch gelang es ihm, den Riegel zurückzustoßen und das Tor aufzureißen. Er taumelte mit heraushängendem, noch tropfendem Penis in die dunkle Nacht hinaus.
"Probier es künftig nüchtern und wasch dich vorher!«, rief ihm die Frau wütend hinterher, "und einen schönen Gruß an die Frau Gemahlin!"
Sie wischte sich mit dem Handrücken das Gesicht; dann schob sie ihre Röcke wieder zu Recht und ließ sich einen Moment auf den Schemel sinken, um in Ruhe ihre Bluse wieder über die Schultern emporzuziehen, die Brust zu verstauen und sich das Mieder zuzuknöpfen. Danach verschwand auch sie in die Nacht. Nach diesem Erlebnis konnte ich nicht mehr einschlafen. Die ganze restliche Nacht starrte ich ängstlich auf das noch halb geöffnete Scheunentor, bis es draußen langsam hell wurde. Dann fiel ich in den Schlaf.
Das leise Läuten einer Kirchenglocke aus weiter Ferne lies mich aufwachen. Ich zählte die Schläge. Es war genau elf Uhr. Zum Tor herein krochen die hellen Strahlen des mittäglichen Sonnenlichts. Ich raffte mich auf, um mich auf den Weg zu machen. Drei Stunden musste ich in jedem Fall heute noch durchhalten.
* * *
Die Nachmittagssonne eines klaren Wintertages lag auf dem alten großen Herrenhaus in Pöhlen. Ihre hellen Strahlen ließen die weiß getünchten Mauern des herrschaftlichen Anwesens schon von weitem sichtbar erleuchten. Glückliche Kindheitserinnerungen kamen in mir hoch. Ein starker kalter Ostwind war aufgekommen und rauschte in den alten Bäumen der langen Allee zum Haus. Vor meinem Gesicht wirbelte welkes Laub durch die Luft. Ein frostiges Zittern durchfuhr meinen Körper. Ich fasste meinen alten Koffer fester und beschleunigte meine Schritte. Ich hatte es fast geschafft.
Je näher ich jedoch dem Anwesen kam, desto rascher verschwand die Sonne hinter dunklen Wolken, die immer schneller herangezogen kamen und auch den letzten hellblauen Fleck am Himmel bedeckten. Wie öde und unfreundlich kam mir mit einem Mal die Landschaft vor. Gerade hatte ich im sonnenhellen Licht noch so erfreut gelächelt, nun sah es so trübselig wie draußen auch in meinem Innern aus. Die Schritte fielen mir schwer. Mir war eiskalt und etwas schwindelig, was ich auf meine Übermüdung zurückführte. Ich hielt mich an der mächtigen Pforte fest und betrachtete nachdenklich das Haus.
Das große alte Gutshaus, dessen Wurzeln schon bis zum Mittelalter reichten, war von Großonkel Ernst im Jahre 1880 modernisiert und umgebaut worden. Es war ein imposanter, hell verputzter Ziegelbau mit einem Schieferdach und der Vorderfront nach Süden, der seine kleinen Geheimnisse barg, wie ich in Kindheitstagen schon erforscht hatte. Das Untergeschoss lag nur zum Teil in der Erde, besonders an der Südseite, wo die Auffahrt aufgeschüttet worden war. Im Untergeschoss lagen die Wirtschaftsräume. Die Küche, Speisekammern, Großonkels Weinkeller und der Obstkeller, wo ich als Kind oft Äpfel mopste, wenn das Fenster zum Lüften geöffnet war. Außerdem waren dort die Schlafzimmer für die Köchin, für die Hausmädchen und das Esszimmer für das einfache Personal. Darunter lag der gruselige dunkle Eiskeller.
Ehrfürchtig ging ich langsam weiter. Was mich hier erwarten würde, wusste ich nicht und ich befürchtete, hier nicht sonderlich froh werden zu können. Die Freiheit, die ich in Hamburg hatte, würde ich hier auf dem Land schmerzlich vermissen. Beim Gedanken an Martha rann mir eine Träne über die Wange, und ich richtete rasch meinen Blick auf vor mir liegenden Weg. Mein Atem schlug an. Ich fasste meine wenigen Sachen fester mit der Hand. Meine Füße waren schwer und eiskalt. Ich fühlte mich krank und erschöpft. Im Hof knirschte der Kies unter meinen unsicheren Tritten und laute aufgeregte Stimmen aus dem Haus wurden hörbar. Man hatte im Haus mein Kommen wohl bemerkt.
An diesem inzwischen düsteren Nachmittag flogen die schweren Flügeltüren des herrschaftlichen Hauses weit auf. Herr Granzow, der langjährige Gutsverwalter meines Großonkels trat auf die Freitreppe vor dem Haus. Er hatte sich nach all den Jahren kaum verändert, trug immer noch seine schwarzen hohen Reitstiefel und stand wie früher schon in Feldherrenpose auf der großen Treppe. Es dauerte eine ganze Weile, bis er mich endlich erkannte. Dann drehte er sich schlagartig um.
"Herr Baron, Herr Baron! Schauen sie, wer gekommen ist!", rief er aufgeregt hinein ins Haus.
Der alte Baron trat Sekunden später würdevoll vor die Tür. Zuerst sah er mich nur fragend an, dann eilte er die strahlend Freitreppe herunter. Die Freude bei meinem Großonkel war enorm. Herzlich umarmte er mich.
"Mädchen, was bist du gewachsen! Agnes, lass dich mal anschauen. Eine richtige Frau bist du geworden! Ganz wie deine Mutter!", sagte er herzlich und bat mich, jenes verfrorene, ärmlich gekleidete Mädchen sogleich ins Haus.
Verloren stand ich in der großen Halle. Die Müdigkeit sprang mich an wie ein Tier. Seit Stunden war ich heute auf den Beinen, meine Füße spürte ich kaum noch.
Er wies das Personal sofort an, mich in jenes kleine Gästezimmer im Obergeschoss einzuquartieren, das ich schon aus Jugendzeiten kannte. Dies erinnerte mich unmittelbar an früher. Da das Zimmerfenster direkt über dem Osteingang lag, hatte ich damals immer das Knirschen im Kies hören können, wenn Herr Granzow frühmorgens zur Arbeit erschien oder die Mädchen von heimlichen amourösen Ausflügen nachts wieder ins Haus geschlichen kamen. Diese vertrauten Geräusche sind mir bis heute in Erinnerung geblieben.
Aber ich dachte auch sofort an den alten nasskalten gruseligen Eiskeller. Der war sehr wichtig, zwar hatte Gut Pöhlen schon einen Eisschrank, aber für diesen großen Haushalt genügte das nicht. Im Winter wurde Eis auf dem Gartenteich oder in den Dorfteichen in Blöcke gesägt und im Eiskeller aufgestapelt. In der großen Masse schmolz es dort nur sehr langsam und hielt über das ganze Jahr. Wenn der Gutsverwalter einen Rehbock oder Hasen geschossen hatte, wurden sie in diesem Keller aufgehängt. Als Kind hatte ich mich mal in jenen Keller verirrt und hatte dort eine Heidenangst, zumal ich gehört hatte, dass ungehöriges Personal zur Strafe dort auch manchmal splitternackt eingesperrt oder gezüchtigt wurde. Ich kann mich allerdings auch noch gut daran erinnern, dass für besondere Festtage im Eiskeller auch Speiseeis hergestellt wurde. Plötzlich wurde ich aus meinen Gedanken gerissen.
Eine Tür auf der anderen Seite des Flurs öffnete sich knarrend und man hörte schneidende Gespräche. Eine gestandene Frau mit einem verkniffenen Gesicht, einer überquellenden Aktenmappe in der Hand und eleganter schwarzer Kleidung starrte mich von der Tür des Arbeitszimmers aus abschätzend an. Sie war nicht dick, aber drall, trug ein viel zu tiefes Dekolleté, aus dem ein enormer Busen quoll. Die neue Frau von Onkel Ernst, vermutete ich sofort.
Sie sagte: "Sie sieht ärmlich und krank aus", hielt sich ein Taschentuch vor den Mund und trat in die Halle.
Inzwischen war auch das Personal in der großen Halle in einer Reihe angetreten. Vorneweg Herr Granzow. Er stellte das Personal nun nach der Reihe vor, während Onkel Ernst mit seiner Frau Johanna im Hintergrund wartete.
"Gnädiges Fräulein, dies hier ist Frau Anna Schulz, unsere langjährige Köchin."
Eine rotbäckige, dralle, gutmütige aussehende Frau im mittleren Alter, die mir freundlich zunickte und einen kleinen Knicks andeutete. Einen so enormen Busen hatte ich zuvor noch nie bei einer Frau gesehen.
"Unsere Magd, Käthe Maurer. Sie kümmert sich um Garten und Pferde", fuhr der Verwalter fort.
Käthe sah eher spröde aus und war muskulös, eher derb gebaut. Auf mich wirkte sie sehr arrogant, so wie sie mich anschaute.
"Und zum Schluss, Greta Eucken, das neue Hausmädchen."
"Hallo gnädiges Fräulein, ich bin Greta", sagte die blutjunge schlanke Frau mit einem kessen Knicks, ging in die Vorhalle und nahm meine dort abgestellten Habseligkeiten auf.
Sie war etwas kleiner als ich, hatte dennoch üppigere Brüste und sinnliche Hüften. Ihr Haar fiel frech in glänzenden roten Fransen um ihr hübsches Gesicht. An der kessen Art, wie sie mir ihre gepflegte Hand reichte, merkte ich sofort, dass es erfrischend sein würde, mit ihr zusammen Zeit zu verbringen. Der Druck ihrer Finger war sanft und dennoch fest und sie hatte dabei jenes frivole Grinsen im Gesicht, als sie mich an der Hand nahm. Sie führt mich durch die Halle zu den Treppen.
Ich erinnerte mich sofort an früher. Geradeaus führten zwei Treppen halbkreisförmig ins Obergeschoss. Zwischen den zwei Treppen ging es durch eine Doppelglastür ins Esszimmer. Dahinter lag der Wintergarten mit dem Kessel für die Zentralheizung, die von Herrn Granzow im Winter betreut wurde. Er füllte auch die verschiedenen sonstigen Kachelöfen, denn im kalten Pommerschen Winter reichte die Zentralheizung nicht aus. Wenn er mit einer Eisenstange die Asche herauszog, konnte man es oben in den Heizkörpern hören.
Auf der rechten Seite stand dort ein großer Kachelofen mit einem eingebauten Backofen. Hier wurden im Winter herrliche Bratäpfel gebacken. Links in der Halle stand der große Eichenschrank mit Pelzen und Decken, die für winterliche Ausfahrten unentbehrlich waren. Dazwischen befand sich die Tür ins Herrenzimmer. Rechts das Damenzimmer mit dem anschließenden Büro, dem Reich von Johanna von Belzow, die jüngere, zweite Frau von Großonkel Ernst, die neben dem Verwalter die Gutsbücher führte und die Korrespondenz erledigte. Hier stand auch das einzige Telefon mit der Nummer Pöhlen 12.
Im Erdgeschoss lagen die repräsentativen Räume, im 1. Stock die privaten Schlafräume. Unter dem Dach, mit all seinen Gauben und Türmchen, weitere Räume für das einfache Personal. Es gab zwei verborgene Treppen und einen verborgenen Raum im Haus, die früher mal als geheime Fluchtwege bei Gefahr und dann später dem Personal dienten, um ungesehen ihren Dienst verrichten zu können. Außer mir und Großonkel Ernst kannte heutzutage keiner diese verborgenen Gänge mehr. Im Dachgeschoss waren diese Gänge, versteckt hinter einer, mit einem verborgenen Mechanismus zu öffnenden Holzverkleidung, miteinander verbunden und führten ehemals in fast jedes Zimmer im Haus. Viele der ehemaligen Zugänge waren allerdings bei dem letzten Umbau zugemauert worden. Zudem gab es zusätzlich geheime Gucklöcher in Flure und Zimmer, durch die man wunderbar ungesehen beobachten konnte.
* * * *
Noch auf der Treppe nach oben schwanden mir die Sinne. Ich taumelte. Mir wurde schwarz vor Augen und ich brach fast auf dem Treppenabsatz zusammen. Greta stützte mich, bis wir das Gästezimmer erreichten. Trotz der wohligen Wärme im Zimmer hatte ich Schüttelfrost.
"Geht's wieder, gnädiges Fräulein?", fragte das Hausmädchen besorgt.
Ich nickte und zog den schäbig aussehenden Wollumhang meiner Mutter aus und legte ihn sorgsam zusammen. Nach und nach zog ich den Rest meiner ärmlichen Kleidung aus, bis ich nur noch in Unterwäsche vor der Kommode stand und meine dürren, fast knabenhaften Körper mit zittrigen Händen wusch. Die neugierigen, beinah lüsternen Blicke des rothaarigen Hausmädchens, das mich ungeniert beim Waschen und Umkleiden beobachtet, bemerkte ich nicht.
Plötzlich kippte ich nach hinten in die Arme des Hausmädchens, die mich auffing und in das weiche Bett legte.
"Gott, sie sind ja total heiß!", sagte Greta und zog mir fürsorglich die flauschige Decke über.
Dass Greta unmittelbar danach nach Hilfe schreiend durch die Flure lief, hörte ich schon nicht mehr. Ich lag in einem todesähnlichen Fieberschlaf. Im Halbschlaf bekam ich mit, dass am Abend ein Arzt gekommen war und mich untersucht hatte. "Völlig unterernährt und entkräftet! Sie hat hohes Fieber!", war seine Diagnose, dann schwanden mir wieder die Sinne. Ich fieberte mehrere Tage vor mich hin und war kaum bei Bewusstsein. Die Dienstboten, insbesondere Greta flößten mir Hühnerbrühe ein und wuschen meine heißen verschwitzten Körper.
Nachts in meinen wirren Fieberträumen glaubte ich, die Schreie und das jämmerliche Wimmern von jungen Frauen aus dem Kamin zu hören. Menschen die hektisch über Treppen und Flure liefen. Wollüstiges Keuchen und Stöhnen drang nachts leise durch die Wände und Türen. Geräusche, die ich gut aus den Zimmern der Prostituierten in Hamburg kannte. Ich konnte nicht mehr zwischen Realität und Traum unterscheiden. Manchmal sah ich verschwommen Personen, die beobachtend um mein Bett standen.
Vier Tage später war das Fieber zurückgegangen. Ich kam langsam wieder zu mir. Greta saß an meinem Bett und betupfte fürsorgevoll meine Stirn und meine Brust mit einem Tuch mit kühlem Wasser. Ich lag auf vielen Kissen in halb aufrechter Position im Bett, nackt und mit wirrem Haar. Verstört sah ich im gegenüberliegenden Spiegel meinen knochigen Brustkorb und meine kleinen mageren Brüste mit übergroßen, harten Brustwarzen. Ich erschrak leicht und zog beschämt die Decke hektisch über meine blanken Brüste. Greta grinste und ich schämte mich.
"Na, wieder wach, gnädiges Fräulein? Ruhen sie sich ruhig aus. Sie müssen ganz gesund werden", sagte sie und ging aus dem Zimmer.
Ich sah mich um. Im Gästezimmer hatte sich all die Jahre nichts verändert. Ich sah mich um. Die edlen Möbel, das große Himmelbett mit den dicken Federbetten, alles war noch so wie früher. Auf dem Bett lagen schon saubere edle Kleider parat. Frisches Wasser stand in einer Porzellankaraffe auf der Kommode. Auf dem Tischchen neben mir standen Obst, Tee und eine warme deftige Brühe.
Am nächsten Morgen ging es mir erheblich besser. Ich konnte aufstehen und mich waschen. Von dem Fieber und der Schwäche war nichts mehr zu spüren. Ich zog einen Morgenmantel über und setzte mich in den Sessel am Fenster. Mühsam versuchte ich meine Gedanken zu ordnen, die wirren Träume der letzten Tage zu verarbeiten. Was hatte ich wirklich gehört und gesehen, was hatte ich nur geträumt? Ein kalter Schauer überzog mich. Mir war bewusst, dass dies alles nicht real sein konnte. Dennoch hatte ich ein unbestimmtes ungutes Gefühl. Dabei schlief ich wieder ein. Gegen Mittag klopfte es an der Tür.
"Hier können Sie sich frisch machen, gnädige Frau. Um 4 Uhr wird Kaffee serviert. Der Herr Pastor kommt auch", sagte Greta, die mir Waschzeug und ein Mittagessen in das Zimmer brachte.
* * *
Wir saßen um den runden Mahagonitisch beim Nachmittagskaffee. Ich hatte mich nach der langen Krankheit gut erholt und mir jenes neue Kleid angezogen, das mir Greta vorhin gebracht hatte. Von der Hängelampe mit dem grünen Schirm fiel ein warmes Licht auf den gedeckten Tisch mit seinen Kristalltellern und Näpfchen und seinen weißen, wappengeschmückten Porzellantassen. Die dickbauchige silberne Kaffeekanne blitzte, und der große Napfkuchen duftete herrlich. Mit beruhigendem Prasseln übertönten die brennenden Holzscheite im Ofen die Winterstürme draußen.
Am Kopf des Tisches thronte Großonkel Ernst. Er war ein Gutsbesitzer wie aus dem Bilderbuch. Die alten Urkunden der Familie von Belzow reichen nach Westpreußen zurück, wo sie in Pollnitz ansässig war. Nach der Überlieferung ist sie dann im 13. Jahrhundert mit dem Deutschritterorden nach Pommern gekommen und hat sich mit der Familie von Walsleben verschmolzen, die in Pommern ausstarb. Neben ihm saß seine erheblich jüngere zweite Frau Johanna. Seine erste, früh verstorbene Ehefrau hatte ich nicht mehr kennen gelernt.
Wie immer herrschte bei Tisch sittsames schweigen. Nur ab und an unterbrach der Pastor die Stille, wenn er das Wort fragend an mich richtete.
"Na junges Fräulein, führen sie denn auch einen züchtigen Lebenswandel und gehen regelmäßig in den Gottesdienst?"
Greta, die in diesem Moment Kuchen nachlegte, unterbrach ihn keck: "Lassen sie das gnädige Fräulein doch erst mal ankommen, Herr Pastor!"
Der Pastor blickte leicht irritiert zu ihr hin. Sein Blick wurde stechend und streng. Offensichtlich war er es nicht gewöhnt, dass ein junges Weib, zumal eine Bedienstete, sich in ein Gespräch einmischte. Frau von Belzow warf dem Hausmädchen unverzüglich böse Blicke zu.
"Greta hilft hier im Haus und weiß auch die Bücher zu führen", erklärte mein Onkel rasch und bot zur Ablenkung weiteren Kuchen an. Ich erkannte an seinem gierigen Blick, dass der Pastor auch dem guten Essen zugeneigt war.
Erheblich milder gestimmt sagte Pastor Jennrich: "Ah, und bittet auch eure Köchin Anna, meiner Haushälterin das Rezept für den leckeren Kuchen zu geben."
Ich musste mich erst wieder an die steifen Umgangsformen gewöhnen. Ich hasste dieses biedere Schweigen bei den Mahlzeiten, wenn sich die Konversation darauf beschränkte, den Nebenmann zu bit¬ten, einem den Salzstreuer oder das Senffässchen zu rei¬chen. Trotzdem war mir bewusst, dass ich es eigentlich sehr gut getroffen hatte. Natürlich wäre es schöner gewesen, wenn ich noch ein paar Jahre alleine und frei in Hamburg hätte leben können. Doch auch so konnte ich zufrieden sein. Noch etliche Fragen musste ich über mich ergehen lassen, bevor mein Onkel die steife Situation endlich unterbrach und aufstand.
"Kommt, lasst uns ins Herrenzimmer gehen, da ist nicht so kalt!", schlug mein Großonkel nach dem Kaffee vor.
Im Herrenzimmer war auch der einzige offene Kamin im Hause, vor dem die Herrschaften und Gäste stets nach dem Essen rauchten, Mocca und Likör nahmen. Auf der linken Seite lag das Damenzimmer, daran anschließend Frau von Belzows privates Refugium und Büro. Im Damenzimmer stand der Flügel, auf dem Frau von Belzow spielte. Aus Frau von Belzows Privatzimmer führte eine Glastür in den Wintergarten. Hier wuchs eine
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lustvoll und geil
eva«
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