Die Skaterin - Teil 1
von Krystan
Kim war ein Produkt des Konsumzeitalters. Genau genommen hasste sie wie jeder Teenager jedes Zeitalters. Sie wollte alles anders und vor allem nicht so wie ihre Eltern machen. Der Unterschied lag bei Kim nur darin, dass sie es wirklich wahr gemacht hatte. Mit sechzehn war sie von zu Hause abgehauen, hatte Schule und Elternhaus hinter sich gelassen, und war einfach losgezogen. Jetzt war sie drei Jahre älter und hatte eine neue Welt für sich erobert.
Kim war cool. Genau genommen war Kim die Coolste in ihrer Gang, was sie zur inoffiziellen Anführerin machte. Sie hatte blondes, schulterlanges Haar und war von zierlicher Gestallt. Was ihr jedoch an Kraft fehlte, machte sie mit ihrer Behändigkeit weg. Sie war eine Skaterin, eine Athletin der Straße.
Gewandt glitt sie mit ihrem Skateboard über das Geländer einer Treppe, die die Berbergasse mit dem Martinsplatz verband. Es war ein geiles Gefühl so am Abgrund zwischen Erfolg oder Misserfolg zu gleiten. Jede falsche Regung ihres Körpers hätte einen Sturz und unbeschreibliche Schmerzen zur Folge und was noch schlimmer wäre, sie würde die Wette vermutlich verlieren.
Die Wette, ja, darum ging es hier. Ihr Board hatte den Rand des Aluminiumgeländers erreicht und schwebte darüber hinaus. Physik hatte sie in der Schule nie interessiert, hier jedoch praktizierte sie diese live. Fallbeschleunigung, Trägheitssatz, Reibung - all diese Dinge beachtete sie nun intuitiv, während ihr Skateboard durch die Luft schwebte. Die Kunststoffrollen berührten den Asphaltboden und Kim glitt weiter.
Sie war in Eile, hatte keine Zeit zu verlieren. Ihr Fuß beschleunigte das Board weiter. Den Passanten auf dem Platz wich sie geschickt aus. Dicke Schweißperlen hatten sich auf ihrer leicht gebräunten Haut gebildet. Das Mädchen trug neben Knie- und Ellbogenschützern noch schwarze Hotpants und ein weit geschnittenes Skater-Shirt, unter dem man ihren Sport-BH sehen konnte. Anstrengung und Sommerhitze hatten ihre Kleidung inzwischen mit ihrem Schweiß durchdrungen. Auch ihr blondes Haar war durchnässt und wedelte zu Strähnen geformt im Fahrtwind.
Vor ihr befand sich eine Treppenstufe, die den Platz von der Straße trennte. Kim beschleunigte weiter, im letzten Moment riss sie ihr Board hoch und sprang über das urbane Hindernis. Sie landete auf dem mit Betonplatten ausgelegten Gehweg und versuchte sogleich wieder mit ihrem Fuß, die durch den Sprung verlorene Geschwindigkeit zurückzugewinnen.
Kim fuhr die Kennedy-Allee entlang. Die alten Bäume spendeten Schatten, während der Fußweg so breit war, dass sie den Fußgängern problemlos ausweichen konnte, auch wenn diese ihr immer wieder wilde Beschimpfungen hinterherriefen.
„Pass doch auf Schlampe!“, rief ein Mann Mitte Fünfzig in ihre Richtung, während er gerade mit seinem Schäferhund an einem Baum Stand. Das Tier knurrte wild.
„Fick dich, Alter!“, war ihre knappe Antwort, bevor er außer Hörweite war.
Kim hatte es fast geschafft. Die Allee mündete in einen Kreisverkehr; von dort waren es nur noch wenige hundert Meter bis zum Ziel und von Alex war weit und breit nichts zu sehen. Sie würde es schaffen, sie würde als erstes beim Kriegerdenkmal sein.
Der Sieg würde eine Fehde beenden, die zwischen ihren TCs und den Werwölfen seit drei Monaten schwelte. Beide Skater-Gangs beanspruchten den freien, abgelegenen Platz um das Kriegerdenkmal für sich. Mehrmals war es schon zu Handgreiflichkeiten gekommen, wobei Kims Thunder Chickens leider nicht viel gegen die körperlich stärkeren Jungs der Werwölfe ausrichten konnten.
Letzte Woche war der Streit eskaliert, als ein Idiot eine Schreckschusspistole mitgenommen hatte. Kim wusste nicht, wer angefangen hatte, aber am Ende lagen zwei Jungen im Krankenhaus. Gestern dann hatte sie sich mit Alex getroffen und versucht, eine Lösung zu finden. Am Ende kam diese Wettfahrt als Lösung heraus. Sie konnte Alex, den Anführer der Werwölfe überzeugen, dass der beste Skater über diesen Platz in Mitten des Nordparks herrschen sollte. Zwar hatte Alex zuerst abgelehnt, da seine Wölfe früher oder später die meist jüngeren und vor allem oft weiblichen Skater der Thunder Chickens vertreiben würden. Schließlich hatte sie jedoch seine Männlichkeit ausgenutzt. Sie bot sich selbst als zusätzlichen Wetteinsatz an.
Der Kreisverkehr, von dem eine Straße in den Nordpark abzweigte, kam in Sicht. Ihre Geschwindigkeit war ein Kick, den sie fast so sehr genoss wie ihren bevorstehenden Sieg. Das letzte Mal hatte sie Alex fünf Kilometer von hier gesehen, als sie ihn an einer roten Ampel abgehängt hatte. Das Skatermädchen bog bei voller Geschwindigkeit in den Kreisverkehr ein und hatte Mühe, nicht das Gleichgewicht zu verlieren oder gar ins Rutschen zu kommen. Die Kunststoffräder quietschten auf, als das Material an die Grenze des Machbaren stieß.
Auf einmal war da noch ein anderes gequältes Geräusch von kleinen ächzenden Polyurethan-Rädern. Kim blickte vom Gehweg auf die Straße und erblickte Alex, der in diesem Moment an ihr vorbeischoss. Er befand sich mitten auf der Straße und glitt in den Windschatten eines Autos, an dessen Kofferraum er sich festhielt. Im letzten Moment stieß er sich ab und bog in die Nebenstraße ein, die direkt zum Kriegerdenkmal inmitten des Parks führte. Dabei stieß er sich so geschickt von dem Fahrzeug ab, dass er einen weit größeren Schwung drauf hatte als sie.
Kim fluchte, aber noch war nichts verloren. Sie beschleunigte ebenfalls mit ein paar Fußtempos. Der braunhaarige Skater in seiner Jeans und seinem schwarzen Muskelshirt verlor nun langsam an Fahrt, da er schwerer war als sie und es leicht bergauf ging.
Er drehte sich kurz nach ihr um, während sie ihm einen vernichtenden Blick zuwarf. Immer kürzer wurde der Abstand zwischen den beiden. Schließlich kamen sie fast auf gleicher Höhe zu der Treppe, die zum Schicksalsfeld führte. Jenem Platz, in dessen Zentrum das Kriegerdenkmal stand.
Alex griff nach einer Stange und fuhr in halsbrecherischer Manier den flachen Rollweg hinunter, der eigentlich für Rollstuhlfahrer und Kinderwagen gedacht war. Wenn Kim ihm folgte, hätte sie verloren, denn er würde in jedem Fall vor ihr unten ankommen und bequem das Denkmal erreichen. Dort standen bereits mehr als ein Dutzend junger Menschen. Teils saßen sie auf ihren Skateboards, teils standen sie auf den Mauern des Denkmals. Sie jubelten und grölten. Sonst war niemand auf dem Platz um das Kriegerdenkmal zu sehen. Es war ein Arbeitstag und von denen, die jemand von den hier Geehrten kannten, waren die meisten längst tot.
Kim hatte nur noch eine Chance auf den Sieg. Es ging um alles oder nichts. Statt Alex zu folgen, sprang sie mit ihrem Board auf die Seitenwand der Treppe. Nur kurz setzten die Räder auf dem Marmor auf, dann drehten sie sich jedoch schon wieder in der Luft und sie sprang in den Abgrund. Drei Meter tief war es und sie schwebte aufgrund ihrer hohen Geschwindigkeit förmlich durch die Luft.
Die Anwesenden rissen erstaunt ihren Mund auf, als sie das sahen. Elke, Alex' Freundin und Fangirl, hielt den Sprung fassungslos mit ihrer Digitalkamera fest. Die Skaterin ging in die Knie, um diesen über 15 Meter weiten Sprung abzufedern, mit dem sie ihren Widersacher weit hinter sich gelassen hatte.
Die Hinterräder berührten zuerst die Steinplatten des Platzes mit einem lauten Krachen. Kim hörte sofort, dass etwas nicht stimmte. Dann kippte das Skateboard auch schon zur Seite, noch bevor ihre Vorderräder den Boden berührten. Eine Schraube war gebrochen und das linke Hinterrad sprang wie ein Geschoss davon.
Auch das Skatergirl wurde von ihrem unkontrollierbaren Board geschleudert. Zweimal schlug sie ein Rad, bevor sie genug Geschwindigkeit verloren hatte und sich mit Knie- und Ellbogenschützen auf den Boden krachen ließ. Das Mädchen hatte in ihrer Kindheit viel Zeit im Turn- und Karnevalsverein verbracht; nun rettete sie ihr spießbürgerliches Training vor ernsten Verletzungen. Ihre fingerlosen schwarzen Handschuhe hatten auch ihre Hände vor Aufschürfungen gerettet.
Als sie sich mit schmerzverzerrtem Gesicht aufrichtete, konnte sie zwischen ihren schweißverklebten Haarsträhnen Alex erkennen, der gerade das 30 Meter entfernte Kriegerdenkmal erreicht hatte. Er packte triumphierend seine Gespielin wie eine Puppe und drückte sie an seinen verschwitzen Körper. Das zierliche Mädchen mit leicht gewelltem, braunem Haar ließ sich bereitwillig von ihm die Zunge in den Hals stecken. Angewidert wand sich Kim ab, als ihr bewusst wurde, dass dies ja auch Teil der gerade verlorenen Wette war.
Die Mitglieder der Thunder Chicken rannten zu ihr, wollten sehen, was aus ihrer Gefährtin geworden war. Diese legte ihre Hände auf die Augen und wischte sich Schweiß und Enttäuschung aus dem Gesicht, doch es gelang nicht. Peter, ein netter Junge, der sich bei seinen Tricks jedoch meist gegen die Schwerkraft nicht durchsetzen konnte, half ihr auf die Beine. Bianka kam mit den Resten von Kims Skateboard zu ihr.
Der Schaden, der sie den Sieg gekostet hatte, hielt sich in Grenzen. Die Achse war leicht verbogen und eine Schraube einfach gebrochen. Das Rad würde sie wohl wieder daran befestigen können, wenn es gelang die Schraubenreste aus der Achse herauszupuhlen.
„Was machen wir jetzt?“, fragte Benni. Der Junge blickte sie ein wenig hilflos an.
„Ich weiß nicht. Aber wir finden schon einen anderen Spot“, meinte Kim erschöpft.
„Der Sprung war aber zu geil … schade, dass ich den nicht mit meinem Handy aufgenommen habe.“
„Aber wir“, tönte auf einmal Alex' kräftige raue Stimme.
„Sieht klasse aus. Wenn du magst, können wir es ja hochladen.“
„Cool!“, meinte Kim und wich seinem Blick aus.
„Gern geschehen“, nickte der Anführer der Werwölfe und wischte sich den Schweiß aus der Stirn.
„Aber jetzt kommen wir zu unserer kleinen Wette. Deine Rotznasen sollen verschwinden und dann kommen wir zum anderen Teil der Wette. Willst du es noch mal hören?“
Elke hielt das Display ihrer Kamera in Kims Richtung. Darauf war zu sehen, wie Alex und sie vor zwei Stunden vor dem Südbahnhof standen und die Details der Werte besprachen. Schließlich kam der Satz, den sie als Köder benutzt hatte, der ihr nun aber verdammt schwer im Magen lag.
„… Wenn du gewinnst, kannst du mich ficken, wie du es willst. …“, das waren ihre Worte - kampflustig und herausfordernd. Elke ergötzte sich an dem sichtlichen Winden ihres Gegenübers.
„Also, was willst du?“, fragte sie gereizt. Sie hasste ihn. Er hatte diesen, ihren Spot für sich und seine Schläger in Beschlag genommen. Er war hier aufgetaucht. Er war der Eindringling und nun hatte er sie, noch dazu so knapp, bezwungen. Es wäre ihr Sieg gewesen, wenn diese verdammte Schraube gehalten hätte. Die schwüle Hitze des frühen Nachmittags wirkte in diesem windstille
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Kommentare
(AutorIn)
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Krystan
Der zweite Teil existiert schon, und wird sobald ich ihn noch mal überarbeitet habe, auch hier veröffentlicht.«
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Weiter so und so schnell wie möglich den nächsten Teil«
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Jopi Wingerather
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Kommentare: 67
goreaner
Tal
goreaner«
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Kojote
Daumen nach oben. ;-)«
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Freue mich auf die Fortsetzung und hoffe, du bleibst deinem recht realistischen Stil treu.«
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Klasse Geschichte!«
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