Charaktere
Wenn vorkommende Personen in einer Geschichte mehr sein sollen, als wandelnde Kleiderständer oder zu Geschlechtsteilen zugehörende Körper, dann müssen sie einen Charakter und (mindestens) einen Beweggrund für ihr Handeln haben. Bei Randfiguren (z. B. dem Würstchenverkäufer an der Ecke, der in der Story nicht mehr macht, als uns einen Hotdog zu verkaufen) braucht man sich nicht viel Mühe damit zu geben. Aber die zentralen Figuren sollten glaubwürdig sein. Ich finde sogar, sie sollten sympathisch sein. In gewissem Umfang selbst dann, wenn sie in der Geschichte eine üble Rolle spielen. Sonst wirken sie schnell wie Kater Carlo aus dem Mickymaus-Heftchen.
Eine relativ einfache Möglichkeit, zu glaubwürdigen Charakteren zu kommen ist, reale Personen als Ausgangspunkt zu nehmen und dann die Motivation, die Willensstärke oder sonstige Eigenschaften zu ändern. Man weiß dann schon intuitiv, wie sich diese Person verhalten würde und muß nur auf die Auswirkungen jener Dinge achten, die man verändert hat.
OK, jetzt hat die Figur also einen Charakter bekommen. Und wie vermittelt man ihn dem Leser? Das kommt auf die Erzählperspektive an. Ein Ich-Erzähler hat es da schwer. Er kann nur das berichten, was er sieht. Nur über eigene Gedanken und Motive kann er auch aus der Innenansicht schreiben. Und er bekommt nur das mit, was sich vor seinen Augen abspielt oder was er von anderen erzählt bekommt. Die anderen Figuren kann ein Ich-Erzähler daher nur so beschreiben, wie er sie erlebt. Wie beim Film muß er auf Worte, Betonung, Gestik und Mimik achten.
Der "allwissende" Erzähler in der dritten Person hat es leichter. Er kann in unterschiedliche Figuren hineinsehen. Er kann schreiben, dass eine Figur sich fühlt, als habe sie Schmetterlinge im Bauch, während eine andere vor stiller Wut kein Wort sagt. Neben den Handlungen der Figuren können auch Gedankengänge erzählt werden. (Sie fragte sich, ob er sie wohl wirklich liebte. Oder war er nur an einer schnellen Nummer mit ihr interessiert? Wenn sie doch nur seine Gedanken lesen könnte.)
Es ist für den Leser interessanter, wenn er Details über eine Figur nicht als sachliche Beschreibung erfährt, sondern wenn diese Details in die Handlung eingestreut sind oder noch besser, wenn sie sich aus der Handlung ergeben.
Beispiel:
Es gab nur einen Gedanken, der Julia völlig beherrschte. Sie brauchte das Geld für ihren Stoff. Wie war egal. Aber schnell musste es gehen, da sie bereits die ersten Entzugserscheinungen spürte. Gehetzt schaute sie sich in der Einkaufspassage um. Dort, am Zeitungskiosk, da steckte gerade ein Mann seine Geldbörse in die Jackentasche. Sie versuchte sich unauffällig zu nähern, was gar nicht so einfach war, da die Sucht sie bereits anfing zu zeichnen. Sie war einmal schön gewesen, aber nachdem sie durch Neugier und Leichtsinn auf diese abschüssige Bahn geraten war, zehrte ihr Körper mehr und mehr aus. Es würde wohl nicht mehr lange dauern, bis sie gesundheitlich die Schwelle überschritt, von der es kein Zurück mehr gab. Da aber inzwischen ihr ganzes Dasein von der Sucht beherrscht wurde, war ihr das gleichgültig. Jetzt stand sie neben dem Mann mit der Geldbörse und streckte ihre Hand aus. Sie fühlte bereits die Börse in ihren Fingern, als ihr Handgelenk von starken Fingern umschlossen wurde. Hastig versuchte sie, ihre Hand zurückzuziehen. Die Geldbörse ließ sie dabei notgedrungen in der Jackentasche. Sie versuchte sich loszureißen, was ihr aber nicht gelang. Die Hand des Mannes umschloss ihre eigene wie ein Schraubstock. Ihr Zerren schien er kaum zur Kenntnis zu nehmen. Entweder musste er bärenstark sein oder sie war bereits soweit geschwächt. Jedenfalls hatte sie nicht die Spur einer Chance, sich loszureißen.
Was haben wir über Julia erfahren?
(1) Sie ist drogenabhängig.
(2) Sie kam (auch) durch Neugier und Leichtsinn an die Nadel.
(3) Ihr Körper ist bereits deutlich durch die Droge geschwächt.
(4) Sie ist auf Entzug und ist bereit alles zu tun, um ihre Droge zu bekommen.
(5) Sie ist gerade beim Diebstahl erwischt worden.
Eine Aufzählung der Fakten hätte die meisten Leser allerdings gelangweilt. Statt dessen ist der Leser (hoffentlich) trotz der relativ vielen Fakten neugierig geworden, wie es denn mit Julia weitergeht.
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Verfasser: Why-Not